Bauwelt

Trostpflaster mit Passproblem


Rekonstruktion Rathaus Wesel


Text: Slasten, Tanja, Heiligenhaus


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    Foto: Rainer Döller

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    Foto: Rainer Döller

In Wesel erinnert seit dem 18. September die nachgebaute Schaufassade des zerstörten Rathauses an die Pracht des im Zweiten Weltkrieg ausgelöschten Stadtbilds. Handwerklich weiß die liebevolle Nachbildung am ungefähren Originalstandort zu überzeugen. Doch damit sich auch das Bürohaus dahinter aus den neunziger Jahren nicht mit ihr reibt, bedarf es noch einiger Anpassungsarbeit.
„Sie wollen sicherlich zur Veranstaltung an der neuen Rathausfassade.“ Die Frage nach dem Weg zum Großen Markt wird sofort richtig interpretiert. Schon eine halbe Stunde vor der feierlichen Übergabe der rekonstruierten Gotik sind etliche Bürger vor Ort. Zusehends füllen sich der Platz und die vor der Fassade aufgestellten Bänke. Eine Bühne verheißt spätere Unterhaltung, Bier- und Würstchenstand sorgen fürs leib­liche Wohl. Punkt zwölf Uhr eröffnet das aufs Dach des „Rathauses“ gestiegene „Fanfarencorps Wesel“ das Ereignis.
Wesel am Niederrhein, mit seiner nun rekonstruierten Rathausfassade, war seit 1407 Mitglied der Hanse. Damals florierte der Handel; Bauten wie der Willibrordi-Dom oder das Rathaus zeugen davon. Für das Rathaus waren 1476 zwei Bürgerhäuser mit einer spätgotisch-flämischen Schmuckfassade zusammengefasst worden. 1698 erfolgte ein Umbau, bei dem der Turm die barocke Zwiebelhaube erhielt und die Heiligenfiguren zwischen den Fenstern im ersten Obergeschoss durch die welt­licher Herrscher ersetzt wurden. Einzig Willibrordi, der Patron des Domes, behielt seinen Platz in der Mitte. Trotzdem galt das Weseler Rathaus bis zu seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg als eines der schönsten seiner Zeit. Doch nicht nur das Rathaus, sondern fast die ganze Stadt versanken Anfang 1945 im Hagel der Bomben und Geschosse. Der Neuaufbau in den fünfziger Jahren gab Wesel ein neues Gesicht, welches die Stadt bis heute prägt. Besucher besichtigen allenfalls den wieder aufgebauten Dom, verweilen aber kaum länger. Wesel hat seine einstige Anmutung verloren.
Um dies zu ändern, forderte die im Oktober 1986 gegründete Bürgerinitiative Historisches Rathaus Wesel e. V. eine Rekon­struktion der Rathausfassade. Platz dafür war vorhanden: Am alten Standort des Rathauses dehnte sich zu jener Zeit eine als Parkplatz genutzte Brache. Doch zu Beginn der neunziger Jahre entstand eine Neubebauung, die dem Großen Markt seine historische Räumlichkeit zurückgeben sollte. Diese Bebauung, die nach dem Eigentümer benannte „Trappzeile“, besteht aus fünf Giebelhäusern. Die Tiefgarage unter dem Marktplatz sowie die Gebäude hinter der Zeile mussten die Architekten HPP in die Planung einbeziehen. Wo früher nur eine schmale Gasse die beiden Häuserreihen trennte, befindet sich heute eine breitere Straße samt Zufahrt zur Tiefgarage. Deshalb sind die Gebäudetiefen der Giebelhäuser geringer als die ihrer Vorgänger – obwohl die „Trappzeile“ sich weiter als ursprünglich in den Platz schiebt. Die neue Bebauung steht also nicht am Originalstandort, sondern dazu versetzt und verdreht. Auf Grund dessen befinden sich die Kellerreste des zerstörten Rathauses im Nachbargebäude. Da sich kein Konsens für eine Komplettrekonstruktion des Rathauses fand, kam es zum Kompromiss: Haus Nr. 9 wurde im Hinblick auf eine mögliche Fassadenrekonstruktion breiter als die anderen Häuser gebaut. Dies ermöglichte jetzt den Fassadennachbau in Originalbreite und mit gewalmtem Dach – allerdings nur im vorderen Bereich. Dafür sammelte die Bürgerinitiative seit 2003 Spenden: bis zur feierlichen Übergabe kamen so 1,48 Millionen von Bürgern, Firmen und Institutionen und 1,2 Millionen Euro von Land und Bund zusammen. Die Spenderliste mit rund 1000 Namen ist hinter der Gotischen Tür angebracht, werktags einsehbar. Als Vorlage für den Nachbau dienten ein Aufriss aus der „Zeitschrift für das Bauwesen“ von 1897 und einige Drucke. Als Bauherrin und Eigentümerin der Fassade fungiert die im Juni 2006 von der Bürgerinitiative ins Leben gerufene Bürgerstiftung.
Früher aus Bamberger Sandstein, wurden die Fassadensteine jetzt aus dem härteren Uedelfanger Sandstein gehauen. Der Aufwand war groß. Fünf Stahlträger, unter Haus Nr. 9 geschoben, tragen auf ihren Enden das Fundament der Fassade. De­-­ren Befestigung erfolgt über ein Stahlbetonskelett. Die Bewehrung, die im Bereich der Decken mit Edelstahlprofilen befes­tigt worden ist, verläuft hinter den Pfeilern der neuen Fassade, die Stahlbetonbalken liegen vor den Decken. Die Pfeiler sind mit Formsteinen verkleidet, ansonsten besteht die Fassade aus Blockquadern. Das Gesamtbild sollte so perfekt wie möglich dem Original entsprechen.
Jedoch will das gotische Kleid auch nach Anpassung des In­neren nicht so recht mit dem Bestand zusammenpassen. Die Decke zwischen erstem und zweitem Obergeschoss beispielsweise verläuft direkt hinter den Fenstern der Rathausfassade. Aus diesem Grund sind die außenliegenden Fenster im ersten Obergeschoss nicht komplett zu öffnen: Der obere Teil ist festverglast und innen mit Brettern als Sichtschutz versehen. In-nen befinden sich bodentiefe weiße Aluminiumfenster, außen davor steht die neue historische Fassade mit Brüstung und roten Holzfenstern. Bei der Barocken Tür ragt der Eckpfeiler des Bestandes in die Öffnung. Eine Anpassung ist angeblich machbar, kann allerdings erst beim nächsten Mieterwechsel vorgenommen werden. Auch ein Rückbau der Decke des ersten Obergeschosses ist möglich, dann könnte ein „Hansesaal“ Einzug halten. All dies aber ist Zukunftsmusik. Zunächst sind andere Schritte geplant, wie der Nachbau der Treppe hinter der Barocken Tür und der Figuren an der Fassade. Ob Heilige oder Herrscher aufgestellt werden, ist noch unklar. Einzig Willibrordi soll auf jeden Fall wieder einen Platz erhalten




Adresse Großer Markt 46483 Wesel


aus Bauwelt 42.2011
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