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„Das ist eklatantes Unrecht!“

Kurator Benedikt Goebel im Gespräch über die Berliner Ausstellung „Geraubte Mitte“

Text: Ballhausen, Nils, Berlin; Crone, Benedikt, Berlin

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Foto: Michael Setzpfand/Stadtmuseum Berlin

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„Das ist eklatantes Unrecht!“

Kurator Benedikt Goebel im Gespräch über die Berliner Ausstellung „Geraubte Mitte“

Text: Ballhausen, Nils, Berlin; Crone, Benedikt, Berlin

Nach der viel beachteten Ausstellung „Berlins vergessene Mitte“ (2010) beschäftigt sich das Stadtmuseum erneut mit der Geschichte Alt-Berlins. Ab 1933 wurde hier – wie im gesamten Deutschen Reich – der Grundbesitz jüdischer Bürger „arisiert“, besser gesagt: enteignet.
Die Rassenideologie wurde gezielt für stadtplanerische Ziele eingesetzt, der Nazi-Staat benötigte Raum für die repräsentative Umgestaltung der Stadtmitte. Die für das Ziel einer „Entjudung“ des Grundbesitzes nötigen Gesetze wurden diesen Planungen schrittweise angepasst. Wer heute von einer Neubebauung des Areals, etwa in Gestalt eines „Rathausforums“, redet, darf die historischen Verstrickungen der öffentlichen Hand nicht ignorieren.
Herr Goebel, Sie haben für die Ausstellung erstmalig den ehemals jüdischen Grundbesitz im Berliner Stadtkern kartiert und systematisch erforscht. Von den rund 1200 Parzellen waren vor 1933 etwa 225, also rund ein sechstel, in jüdischem Besitz ...
... und nach 1944 kein einziges Grundstück mehr. Die „Arisierung“ verlief vollständig. Man muss allerdings wissen, dass die wenigsten jüdischen Eigentümer hier gewohnt haben, denn zu der Zeit war hier die „City“, das Geschäftszentrum Berlins. Die Grundstückseigentümer wohnten überwiegend in den westlichen Bezirken.
Wer profitierte von den als „Arisierung“ titulierten Enteignungen?
Im Bereich der Berliner Stadtmitte war das eindeutig die öffentliche Hand, und zwar Stadt und Staat gleichermaßen. Nach 1933 kann man zwischen beiden fast nicht mehr unterscheiden, sie arbeiteten eng zusammen und verfolgten ähnliche Absichten. Die gleichgeschaltete Stadtverwaltung etwa wollte das monumentale „Altstadtforum“ realisieren, wofür Grundstücke um den Molkenmarkt benötigt wurden. Albert Speers Umbaupläne, unter anderem für die Ost-Achse im Norden der Altstadt, erforderten umfangreiche Abrisse. Für die Bewohner der abzureißenden Häuser wurden Ersatzwohnungen benötigt, dafür konfiszierte man jüdischen Besitz.
Wie muss man sich diesen Prozess vorstellen?
Wesentlich beteiligt daran waren die Finanz- und die Justizverwaltung. Wenn die Stadt Interesse an einem Grundstück in jüdischem Eigentum hatte, dann wurden zum Beispiel Steuern fällig gestellt. Wollte oder konnte der Eigentümer nicht zahlen, kam es schnell zur Zwangsversteigerung, bei der in der Regel die Reichshauptstadt den Zuschlag erhielt.
In der Ausstellung zeigen Sie die Schicksale von fünf Familien und sieben ihrer Grundstücke. Wie kam es zu der Auswahl?
Uns war es wichtig, Beispiele aus allen Bereichen der Altstadt zu haben und nicht etwa nur die großen jüdischen Kaufhäuser Wertheim oder Israel zu betrachten, was ein verzerrtes Bild der jüdischen Grundbesitzer ergeben hätte. Deswegen zeigen wir zum Beispiel auch die Geschichte der winzigen Parzelle Schlossplatz 5 – nur 48 Quadratmeter groß und direkt am Schloss gelegen. Ein anderes Beispiel ist das Modehaus Gerson am Werderschen Markt. Nach der Zwangsversteigerung zog dort 1939 das Reichskriminalpolizeiamt ein, das unter anderem den Massenmord mit Zyklon B konzipierte. Im Hof wurden Gaswagen getestet. Ein zentraler Ort des Naziverbrechens, den bis heute kaum jemand kennt.
Nach 1949 versuchte auch die DDR, sich ein repräsentatives Zentrum zu schaffen – was nur schleppend gelang. Wie ging die DDR mit den in der NS-Zeit „arisierten“ Flächen um?
