Bauwelt

Die sieben Leben der Nachhaltigkeit im Zeitraffer

Der belgische Designer und Hochschullehrer ließ 2013 in einer großen Ausstellung die wichtigen Projekte nachhaltiger Architektur der letzten 40 Jahre Revue passieren. Die heutige Tendenz, Nachhaltigkeit unter allen Umständen berechnen zu wollen, kritisiert er hier scharf

Text: Gielen, Maarten, Brüssel

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    Gro Harlem Brundtland
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    Faksimile aus dem Buch „Behind the Green Door“ von Maarten Gielen und Rotor. Seite 76 mit Norman Fosters ökologischem Masterplan für die Insel Gomera von 1975.

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    Faksimile aus dem Buch „Behind the Green Door“ von Maarten Gielen und Rotor. Seite 76 mit Norman Fosters ökologischem Masterplan für die Insel Gomera von 1975.

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    Die Autoren hatten, unabhängig von der Projektdarstellung, Architekten, Umweltwissenschaftlicher und Politiker gebeten, die frem-den Projekte mit kurzen Statements zu kommentieren.

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    Die Autoren hatten, unabhängig von der Projektdarstellung, Architekten, Umweltwissenschaftlicher und Politiker gebeten, die frem-den Projekte mit kurzen Statements zu kommentieren.

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    Faksimile aus „Behind the Green Door“, Seite 80, mit dem Projekt Masdar von Foster + Partners.
    Foto unten: Todd Antony

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    Schöne neue Welt: seerosenförmige Inseln, die Solarenergie produzieren und Touristenboote anlocken, ...
    Abbildung: Sunny Water Lilies by Ulf Hackauf, Pirjo Haikola and Gonzalo Riva for The Why Factory

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    ... entwickelt von „The Why Factory“ Rotterdam
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Die sieben Leben der Nachhaltigkeit im Zeitraffer

Der belgische Designer und Hochschullehrer ließ 2013 in einer großen Ausstellung die wichtigen Projekte nachhaltiger Architektur der letzten 40 Jahre Revue passieren. Die heutige Tendenz, Nachhaltigkeit unter allen Umständen berechnen zu wollen, kritisiert er hier scharf

