Bauwelt

Der langsamste Architekt Indiens

Besuch bei Bijoy Jain

Text: Rost, Andreas, Berlin

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Der langsamste Architekt Indiens

Besuch bei Bijoy Jain

Text: Rost, Andreas, Berlin

Der Berliner Fotograf Andreas Rost und der im Süden Indiens tätige Architekt Klaus-Peter Gast haben für die Bauwelt Ende März den Studio Mumbai Workshop besucht. Dieser Arbeitsort von Bijoy Jain mit der großen „Werkstatt“ liegt außerhalb der Stadt. Er wird nicht nur für den Modellbau, sondern auch für das Experimentieren und künstlerische Arbeiten mit Baumaterialen genutzt
„Bijoy Jain!“, das würde jeder Rikschafahrer in der Gegend um Alibag als Adressangabe verstehen, sagt Priyank Parmar, ein Mitarbeiter des Architekten, mit sichtlichem Stolz. Durch nichts als ein paar Wochenendhäuser und seinen legendären Studio Mumbai Workshop hat Bijoy Jain das Ferienparadies südlich der Metropole Mumbai weltberühmt gemacht.
45 Minuten braucht die Fähre nach Mandwa Beach. Aus der unvorstellbar lauten, immer hektischen Stadt kommend, ist es eine Wohltat, hier zu sein. Es folgt eine einstündige Rikschafahrt, an einem idyllischen und menschenleeren Strand entlang, vorbei an Fischerhütten, durch Palmenhaine und auf holpriger Straße durch den Urwald bis zu einem unscheinbaren Tor. An der Einfahrt steht ein gigantischer Banyanbaum, der den Indern heilig ist. Hinter dem im Deutschen als Würgfeige bezeichneten Baum wurde ein Miniaturheiligtum abgestellt, wahrscheinlich, um es vor der Zerstörung zu retten. Jetzt wird der Tempel von einem Dutzend kläffender Hunde verteidigt, die gleichzeitig den Trampelpfad versperren, der in den Wald hinein und zum Studio Mumbai Workshop führt.
Das Studio ist eine Bauhütte. Auf einer Lichtung am Ende des Trampelpfads fertigen prächtig gekleidete Frauen an einem offenen Feuer Miniaturziegelsteine, Tischler arbeiten im Freien an großen Fenstern, jemand wäscht Bahnen von rotem Stoff. Zwischen Bäumen stehen unzählige Objekte, die Modelle, Kunstwerke, Repliken oder wissenschaftliche Versuchsreihen sein könnten. Auf dem ungefähr einen Hektar großen Gelände gibt es eine Metallwerkstatt, eine Tischlerei, Stillhaltebecken, in denen Kalk gewässert wird, Lager für Holz, eine Wäscherei, eine Bibliothek, die gleichzeitig Modellwerkstatt und Computerkabinett ist, sowie ein Atelier für Architekten. Das Atelier heißt Toto-Galerie, weil es der 1:1-Nachbau jener japanischen Galerie ist, in der Bijoy Jain im Jahr 2012 ausstellte. Der Bau wurde damals errichtet, um die Ausstellung in allen Details zu planen. Er ist, wie alle Gebäude des Studio Mumbai Workshop, temporär und lässt sich auch an anderer Stelle wieder errichten. Für September ist ein Umzug des gesamten Workshops geplant. Bijoy Jain hat Land in der Nähe des Fähranlegers Mandwa gekauft, um Arbeitswege zu verkürzen. Zuvor jedoch muss das Studio, wie jedes Jahr, vor dem Monsun geschützt werden. Zwei Tage wird es dauern, das Gelände zu überdachen.
Herzstück des Workshops ist die Bibliothek, „eine Art ausgedehntes Universum“. In ihr finden sich auch aufwendig von Bijoy Jain gestaltete Bücher, die Untersuchungen „aller Bestandteile, also etwa zur Topographie, der Geologie, Mathematik, Soziologie und der Kultur“ dokumentieren. Bei unserem Gespräch am runden, überraschend leicht wirkenden Marmortisch erklärt Bijoy Jain dazu: „Meine erste Handlung bei jedem Projekt ist, durch die Linse der ontologischen Suche zu schauen. Ich muss wissen, was es für Bestandteile gibt und welche Möglichkeiten in ihnen verborgen sind.“ Beobachtungen, Fotos und Skizzen beschreiben Phänomene, die ihn als Architekten interessieren.
So wird in einem Buch dargestellt, wie Neubauten in den indischen Metropolen religiöse Kultstätten aus dem Stadtbild verdrängen. Da diese nicht zerstört werden dürfen, werden sie einfach überbaut und dem Verfall preisgegeben. Ein Team von Studio Mumbai hat solche Heiligtümer fotografiert und ihr Aufmaß genommen. Im Workshop wurden davon Modelle angefertigt, mit einer Teer-Beton-Mischung übergossen und der Sonne ausgesetzt. Die auf diese Weise gewonnenen Kunstwerke sind wie Grabplatten auf einem Friedhof vor der Bibliothek aufgestellt – architektonisches „Memento mori“ und „Memento vivere“ zugleich. Andere Bücher widmen sich der Salzlagerung in Dharasana, der traditionellen Anfertigung von Ziegeln oder der platzsparenden Lagerung von Waren in indischen Geschäften.