Das SED-Regime hatte keine Skrupel zu übernehmen, was ihm der Nazistaat vermacht hatte: Es wurde nichts entschädigt. In einer Aufzeichnung fragt ein Staatssekretär des DDR-Finanzministeriums, warum man Juden Entschädigungen zahlen sollte, wenn die Kollektivierung bald auch die nicht-jüdischen Eigen­tümer treffen werde?
Sind denn in der DDR Besitzansprüche von enteigneten Juden oder ihren Nachfahren gestellt worden?
Ja, aber alle wurden abgewiesen. In West-Berlin konnte man zwar Ansprüche auf Entschädigung stellen, allerdings nur auf bewegliches Eigentum wie Pelze oder Schmuck oder auf unterbrochene Ausbildungswege und entgangene Berufskarrieren – nicht aber auf Grundbesitz. Der Staat meinte, es sei doch noch alles da – nur eben gerade nicht verfügbar.
Dann kam die Wende und die Grundstücke wurden für die Bundesrepublik „verfügbar“. Änderten sich auch die Besitzverhältnisse?
Von den etwa 225 jüdischen Grundstücken waren bei Mauerfall noch 15 bebaut. Von diesen 15 sind 12 nach der Wiedervereinigung rückübertragen worden. Von den 210 unbebauten Grundstücken gingen jedoch nur drei an die Alteigentümer zurück, ein ungewöhnlich niedriger Wert. Die übrigen 207 Grundstücke sind bis heute im Besitz des Staates. Trotz der verfassungswürdigen Formel des Vereinigungsvertrags „Rückgabe vor Entschädigung“ geschah hier das Gegenteil: Entschädigung wurde durchgängig einer Rückübertragung vorgezogen.
Mit welcher Begründung?
Die Grundstücke seien Gemeingebrauch. Das betrifft Straßen und Grünflächen – da kann ich diese Aussage noch nachvollziehen –, aber es betrifft auch jede Menge Brachen. Dieser Gemeingebrauch muss nicht förmlich festgelegt sein, es genügt, wenn die Landesverwaltung annimmt, dass ein Grundstück Gemeingebrauch ist oder einmal dazu werden könnte.
Wie wurde die finanzielle Entschädigung nach der Wiedervereinigung berechnet?
Die Entschädigung hat sich an dem Einheitswert von 1935 orientiert. Dieser Wert, der durch den damals niedrigen Steuerwert sehr gering ausfiel, wurde verdoppelt – was zu lächerlichen Summen führte, zum Beispiel umgerechnet zwischen 20.000 und 100.000 Euro für etwas, das heute 10 oder 20 Millionen wert ist. Das ist eklatantes Unrecht! Und das Unrecht wird dann manifest, wenn der Senat an die Vermarktung dieser Flächen geht. Ich plädiere daher dafür, dass der Erlös aus der Vermarktung dieser Flächen an die Nachfahren oder die Jewish Claims Conference geht – auch wenn man dann den Stadtumbau nur mit fünf Sechstel der Erlöse finanzieren könnte.
Bei der Diskussion zur Neubebauung der alten Berliner Mitte wird gerne mit der Geschichte argumentiert – von den Ursprüngen Berlins über die Kaiserzeit bis zur DDR-Moderne. Wie sehen Sie mit Blick auf Ihre historischen Forschungen diese Debatte?
Mich stört daran, dass Stadtentwicklungssenator Michael Müller und Senatsbaudirektorin Regula Lüscher der Meinung sind, beim leer geräumten Marx-Engels-Forum könnte man an keinerlei Bebauung denken, da dann die Ansprüche ehemaliger Eigentümer wieder aufleben würden. Beider Angst ist: Sollte auch nur eine einzige Parzelle rückübertragen werden, dann wäre der Verkauf durch den Liegenschaftsfonds an einen Investor, der den Block als Wohn- oder Shoppingareal vermarktet, unmöglich. Das halte ich aber auch gar nicht für sinnvoll. Wir sollten in meinen Augen den Bereich der Stadtmitte reurbanisieren – aber kleinteilig und heterogen! Die Stadtplanung nach der Wende ist – trotz wesentlich besserer Ausgangslage – hier bislang deutlich anspruchsloser vorgegangen als zuvor die sozialistische.

Benedikt Goebel | Jg. 1968, Studium der Geschichte und Philosophie; 2003 Promotion: Der Umbau Alt-Berlins zum modernen Stadtzentrum; sieben lange Jahre Öffentlicher Dienst; seit 2011 Büro stadtforschung; Kurator etlicher Ausstellungen, u.a. Berlins vergessene Mitte. Stadtkern 1840–2010 (Stiftung Stadtmuseum). Gründer und Sprecher der Planungsgruppe Stadtkern, Vorstandsmitglied des AIV Berlin

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