Text: Gielen, Maarten, Brüssel

Das Konzept der Nachhaltigkeit macht zurzeit eine schwierige Phase durch. Ihre früheren Freunde – nennen wir sie der Einfachheit halber Avantgarde – haben sich mit dem Nachlassen ihrer jugendlichen Frische und anziehenden Widersprüchlichkeit von ihr abgewandt, während sie von ihren neuen Anhängern in einem Maße ausgenutzt wird, dass man sich schon fremdschämen muss. Zwar ist sie, ständig auf der Suche nach ihrer wirklichen Identität, weiterhin ein beliebter Partygast, jedoch vor allem deshalb, weil sich Gäste wie Gastgeber aus der gehobenen Gesellschaft hinter ihrem Rücken über sie mokieren können. Ihre (selbsternannten) Retter würden sie da am liebsten in die vier Wände einer geschlossenen Anstalt einweisen lassen.
Unser Interesse an Nachhaltigkeit ging von dem Wunsch aus, den intellektuellen Missbrauch dieses Begriffs in den letzten Jahren zu verstehen und sichtbar zu machen, von dem wir zunächst dachten, dass das Konzept selbst dafür verantwortlich sei. Anfangs gab es bei uns nicht viel mehr als eine grundsätzliche Anerkennung der einstigen Verdienste des Konzepts. Die eingehendere Auseinandersetzung machte uns aber deutlich, wie vielversprechend die Jugendjahre gewesen waren. Wir erfuhren, welch aufreibende Kämpfe in dieser Anfangsphase ausgefochten und gewonnen worden waren. Uns wurde klar, dass der Großteil der heutigen Probleme mit dem Begriff Nachhaltigkeit aus einem fatalen Missverständnis heraus entstanden ist: der Vorstellung, dass „Nachhaltige Entwicklung“ ein einziges, allgemeinverbindliches und pragmatisches Konzept bedeuten müsse. Dieses Missverständnis wollen wir hier aufklären und zeigen, warum die Zukunft nur in einem vielschichtigen Konzept liegen kann.
Die Vereinten Nationen und die „World Commission on Environment and Development“
Ein interessantes Faktum ist die relativ kurze Lebensspanne des Begriffs. Vor nicht einmal dreißig Jahren installierten die Vereinten Nationen unter der Leitung der norwegischen Premierministerin Gro Harlem Brundtland die „World Commission on Environment and Development“, kurz WCED. Der Auftrag an die Kommission umfasste die Ausarbeitung von „gemeinsamen Leitlinien zu langfristigen Umweltbelangen und […] entsprechenden Maßnahmen“. Es galt – auch wenn sich das wie ein Zitat aus einem Science-Fiction-Roman anhört – „eine zukunftsträchtige Zielsetzung für die Menschheit als Ganzes zu entwickeln“2. Dem Team war damit der wohl ambitionierteste Arbeitsauftrag übertragen worden, den eine Gruppe von Menschen je erhalten hatte: Die Menschheit mit einer gemeinschaft-lichen Vision für die Zukunft zu vereinen.
 Die Antwort der Kommission auf diesen Auftrag war das Konzept der nachhaltigen Entwicklung. Die Idee als solche war nicht unbedingt neu. Sie lässt sich anhand zahlreicher Einzelfälle schon zu unterschiedlichsten Zeiten nachweisen: So forderte im 18. Jahrhundert Hans Carl von Carlowitz in seiner Sylvicultura oeconomica, mit der er die Forstwirtschaft begründete, „daß es eine continuierliche beständige und nachhaltende Nutzung gebe“3.
Der Begriff „sustainable development – nachhaltige Entwicklung“ in Verbindung mit den dazugehörigen Anforderungen an die Umweltpolitik ist jedoch eine Erfindung aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bereits gegen Ende der siebziger Jahre tauchte er in vereinzelten Dokumenten auf; die erste übergreifende  Definition lieferte der Brundtland-Bericht von 1987. Die Kommission modelte den Begriff um, zu einem ganzheitlichen konzeptuellen Schirm, der geeignet ist, Individuen, Gruppen und Nationen quer über alle politischen und wirtschaftlichen Lager hinweg zu einen.
