Bauwelt

Der Achleitner-Kasten

"Architekturarchiv"

Text: Kaiser, Gabriele, Wien

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Der Achleitner-Kasten

"Architekturarchiv"

Text: Kaiser, Gabriele, Wien

22.340 Karteikarten, 120.000 Fotos und 250 Begehungspläne über die österreichische Architektur: Die Autorin, selbst lange Zeit zuständig für das Archiv von Friedrich Achleitner, erläutert, wie die analoge Datenbank, die heute im Architektur­zentrum Wien zu benutzen ist, aussieht und wie sie in der Praxis funktioniert.
Als unscheinbare physische Ordnungssysteme haben Zettelkästen und Karteikartenschränke ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt. Nach und nach verschwanden sie aus den Zahnarztpraxen und Bibliotheken und wurden bzw. werden durch digitale Datensysteme mit vergleichbarer Funktion ersetzt. Dieser Ablösungsprozess ist – wenig überraschend – von einer Auratisierung des Zettelkastens in seiner „Objekthaftigkeit“ begleitet, der sich im Vergleich zu elektronischen Programmen als robustes Speichermedium mit taktilen Qualitäten erweist. Waren Karteikarten abseits ihres bürokratischen Nutzwerts schon immer beliebtes Requisit in Spionagefilmen (brisante Daten fehlen, der geplünderte Schrank steht mit offener Lade da), so werden sie heute mitunter auch als ein „historisches System geistiger Ordnung“ in den Kunstkontext gestellt. Als 1998 die Digitalisierung der Zettelkataloge der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien abgeschlossen war, wurden die 84 funktionslos gewordenen Zettelkästen des Nominalkatalogs in einer Ausstellung im Museum für angewandte Kunst präsentiert. Das begleitende Katalogbuch enthält nicht nur Dokumente zur Geschichte des ÖNB-Katalogs selbst, sondern auch umfassende Untersuchungen zu Indizierungssystemen, denn die „Zettel und Kästen erzählen von einer über Jahrhunderte hindurch entwickelten methodischen Anstrengung der Ordnung und der Disziplinierung der Erinnerung.“1 Zettelkästen und Karteikartensysteme sind das unmittelbare Produkt einer solchen Bemühung um verlässliche Erfassung und Verwaltung von Wissensbeständen. Karteikarten funktionieren nach dem Gleichheitsprinzip, d.h., alle darauf verzeichneten Informationen stehen prinzipiell wertfrei als Daten (die in einem weiteren Verarbeitungsschritt eben erst verglichen und bewertet werden müssen) zur Verfügung. Eine Karteikarte ist immer eine unter vielen, erst in der die Kapazität eines menschlichen Gedächtnisses übersteigenden Menge erfüllt sie ihren eigentlichen Zweck und kann sich an ordnungsgemäßer Stelle als mühelos auffindbare Informationsquelle bewähren.
Abgehängte Konstruktion
Die „Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert. Ein Führer in vier Bänden“ beruht methodisch ebenfalls auf einem Karteikartensystem, das Friedrich Achleitner Mitte der 1960er Jahre zur systematischen Erfassung des relevanten Baubestands Österreichs anzulegen begann und das er bis heute führt. Für die Erhebung in den österreichischen Bundesländern benutzte er einen Zettelkasten mit aufklappbaren Karten im A6-Format, für die Recherchen in Wien stieg er auf aufklappbare Karteikarten im Format A5 um – eine nach seinen Vorgaben ausgeführte Spezialanfertigung der Wiener Firma Planothek. Gegenüber den Bundesländerkarten weisen die Karten zu den Bauwerken in Wien eine revidierte Systematik auf. So wurden etwa die Kategorien „Bauweise“, „Charakteristik“ und „Besonderes“ zum Kartenfeld „Informationen“ vereinigt. Die blassgelben querformatigen Karteikarten für die 23 Wiener Bezirke sind an der Frontseite jeweils in neun Zeilen unterteilt, in die (ausschließlich mit Bleistift) relevante Basisinformationen zu Bauwerken eingetragen werden. Diese neun Kategorien sind in Versalien einer serifenlosen Schrifttype in den Zeilenspiegel eingedruckt: BEZEICHNUNG, ORT, BAUHERR, ENTWURF, AUSFÜHRENDER, PLANUNGSZEIT / BAUZEIT/WETTBEWERB, ZUSTAND, INFORMATIONEN, PUBLIZIERT. Die ersten sieben Zeilen weisen eine Höhe von 1,1 Zentimetern auf, die beiden letzten sind aufgrund der zu erwartenden Eintragsmenge zu Feldern von 2,4 