Die Bücher sind in rotes Leinen gebunden und jedem Architekten und jedem Handwerker im Studio zugänglich. Sie alle haben sie gemeinsam geschaffen. „Hier läuft jeder Handwerker mit einem Skizzenbuch herum“, wird der Zimmermann Jeevaram Suthar in dem Buch „Studio Mumbai: Praxis“ zitiert. Die Handwerker diskutieren erste Skizzen des Architekten und verändern sie solange, bis sie eine Maquette bauen können. Auch Details wie die Kupferhaut eines Dachvorsprungs werden in Modellen erprobt und immer wieder in ihrer Funktion und Ästhetik optimiert. Mehrere verschiedene Modelle für ein Projekt sind Standard. Das letzte und gültige Modell wird dann in Bronze gegossen und in der Bibliothek ausgestellt. Bijoy Jain rühmt sich, der langsamste Architekt Indiens zu sein. Drei Jahre Planungszeit für ein Wohnhaus seien normal. (Ein unglaublicher Luxus, wenn man bedenkt, dass in Indien jedes Jahr 600.000 Absolventen die Architekturschulen verlassen.)
Priyank Parmar erklärt, dass für das berühmte Palmyra House, das mitten in einem Plamenhain steht, kein Baum gefällt werden durfte. So kam die spitzwinklige und leicht versetzte Verteilung der beiden Baukörper zustande, die eine unglaubliche Dynamik zum Meer hin erzeugt. Da die Häuser nicht unterkellert sind, gelten sie nach indischem Recht als temporäre Architektur und benötigen keine Baugenehmigung. Unabhängigkeit ist Bijoy Jain auch bei der Bauausführung wichtig. Alle Teile seiner Häuser werden im Studio Mumbai Workshop angefertigt und vor Ort zusammengesetzt. Baustoffe die nicht transportiert werden können, müssen lokal zur Verfügung stehen. In Südindien entdeckte Bijoy Jain ein Material zum Versiegeln von Fußböden: Indian Patent Stone (IPS), eine Mischung aus Zement, Kalk und Pigmenten. IPS ist billiger als Fliesen und verleiht, in der Art wie der Architekt es verwendet, Böden und Wänden einen edlen, matten und einzigartigen Glanz in verschiedenen Farbtönen und -schattierungen.
Im Studio Mumbai Workshop wird täglich bis 22 Uhr gearbeitet. Nach Sonnenuntergang beleuchten riesige, in den Bäumen hängende Neonlampen das Gelände. Die romantische Vorstellung von der Wiederbelebung der Bauhütte, der Versöhnung von Handwerk und Architektur in einer durch „Fotokopie-Design“ entfremdeten Metropolenarchitektur, bedeutet zunächst einmal harte Arbeit. Die bis zu 120 Handwerker und 12 Architekten, die für Bijoy Jain im Studio arbeiten, kommen hauptsächlich aus Rajasthan und Orissa, sie gehören verschiedenen Religionen und Kasten an. Schwerwiegende Disharmonien sind vorprogrammiert. Die Integration der verschiedenen Traditionen und Kulturen und sogar Essgewohnheiten ist eine Herausforderung im täglichen Arbeitsablauf. Eigens dafür hat der Architekt unweit des Workshopgeländes ein Gebäude seines großen indischen Kollegen Charles Corea angemietet, das als Speisesaal für sein Team genutzt wird, am Tag dunkel und kühl, in der Nacht groß und hell, ist es ein wahrer Zufluchtsort. Zwei Köche bereiten Speisen ganz im Geiste der Studio-Mumbai-Architektur zu – einfach, traditionell und außergewöhnlich schön anzusehen.
Hinter einem Bayanbaum versteckt steht auf dem Gelände auch das Wohnhaus von Bijoy Jain. Ein traditionelles indisches Haus wurde durch den sogenannten „Reading Room“ erweitert. Lediglich durch Fliegengitter von der Außenwelt getrennt, ist es ein perfekter Raum der Stille und der Kontemplation, der es gleichzeitig ermöglicht, dass Bijoy Jain immer im Workshop anwesend sein kann. In der Natur zu wohnen, so wie der Architekt, ist die romantische Vorstellung von Stadtbewohnern, die leicht vergessen, dass es im Urwald gefährliche Tiere gibt, schier unerträgliche Stille, Dunkelheit und keinen Strom. „All das muss berücksichtigt werden, wenn man baut“, sagt Bijoy Jain. „Die Innenwelt braucht auch eine Unterkunft, das Bedürfnis nach Offenheit, nach Rückzug, die Angst.“
Fakten
Architekten Studio Mumbai Architects, Mumbai
Adresse Alibag, Maharashtra Indien


aus Bauwelt 31.2014
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