„Dauerhafte Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne dabei in Kauf zu nehmen, daß künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“4 Mit  dieser Definition hatte die Kommission eine überaus brillante Antwort auf ihren Auftrag gefunden. Die Rücksicht auf jene „künftigen Generationen“ war ab diesem Moment der entscheidende Grund für das Streben nach einem ausgewogenen Umgang mit der Umwelt. Die Definition stellte damit einige wenige, klar umrissene und einfache Ideen in den Vordergrund: Dass die Welt, in der wir derzeit leben, nicht wirklich ideal ist, und es daher für Individuen wie für Gruppen wichtig  ist, sich auf eine bestimmte Weise zu „entwickeln“. Im Bericht lautet der diesbezügliche Passus: „Die ‚Umwelt‘ ist der Ort, wo wir leben; ‚Entwicklung‘ ist das, was wir alle tun, um unser Schicksal in diesem Lebensraum zu verbessern.“
Zugleich ließ die Definition, vermutlich mit Absicht, eine Reihe von grundlegenden Fragen unbeantwortet: Bezüglich des Auftrags, „eine künftige Zielsetzung für die Menschheit als Ganzes zu entwickeln“, vermied die Kommission jede Form von detaillierter Definition, welche denn diese „Bedürfnisse“ sein könnten.
Heute können wir sagen: Die Definition des Brundlandt-Berichts zur Sustainability ist vielleicht gerade deshalb so robust, weil bereits kleine Nuancen in der Auslegung, was genau unter einem „Bedürfnis“ zu verstehen sei, der Interpretation der Definition eine neue Wendung geben. Damit musste die Definition quasi nie mehr neu formuliert werden. Bis heute wird sie in unterschiedlichen Auslegungen zitiert.
Die sogenannte Rio-Deklaration, formuliert auf dem Weltgipfel der UNO von 1992, erweiterte den Begriff Nachhaltigkeit und stellte ihn als das Streben nach einem Gleichgewicht zwischen den drei Bereichen Umwelt, Wirtschaft und Gleichheit dar. Mit einer derart weit gefassten Definition wird Nachhaltigkeit als ein Anliegen etabliert, das alle anderen politischen Zielsetzungen umfasst: Stadtplanung, Gleichberechtigung der Geschlechter, Steuerpolitik, Gesundheit, Einwanderungspolitik, Alphabetisierungskampagnen, Erhalt des kulturellen Erbes und so weiter. So konnte das Konzept der Nachhaltigkeit, das der Debatte um den Klimawandel mehr als zehn Jahre voraus ging, die neuen Parameter problemlos integrieren, eine Änderung der Definition war nicht nötig.
Von der Gegenkultur zum Mainstream
Das Umweltbewusstsein, heterogener Schmelztiegel von Ideen und seit seinem Aufkommen in den siebziger Jahren als Gegenkultur apostrophiert, avancierte in der Folge rasch zu einem Teil des kulturellen Mainstream. Es hielt Einzug in die Moralvorstellungen der Mittelklasse, in politische Programme und gesellschaftliche Visionen. Im Laufe von wenigen Jahren hat sich der Begriff „nachhaltige Entwicklung“ bei Regierungen, Großkonzernen und Non-Profit-Organisationen durchgesetzt und ist bis heute fest verankert. Doch mit der Verbreitung des Konzepts tauchte die Frage nach der Präzisierung wieder auf: Was genau ist Nachhaltigkeit? Was bedeutet sie konkret?
Nachhaltigkeit – ein „Wesentlich Umstrittener Begriff“
Die Situation präsentierte sich im Folgenden dann so: Es gibt auf der einen Seite eine weit verbreitete Einigkeit über die Sinnhaftigkeit des Konzepts, aber es gibt keinen Konsens darüber, wie dieses Konzept am besten zu konkretisieren sei. Diesen Fall, der zum Beispiel auch für die „Gerechtigkeit“ oder für die „Demokratie“ gilt, untersuchte der schottische Philosoph Walter Bryce Gallie 1956 in seinem bekanntesten Werk „Essentially Contested Concepts“.
Gallie  schreibt: „Jeder Gebrauch eines auf „commonsense“ beruhenden begrifflichen Konzepts […] wird notwendigerweise – mit einer mehr oder minder guten Begründung – umstritten sein; ungeachtet ob stichhaltig oder nicht, schließen solche Gründe jedoch gewöhnlich die einverständige Annahme hinsichtlich der angemessenen Art und Weise über den Gebrauch des fraglichen Begriffes mit ein, welche zwischen dem Nutzer und jedem, der dessen spezifischen Gebrauch des Begriffes anficht, besteht.