Zentimeter Höhe geweitet. Die unteren Ecken der Karteikarte sind zum Schutz der Kanten abgefast, die am linken unteren Kartensaum eingedruckte Produktseriennummer (Nr. 5150-1 – 1385) und die Herstellerbezeichnung sind auf allen Karten identisch. Karteikartenreiter aus verschiedenfarbigem Plastik markieren an unterschiedlicher Position am gezahnten und von 1 bis 34 durchnummerierten Kartenfalz die verschiedenen Bautypologien2. Über seitliche Bügel aus gelbem Plastik lassen sich die in die Führungsschienen der Blechtröge eingehängten Karteikarten mühelos bewegen. Aus tragwerksplanerischer Sicht handelt es sich hier also um eine abgehängte Konstruktion. Anders als öffentliche Bibliothekskataloge ist der Achleitner-Karteikasten (vier schwarz lackierte Stahlblechschränke mit je fünf Laden und drei Kartentrögen pro Lade) nicht mit Laufstangen ausgestattet, die eine Entnahme der Karten unterbinden würden. Eine disziplinierte Handhabung des auf der ersten Hierarchieebene nach den Wiener Bezirken durchnummerierten Systems muss also beim ohnehin überschaubaren Benutzerkreis vorausgesetzt werden. Die Ohren der Kartenreiter sind ringförmig ausgestanzt, so dass die Karten in typologischen Konvoluten mit einem eigens dafür vorgesehenen Fädelstab herausgehoben werden könnten. Innerhalb der bautypologischen Gliederung sind die Karteikarten alphabetisch nach den Bauwerks-Adressen (Bezirkszahl, Punkt, Komma, exakte Adressbezeichnung) und innerhalb der Straßen und Gassen nach Hausnummern gereiht.
Nachbearbeitung und weitere Recherchen
Innerhalb der Baukategorie und der Straßenbezeichnung weist der Karteikasten somit punktuell eine Entsprechung zum Stadtplan auf, der ja auf einem wesentlich anderen Abstraktionsmuster beruht. Bei den sogenannten Erstbegehungen in noch weitgehend unerforschtem Gelände wird jeder Bau, dessen Anblick das Forschungsinteresse weckt, zunächst fotografiert und die Adresse notiert. Diese beiden spärlichen Daten (Fassadenfoto und Adresse) geben in der Nachbearbeitung einer Begehung den Anstoß, eine Karteikarte anzulegen und weitere Recherchen zum Bauwerk bzw. weitere Besichtigungen folgen zu lassen. Manchmal ist auch die Veröffentlichung eines Projekts in einer historischen oder aktuellen Fachpublikation Ausgangspunkt für das Anlegen einer Objektkarteikarte. Auf die Innenseite der Karteikarte werden sukzessive (über Jahre und Jahrzehnte hinweg) Recherche- und Begehungsergebnisse geklebt: s/w-Kontaktbogenabzüge bzw. Farbbogenausdrucke von Achleitner-Fotos.3 Eine das jeweilige Bauwerk betreffende Kopie aus dem dazugehörigen Stadtplan im Maßstab 1:2000 gibt über die Lage des Baus oder des Ensembles im städtischen Kontext Aufschluss, Veröffentlichungspläne (Grundrisse und Schnitte ohne Maßketten), Zeitungsausschnitte, Erwähnungen in Lexika etc. ergänzen die bauwerksrelevante Materialcollage, die von Fall zu Fall qualitativ und quantitativ unterschiedlich ausfällt.
Ist die Kapazitätsgrenze der Klebefläche erreicht, können eine, maximal zwei weitere Leerkarten in die Objektkarte eingehängt werden, wobei die seitlichen Hängebügel und der Karteikartenreiter den Zusammenhalt sichern.4 Eine leere Karteikarte (mit zwei seitlichen Hängebügeln und einem Reiter) wiegt 7 Gramm, im befüllten Zustand kann sie aber bis zu 73 Gramm (Wiegebeispiel Postsparkasse von Otto Wagner) erreichen. Bei entsprechender Datenmenge kann sich das Informationsgewicht einer Karteikarte um mehr als das Zehnfache erhöhen. Um einzelne Karten mit der Traglast nicht zu überfrachten, werden Informationen zu umfangreichen Bau-Ensembles auf mehrere Karten verteilt, diese aber in der Folge mit einem Gummiband), das oben im gezahnten Kartenfalz einrastet, zu einem Bündel geschnürt. In einer besonderen Zeile der Frontseite wird die so genannte Einlagezahl eingetragen, die mit den in den Archiven der Baupolizei (MA 37) aufbewahrten Planakten korreliert. In der Zeile mit den vorher erwähnten „Informationen“ finden sich unterschiedliche Kürzel als Notiz für die spätere Klassifizierung im Zusammenhang mit dem Bautenführer: z.B. „U“ wie unbedeutend, „E“ wie