Bauwelt

Francis Alÿs in Wolfsburg

„Manchmal kann Poetisches politisch werden und Politisches Poesie“

Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig

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Foto: Courtesy Francis Alÿs und Galerie Peter Kilchmann, Zürich

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Francis Alÿs in Wolfsburg

„Manchmal kann Poetisches politisch werden und Politisches Poesie“

Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig

Der Flaneur braucht die Großstadt – Architekturen, Menschen und Situationen bieten ihm Anlass zu intellektuellen Reflexionen. Während ihm im 19. Jahrhundert, mit seinen ersten Auftritten in den europäischen Metropolen, etwas blasiert Dandyhaftes ohne rechtschaffende Produktivität anhaftete, hat der Belgier Francis Alÿs diesen Typus Stadtspaziergänger in den letzten 25 Jahren zu einem handfesten künstlerischen Akteur umgewidmet.
Francis Alÿs, 1959 in Antwerpen geboren, ist im Anschluss an sein Architektur- und Städtebaustudium in Tournai und Venedig Mitte der achtziger Jahre nach Mexiko City gegangen. Anlass war eine belgische Wiederaufbaumaßnahme nach dem verheerenden Erdbeben 1985. Alÿs entschied sich, zu bleiben und setzte dem Feld der Architektur sukzessive seine künstlerische Arbeit entgegen – eine Arbeit, die der Stadt nichts Neues hinzufügen möchte, sondern das aufnimmt, was schon da ist: den urbanen Bodensatz, die Zwischenräume und die Löcher. Alÿs bedient sich dazu mittlerweile vieler Techniken und Ausdrucksformen wie Zeichnungen, Animationen, Objekten, Fotografien, vor allem aber Videos, die Aktionen im öffentlichen Raum dokumentieren.
Eine der ersten Interventionen von Francis Alÿs in Mexiko City bestand um 1990 darin, Fenster zerstörter Häuser im Erdbebengebiet zu „reparieren“, indem er Kissen in ihre leeren Rahmen stopfte. Er nutzte tägliche Erkundungsgänge zu diesen beiläufigen Gesten. Die symbolischen Heilmaßnahmen waren aber auch ein Kommentar auf die Unfähigkeit der mexikanischen Politik, die große zivilgesellschaftliche und internationale Solidarität nach der Erdbebenkatastrophe in zielgerichtete Bahnen zu lenken. Der Spaziergang, das vormalige Flanieren, nun begleitet von bildnerischen Operationen oft unverhohlen politischer Konnotation, war als künstlerische Strategie von Francis Alÿs geboren.
Derzeit ist Francis Alÿs in Deutschland in zwei Ausstellungen ganz unterschiedlicher Fragestellung vertreten. Das Kunstmuseum Wolfsburg konfrontiert in seiner Produktion „Slapstick!“ Werke zeitgenössischer Künstler mit Schlüsselsequenzen aus klassischen Stummfilmen, um motivischen Parallelen nachzuspüren. Gezeigt werden dabei auch zwei Videos von Alÿs. Zum einen „Paradox of Practice 1 (Some­times Doing Something Leads to Nothing)“: Alÿs schiebt darin einen Block Eis, wie er täglich an Straßenhändler ausgeliefert wird, von 9:15 Uhr bis 18:47 Uhr durch Mexiko City. Nur eine kleine Pfütze bleibt übrig. Er verweist auf das Missverhältnis zwischen Aufwand und Ergebnis im lateinamerikanischen Alltag. Zum zweiten ein Dreiminuten-Video, das 2003 in Wolfsburg entstand: Allein und etwas ungelenk schiebt Alÿs einen roten VW-Käfer durch die Straßen Wolfsburgs. Andere Autos halten sich geduldig dahinter, die Störung wird offensichtlich toleriert. Natürlich ahnt auch niemand, dass hier nicht aus der Not eines technischen Defekts operiert wird, sondern dass das Ganze eine künstlerische Aktion ist. Sie war aber keine vordergründige Komik oder gar das provokante Zerstören des Käfer-Mythos –  „Er läuft und läuft und läuft“ – an seinem Entstehungsort, sondern die abgewandelte Wiederholung einer Arbeit aus Mexiko. Hier fährt ein roter Käfer einen öden Hügel in Tijuana herauf, vielleicht um die US-Grenze zu erreichen. Just unter der Kuppe verzagt er in seiner zielstrebigen Bewegung und rollt den Hügel rückwärts hinunter. Ein neuerlicher, ebenso erfolgloser Versuch beginnt, die Schwelle wird nie überschritten, der Höhepunkt nie erreicht. Diese Sisyphosarbeit im Zeitalter moderner Technik läuft synchron zur Probe einer traditionellen Blechbläserkapelle. Wenn sie ihren Rhythmus verliert und pausiert, zaudert auch das Automobil: ein weiteres Gleichnis Alÿs’ für das strukturelle Scheitern des Schwellenlands Mexiko, das nie den Erwartungen seines nördlichen Nachbarn wird entsprechen können.
In Heidelberg ist Francis Alÿs als sogenannter Dialogkünstler im Rahmen des Fotofestivals „Grenzgänge. Magnum: Trans-Territories“ vertreten. Neben Positionen der Magnum-Kooperative, die sich mit Territorien im physischen und metaphorischen Sinne auseinandersetzen, wird im Unterkapitel „Battleground/Afghanistan“ Alÿs’ Arbeit „Reel-Unreel“ gezeigt. Der Film entstand ab 2011 in Kabul und lief 2012 in der dortigen Documenta-Außenstelle. Eine Gruppe Jungs variiert das alte Kinderspiel, einen Reifen mit einem Stock durch die Straßen zu treiben. Statt eines Reifens kommt eine Filmrolle zum Einsatz: ein Junge rollt den Filmstreifen ab, ein zweiter, einige Meter dahinter, spult ihn auf einer anderen Filmrolle wieder auf. Alÿs’ Aufzeichnungen fangen neben dem turbulenten Spiel reale, äußerst vitale Alltagsszenen aus Kabul ein, die das medial vermittelte finstere Afghanistanbild westlicher Projektionen kraftvoll unterlaufen. Im Abspann erfährt man, dass die Taliban im September 2001 tausende von Filmrollen aus lokalen Archiven konfiszierten und anschließend verbrannten, das Feuer war angeblich 15 Tage zu sehen. Allerdings wurden sie einzig der Kopien habhaft. So ist die Stadt nicht nur das häufig beschworene kollektive Gedächtnis, sondern auch der Ort kultureller Dissidenz, die sich immer wieder neu zu organisieren weiß.

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