“ 5 Wie können wir aber umgehen mit solch einem umstrittenen Begriff, wie ihn aus unserer Sicht auch die „Nachhaltigkeit“ darstellt? Walter Bryce Gallie hat darauf diese Antwort parat: „Einen Begriff als notwendigerweise umstritten anzuerkennen impliziert zugleich die Anerkennung der Tatsache, dass es rivalisierende Verwendungen davon gibt […] und zwar derart, dass sie nicht nur logischerweise möglich und menschlich ‚wahrscheinlich‘ sind, sondern in dem Sinne, dass sie einen dauerhaften, möglichen, kritischen Zusatz-Wert zu dem eigenen Gebrauch des fraglichen Begriffs darstellen; wenn man dagegen irgendeine rivalisierende Verwendung als verächtlich, pervertiert, verroht oder psychotisch ansieht, bedeutet das in vielen Fällen, dass man sich selbst der ständigen, dem Menschen eigenen Gefahr aussetzt, die Positionen des Widersachers im Wert zu unterschätzen.“ 6
Eine sinnvolle Konsequenz in der gemeinsamen Anerkennung der „Strittigkeit“ des zugrundeliegenden Konzepts Nachhaltigkeit könnte gerade darin liegen, dass die streitenden Parteien sich darüber klar werden, dass ihre Konflikte unvermeidbar sind, ja, dass sie sie als notwendig begreifen. Vergleichbare Beispiele aus anderen Wissensbereichen gibt es viele. So fällt es schwer, sich einen Juristen vorzustellen, der sich der konstruierten Natur des Konzepts „Gerechtigkeit“ nicht bewusst wäre, das im Grunde ständig nachgebessert werden muss. Ähnliches gilt für zeitgenössische Künstler, die selbstverständlich davon ausgehen, dass „Kunst“ als begriffliches Konzept einer dynamischen Entwicklung von sozialen Übereinkünften unterworfen ist.
Im Vergleich zu diesen Beispielen wirkt die Nachhaltigkeits-Debatte allerdings etwas zurückgeblieben. Meinungsmacher im Allgemeinen und Regierungen und Gesetzgeber im Besonderen delegieren ihr diesbezügliches Mandat gern an Think-Tanks und oft auch an dubiose Consulting-Firmen. Diese etablieren ihre Autorität aber nicht über moralische oder philosophische Auseinandersetzungen – was man erwarten sollte, wenn das Gleichgewicht des Universums auf dem Spiel steht –, sondern indem sie sich auf Algorithmen stützen und einen kaum nachvollziehbaren Schein von Wissenschaftlichkeit bemühen.
Gerade im Bausektor nutzen die hoch spezialisierten Profis gern ihre persönlichen Wissenstrümpfe – das Paradigma Energieeffizienz, den zu minimierenden CO2-Ausstoß, die damit verknüpften Öko-Bilanzen etc. für die Selbstdarstellung und bezeichnen sich selbst als den wirklichen, dem Nachhaltigkeitsgedanken verpflichteten Experten, immer fest einem „ganzheitlichen Ansatz“ verpflichtet. Würde man aber anfangen, die Nachhaltigkeit als „Umstrittenen Begriff“ zu verstehen, wäre unmittelbar einsichtig, dass bei jedem konkreten Vorhaben der Anspruch auf Nachhaltigkeit sich notwendigerweise in einem konzeptuellen Rahmen verortet, der vorgegeben ist. Statt zu fragen: „Ist dieser Entwurf wirklich nachhaltig oder nicht?“, würde man dann die Frage stellen: „Welche Sicht auf die Welt braucht es, damit dieser Entwurf als nachhaltig gelten kann?“
Das erlaubt eine neue Sicht auf gern verwendete Argumente. Als Beispiel verweise ich auf ein Zitat von  John Roberts vom britischen Büro Arup: „Es
ist vielleicht kein Zufall, dass unsere Projekte für nachhaltige Städte in politischen Kontexten entstehen, die zumeist zentralisiert und mehr oder minder autokratisch organisiert  sind.“ Roberts Zitat legt nahe, dass wir für die Wende hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft unsere Vorbehalte gegenüber solchen Regimes überdenken sollten, weil diese besonders geeignet seien, harte Entscheidungen zu fällen.
Wenn wir aber die Nachhaltigkeit als Umstrittenen Begriff auffassen, wird eine andere Lesart derselben Aussage möglich. Wir brauchen dann nicht länger die Nachhaltigkeit selbst verantwortlich zu machen für Arups Vorliebe für „mehr oder minder autokratische“ Regimes. Im Gegenteil, wir können dann einfach zeigen, dass Arups Interpretation von Nachhaltigkeit offensichtlich eine Form von hegemonialer Herrschaft voraussetzt.
