Bauwelt

Chandigarh Redux

Hier ging kein Architekturdokumentarist zu Werke, sondern ein Künstler mit Blick für Skulptur, Struktur und Oberfläche.

Text: Brosowskyk, Bettina Maria, Braunschweig

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Chandigarh Redux

Hier ging kein Architekturdokumentarist zu Werke, sondern ein Künstler mit Blick für Skulptur, Struktur und Oberfläche.

Text: Brosowskyk, Bettina Maria, Braunschweig

Der britische Guardian berichtete kürzlich, dass im internationalen Kunstmarkt originales Inventar aus Chandigarh gehandelt würde. Ein Kanaldeckel soll für 15.000 Pfund weggegangen sein, ohne Verdacht, dass er, wie auch Mobiliar öffentlicher Einrichtungen, illegal das Land verlassen habe. Diesem Ausverkauf will nun eine Initiative lokaler Architekten und Kunsthistoriker mit der UNESCO begegnen.
Zur Rekapitulation: Mit der Unabhängigkeit 1947 wurde der indische Subkontinent geteilt, Pakistan erhielt Teile des Bundesstaates Punjab mit der Hauptstadt Lahore. Der indische Premier Jawaharlal Nehru beauftragte daraufhin ein internationales Team unter der Federführung von Le Corbusier mit dem Bau einer neuen Regionalhauptstadt: Chandigarh, rund 290 Kilometer nördlich von Delhi, am Fuße des Himalaya. Die Grundsteinlegung erfolgte 1952, Mitte der 1950er Jahre waren zeitweilig 30.000 Bauarbeiter, unter ihnen viele Frauen, dort tätig, Mitte der 1960er Jahre wurde die Stadt offiziell als fertiggestellt erachtet.
Nach Nehrus Vorstellungen sollte die Stadt, losgelöst von Traditionen, ein nationales Symbol des Vertrauens in die Zukunft werden. Das Team um Le Corbusier erfüllte diese Erwartungen, bereits Planung und Bauprozess wurden zur Medienkampagne. Internationale (Bild-) Autoren pilgerten nach Chandigarh, so auch zwischen 1953/54 und 1956 der Schweizer Magnum-Fotograf Ernst Scheidegger. Er dokumentierte das Werk im Entstehen, näherte sich Handwerkern mit Respekt und Geduld. Nicht die Inszenierung der Architekturen interessierte ihn, sondern der zivilisatorische Kontext, und dafür griff er auch zur Farbfotografie. Scheideggers Bildreportagen erschienen nicht, wie beabsichtigt, 1956, vielleicht wegen ihrer anti-ikonischen, journalistischen Bildästhetik. Auch hätte Le Corbusier eine Veröffentlichung wohl verhindert, stellten die Bilder doch ein doppeltes Sakrileg dar: Baustellen und farbige Architekturfotografie. So erschien der großartige Band mit Texten zur Architekturgeschichte und Bildtheorie erst 2010 in Scheideggers eigenem Verlag, war schnell vergriffen und ist eine antiquarische Rarität.
In eben diesem Zürcher Verlag Scheidegger & Spiess erschien nun ein neuerlicher Fotoband zu Chandigarh. Der Wiener Bildhauer und Fotograf Werner Feiersinger sowie die Architekten Erich Hubmann und Andreas Vass waren 2013 vor Ort. Intention der Reise: der gegenwärtige (auch soziale) Zustand der materialisierten Matrix in gut 50 Sektoren. Andreas Vass benennt im Essay Geburtsfehler der Stadt, so das Fehlen von Industrien als wirtschaftlicher Basis, die der Tertiärbereich aus Verwaltung, Kultur und Dienstleistung nicht bietet. Er analysiert Defizite im Wohnungsangebot, das unerschwinglich ist für die untersten Bevölkerungsschichten, im Stadtbild präsent als Tagelöhner oder Straßenhändler. Wo verbringen also die Rikschafahrer ihre Nacht? Vass findet in einem überkommenen Dorf in Sektor 45 die Nähe und Dichte, die der Planstadt fehle und so zum Wohnungsproblem mit beitrage. Rigide Funktionstrennung und das Verkehrskonzept der sept voies de circulation (eine Hierarchie aus sieben, eigentlich acht Verkehrsarten) führe zu langen Wegen und hohem Verkehrsaufkommen. Kenntnisreiches steht im Text – aber losgelöst von den Fotos Feiersingers. Sie arbeiten sich tageweise durch die Sektoren, vor allem 1 (Le Corbusiers Regierungsbauten), 14 (Universität) und 17 (zentrale Einrichtungen), springen zwischen Gebäudetypen und Sektoren. Hier ging kein Architekturdokumentarist zu Werke, sondern ein Künstler mit Blick für Skulptur, Struktur und Oberfläche.
Feiersingers Fotos sind meist ohne Menschen, diese sind in Gebrauchsspuren der Architekturen präsent. Vernachlässigte Bauten werden deutlich, fotografisch dargeboten auf ästhetisch höchstem Niveau. Eine visuelle Ausbeutung gefährdeter Bauzeugnisse der Moderne also, ähnlich der materiellen Plünderung Chandigarhs? Wohl nicht. Ein Appell, das politisch-künstlerische Gesamtkunstwerk neu zu erfassen und seine internationale Unterschutzstellung anzumahnen.   
Fakten
Autor / Herausgeber Essay von Andreas Vass, herausgegeben von Martin und Werner Feiersinger
Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich 2015
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aus Bauwelt 43.2015
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