Erwähnung, „T“ wie Termin (mit Bauherren oder Planern) zur Innenbesichtigung eines Gebäudes. Vermerke wie „Vormittag“ oder „Nachmittag“ verweisen auf den günstigsten Zeitpunkt (Licht- und Schattenverhältnisse, etwa in einer engen Gasse) für die fotografische Dokumentation eines Objekts. „Ausheben“ bedeutet, dass ein Bauwerk der weiteren Recherche, z.B. der Aushebung des Bauakts bedarf. Wenn sich im Rahmen einer Besichtigungstour herausstellt, dass ein anvisiertes Objekt in der Zwischenzeit abgerissen worden ist, wird dies in der Zustands-Zeile der Karte vermerkt. Diese Karte wandert dann zu den AUSGESCHIEDENEN, d.h. in jene durch ein Kartonblatt separierte Rubrik des Karteikartenschranks, die nach eingehender Bearbeitung eines Bezirks den Abschluss der Karteikartenfolge bildet.
Mehrstufiger Auswahlprozess
Ein zentraler Aspekt der Arbeit mit Karteikarten im Hinblick auf den Architekturführer ist selbstverständlich der in mehreren Stufen erfolgende Auswahlprozess, so dass nur ein Bruchteil des erfassten Materials in die „Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert“ tatsächlich einfließt. Die in Erst- und Zweitbegehungen, diversen Nachforschungen und neuerlichen Nachbegehungen erzeugte Datenmenge, die zur Text- und Bildoberfläche des Buches nicht vordringt (gar nicht vordringen kann und soll), bildet dann so etwas wie eine solide Unterkonstruktion. Sie trägt das Ganze, ohne sich zu zeigen.
Gegenüber digitalen Datenbanken wie etwa dem Filemaker-Programm bietet das analoge Karteikartensystem neben seiner haptischen Qualität den Vorteil, dass man mehrere „Datensätze“ gleichzeitig aufrufen und mühelos zwischen den Maßstäben (einzelne Karte/Teilgebiete/das Ganze) springen kann. In digitalen Programmen (die andere Vorteile haben) bleibt das Verhältnis Teil/Ganzes immer ungreifbar. Die geöffnete Lade eines Karteikastens informiert schon auf den ersten Blick (Gesamtmenge und Dicke der Karten, Art und Verteilung der Reiter etc.) und ermöglicht als „vieldimensionales Darstellungsmittel“ sowie aufgrund des losen Verbunds eine nichtlineare Handhabung. In dieser Hinsicht ist das Karteikartensystem auch gebundenen Druckwerken überlegen.5
Ein sorgfältig geführter Karteikasten, in dem alle verfügbare Information zu einem Gegenstandsbereich ordnungsgemäß aufgehoben ist, der zunächst gewissermaßen neutral in sich ruht, fordert die, die damit arbeiten, permanent zur Sachlichkeit auf.
1  Hans Petschar, Ernst Strouhal, Heimo Zobernig, Der Zettelkatalog. Ein historisches System geistiger Ordnung, Springer Verlag, Wien-New York 1999.
2  Farbe und numerische Position der Reiter: Hellblau 25 (Amts-, Verwaltungs- und Bürobauten), Schwarz 23/24 (Religion), Violett 22 (Information),
Violett 21 (Kultur- und Politik), Gelb 20/19/18/17 (Universitäten, Mittelschulen, Schulen, Kindergärten), Weiß 16 (Heilung), Weiß 15 (Sonderbauten), Rot 14 (Städtische Wohnhäuser), Rot/Hellgrün 13 (Gemeindebauten, Wohnbauten von Genossenschaften), Rosa 12/11
(Einfamilienhäuser, Villen, Siedlungen), Lila 10/9 (Hotels, Heime, Klöster), Blau 8 (Kaufhäuser, Läden, Banken), Blau 7 (Kaffee- und Gasthäuser), Dunkelgrün 6 (Industrie), Dunkelgrün 5 (Landwirtschaft) Hellgrün 4 (Sport, Erholung, Bä­der), Hellgrün 3 (Gärten, Parks), Weiß 2 (Energie), Weiß 1 (Verkehr).
3  Da Friedrich Achleitner 2002 vom s/w-Negativfilm auf Farbdiapositive umgestiegen ist und seitdem sämtliche Filme von vornherein sowohl analog
als auch digital ausgearbeitet werden, wurde nach der letzten s/w-Filmnummer 878 mit der Nummerierung neu begonnen und der Filmnummer jeweils ein D (digital) vorangestellt.
4  Überformatige weiterführende Materialien zu einem Bauwerk (großformatige Plankopien, Broschüren, Fotoabzüge etc.) werden nach Bezirk, Bautypus und Adresse geordnet und in säurefreien A3-Kartons aufbewahrt.
5  Vgl. Markus Krajewski, Notes & Quotes. Cards, Catalogs, and Office Effi­ciency, 1548–1929, Transl. by Peter Krapp, The MIT Press, Cambridge, Mass., 2010
Fakten
Architekten Achleitner, Friedrich, Wien
aus Bauwelt 14.2011
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