Dank dieser Umkehrung können „nachhaltige Realisierungen“ auf dem Gebiet der Architektur als eine politische Positionsbestimmung des Auftraggeber-Entwerfer-Teams hinsichtlich dessen Auffassung von globaler „Harmonie“ verstanden werden. Nachhaltigkeit als Umstrittenen Begriff zu behandeln, erschließt uns das Verständnis dafür, wie dieser Begriff als gesellschaftliche Kraft eingesetzt wird.
Aufstieg zur Macht
Indem die Brundtland-Kommission die „Bedürfnisse künftiger Generationen“ in den Vordergrund rückte, hat sie den Fokus aufgeweitet; es wurden jene Noch-nicht-Geborenen mit ins Boot der Diskussion geholt, die heute noch keine Stimme haben. Das war schon insofern ein radikaler Ansatz, als er impliziert, dass auch in einem System demokratischer Reprä-sentation davon auszugehen ist, dass bei entscheidenden Grundsatz-diskussionen wichtige Stimmen strukturell nicht vertreten sind.
So wie die Stimmen der Ungeborenen üblicherweise nicht vertreten sind, bleiben auch andere Gruppen ungehört (Ureinwohner, Minderheiten, Einkommensschwache …), ebenso wie nicht-menschliche Gesichtspunkte (andere Spezies, globale Klimaentwicklung usw.). In den Jahrzehnten nach seiner Entstehung fungierte der Nachhaltigkeits-Gedanke als ein Konzept, das den Prozess von Entscheidungsfindungen immer komplizierter machte, indem es atypischen Meinungen Gehör verschaffte.
Dies war auch insofern interessant, als sich – zeitgleich mit der allmählichen Akzeptanz der Nachhaltigkeits-Idee rund um den Erdball in den acht-ziger und neunziger Jahren – nach dem Kollaps der UdSSR der ‚Laissez-faire‘-Kapitalismus rasant verbreitet. Auf eine sehr eigene, bescheidene Art wurde die nachhaltige Entwicklung für viele Kritiker zu einem Werkzeug, um marktwirtschaftliche Doktrinen zu hinterfragen. Die Nachhal-tigkeit wurde eine Art Trumpf, der es erlaubte, anerkannte Systeme und Lehrmeinungen auf glaubwürdige Weise anzuzweifeln. Entscheidungsträger, von Verbrauchern, Wählern und Kommentatoren unter Druck gesetzt, wollten Nachhaltigkeit. Damit das Konzept jedoch weiterhin die
Arenen der Macht infiltrieren konnte, musste es sich auf drastische Weise neu aufstellen.
Für die Machthaber war die Nachhaltigkeit in ihrer ursprünglichen Form ein gefährlicher Hemmschuh, ein aus der Verankerung gerissenes Katapult, das wild Argumente durch die Gegend schleuderte. Um die Situation in den Griff zu bekommen, musste das Konzept in eine Management-Logik übersetzt und in ein Tool für Entscheidungsfindungen umgemodelt werden. Für Manager wie für Politiker musste Nachhaltigkeit im eigentlichen Wortsinn „dingfest“ und zu einem messbaren Kriterium werden. Man stelle sich eine Welt vor, in der die Öko-Bilanz für „jede Lösung“ einfach zu berechnen und mit konkurrierenden Vorhaben zu vergleichen war. Das Management könnte dann die nachhaltige Entwicklung mit fast denselben Tools handhaben, die auch für das Finanzmanagement gelten: durch simples Addieren und Subtrahieren von Zahlen. Politiker könnten eben diese Werkzeuge nutzen um die Gesellschaft „besser“ zu strukturieren; der ideologische Ballast wäre damit überflüssig geworden.
In den letzten Jahren wurden für viele unterschiedliche Situationen  zahlreiche solcher „Tools“ entwickelt: Ökobilanzen, Berechnungen des CO2-Ausstoßes, Vergleichsstudien. Zum Umgang mit den vergleichsweise komplizierten Tools gab es vereinfachte Tools, die man den Entscheidungsträgern auf einer großen Bandbreite von Anwendungsgebieten zur Verfügung stellte. Zwei Beispiele: In den USA schuf eine Organisation von Materialherstellern und Umwelt-Consultants den freiwilligen LEED-Zertifizierungs-Standard, Leadership in Energy and Environmental Design. In Europa regelt ein umfänglicher, rasant anwachsender Ausstoß an Gesetzgebung in ähnlicher Weise Präferenzen für Abfallentsorgungsverordnungen, Leuchtmittelempfehlungen oder Gebäudeenergieeffizienzsstandards. Auch wenn beide Systeme diametral entgegengesetzt angelegt sind (freier Markt vs. Legislative), verfolgen sie im Grunde doch dasselbe Ziel: Das Unwägbare im Konzept der Nachhaltigkeit in den Griff zu bekommen und die abstrak-te Idee in ein Set von Richtlinien zu transformieren, die sich in heutigen Entscheidungsprozessen mit nur wenig Spielraum für persönliche Auslegungen und entsprechende Verunsicherung anwenden lassen.
Fakt ist andrerseits, dass alle Kampagnen, Nachhaltigkeit mit Hilfe derartiger Systeme zu objektivieren, uns bislang in keiner messbaren Art und Weise dem Ziel einer nachhaltigen Gesellschaft näher gebracht hätten – und das gilt auch dort, wo wir uns strikt auf Kriterien aus einem ungebrochen positivistischen Verständnis von Nachhaltigkeit beschränken. Um ein Beispiel zu nennen: Die EU-weite Abschaffung von Glühbirnen mit „hohem Energieverbrauch“ zugunsten von energieeffizienteren Leuchtmitteln erbrachte keine nennenswerte Senkung des Stromverbrauchs. Im historischen Rückblick hat in der Tat noch kein einziges Mal eine bessere energetische Effizienz von Produkten auf der Mikro-Ebene für einen geringeren Verbrauch auf der Makro-Ebene gesorgt. Mehrere Jahrtausende Architekturgeschichte legen im Gegenteil die These nahe, dass die menschliche Antwort auf höhere Effizienz bei Licht- oder Wärmeerzeugung darin besteht, größere Räume zu bauen und auf diese Weise jegliche, durch neue Technologien erzielte Einsparungen zu konterkarieren.
Der positivistische Ansatz in der Nachhaltigkeit und die  damit verknüpfte primäre Ausrichtung auf Energieeffizienz ist viel weniger objektiv, als man gemeinhin annehmen könnte. Durch eine sorgfältige Vorauswahl der als relevant erachteten Datensätze (Energieeinsparungen auf der Mikro-Ebene, die die Auswirkungen auf der Makro-Ebene unberücksichtigt lassen), kann man beinahe jedes Projekt oder jeden Entwurf als nachhaltig darstellen. An anderer Stelle 7 haben wir die These aufgestellt, dass die konkrete Umsetzung von Nachhaltigkeits-Konzepten meist auf die Schaffung von ‚pockets of sustainability‘, also Nachhaltigkeits-Enklaven, hinausläuft: klar abgegrenzten konzeptuellen Räumen, die sich künstlich von ihrer nicht-nachhaltigen Umgebung absetzen. Als ein Beispiel mag der Passivhaus-Standard gelten, der derzeit als verbindliche Auflage bei Neubauten in Belgien, Norwegen und vielen weiteren europäischen Ländern eingeführt wird. Der Standard setzt einen maximalen Energieverbrauch für jedes Gebäude pro Quadratmeter fest. Allerdings sollte man doch eigentlich fragen: Wer verbraucht Energie? Ein Gebäude – oder dessen Bewohner? Da ist der alleinstehende Gutverdiener in einer 240-Quadratmeter-Wohnung. Ist es gerecht, dass diese Einzelperson eine achtfach höhere Verbrauchsquote in Anspruch nehmen darf, als die dreiköpfige Familie, die in derselben Stadt 70 Quadratmeter zur Verfügung hat? Klarerweise brauchen wir mehr als rein rechnerische Parameter, um mit solchen moralischen Fragestellungen umzugehen. Und jetzt stelle man sich einen Architekten vor, der diesen Punkt in einer Diskussion gegenüber der örtlichen Planungsbehörde ansprechen will.
Architekten sehen sich zunehmend der Notwendigkeit gegenüber, die Qualität ihrer Entwürfe mithilfe von mono-dimensionalen Parametern wie etwa Energieeffizienz oder die für Planung, Errichtung und Ausstattung des Gebäudes aufgewandte Energiemenge nachzuweisen. In von solchen Evaluierungs-Methoden dominierten Debatten sind wir es uns als Architekten schuldig, mit Nachdruck zurückzufragen: „Effizient in welcher Hinsicht? Und für wen?“
Der positivistische Management-Umgang mit nachhaltiger Entwicklung, der sich heute wie von selbst überall breit macht, hat genau den gegentei-ligen Effekt auf die Gesellschaft wie das nur locker eingegrenzte Konzept von Nachhaltigkeit aus den Anfangstagen. Für diejenigen, die nicht mit entscheiden können, wird es immer schwieriger, Entscheidungen zu beeinflussen oder daran zu mitzuwirken. Der Nachhaltigkeit ist es gelungen, in die Hochburgen der politischen Entscheidungsfindung vorzudringen, doch im Zuge dessen musste sie auf ihre subversive Natur verzichten. Das ist der Punkt, an dem wir heute stehen: Nachhaltigkeit hat einen scheinbar ständig wachsenden Einfluss auf die Gesellschaft, doch die Fähigkeit, kons-truktive Kontroversen auszulösen, ist dabei beinahe abhanden gekommen.
Wie weiter?
Das Konzept der Nachhaltigkeit hat, zumindest eine Zeit lang, als Gegengewalt fungiert, die denjenigen, die sonst unbeachtet geblieben wären, sowohl die richtigen Worte als auch das Gehör für ihre Anliegen verschaffte: den Schwachen, den Ungeborenen, anderen Lebewesen neben dem Homo sapiens, dem Denken in großen Zeiträumen, dem Mikro-Maßstab, dem Mega-Makro-Maßstab usw. Die Frage ist: „Kann Nachhaltigkeit das heute immer noch?“ Der schlüssige Nachweis, dass Nachhaltigkeit (auf der Grundlage der eingangs dargestellten Definition) als Umstrittener Begriff konzipiert ist, ist die eine Sache. Es wäre aber nicht das erste Mal, dass eine spezifische Lesart einen ursprünglich offener ausgelegten Begriff usurpiert.
Ob wir in ein paar Jahren immer noch argumentieren können, dass Nachhaltigkeit – vor dem Hintergrund der Definition aus dem Brundtland-Bericht – im Sinne der „Bedürfnisse künftiger Generationen“ zu verstehen ist? Oder gilt dann nur noch die enge Lesart im Sinne der oberen Mittelschichten aus den westlichen Industrienationen? Leider ist ein solches Schreckensszenario einigermaßen wahrscheinlich.
Welche Optionen haben wir? Kaum welche, wird an dieser Stelle wohl der Zyniker sagen. Selbst wenn wir das Konzept als solches aufgeben, verschwindet der Begriff damit noch lange nicht aus dem öffentlichen Leben – er wird weiterhin in zahlreichen Debatten herbeizitiert werden. Wenn man also eine derart mächtige Waffe nicht verschwinden lassen kann, wäre es dann nicht ganz und gar unverantwortlich, sie einfach sich selbst zu überlassen?
Jetzt, wo die Nachhaltigkeit einmal in der Welt ist, bleibt uns keine andere Wahl, als den Begriff aktiv zurückzuerobern. In dieser Alternativlosigkeit liegt eine Chance für Architekten und Designer. Wer außer den Architekten und den Entwerfern wäre besser geeignet, um abstrakte Ideen ins Konkrete zu übersetzen? Wenn in der Architektur von Nachhaltigkeit die Rede ist, geht es immer um die Idee des Verfassers einer harmonischen Welt – mit anderen Worten, wie der Architekt sich vorstellt, dass die Welt sein sollte. Architekten, die nicht einfach den unter der Überschrift Nachhaltige Entwicklung entstandenen Vorschriftenkatalog brav abarbeiten, sondern den Begriff aktiv ausloten, beeinflussen damit das kollektive Verständnis von Nachhaltigkeit. Oftmals fügen sie so dem Diskurs eine weitere Facette hinzu. So sorgen sie dafür, dass sich gewisse Ideen nicht so rasch als unmöglich oder als der Aufmerksamkeit nicht wert abtun lassen. Sie weiten die Auseinandersetzung auf sonst unbeachtet bleibende Areale aus. Und ist das nicht eine ganz und gar optimistische Idee: Dass wir über die Gestaltung unserer physischen Umwelt zugleich den mentalen Raum unserer Gesellschaft formen können?
Übersetzung aus dem Englischen: Agnes Kloocke
1 Ausstellung von Maarten Gielen und dem belgischen Büro Rotor im Rahmen der 5. Architekturtriennale in Oslo, OAT, 2013 (Bauwelt 41–42, 2013). Das gleichnamige Buch „Behind the Green Door“, OAT, erschien als kritischer Rückblick 2014.
2 „Our common Future“ New York, 1987, Kap.2, IV, Par. 1
3 Hans Carl von Carlowitz (1645–1714) gilt als Begründer des forstlichen Nachhaltigkeitsbegriffs
4 „Our common Future“, Vorwort
5 Im Original: „Any particular use of any concept of commonsense […] is liable to be contested for reasons better or worse; but whatever the strength of the reasons, theyusually carry with them an assumption of agreement as to the kind of use that is appropriate to the concept in question, between its user and anyone who contests his particular use of it.“6 Idem, S. 193
7 siehe „Behind the Green Door“, Kapitel „Pockets“

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