Bauwelt

Terrain großer Hoffnungen

Nationalstadion in Warschau

Text: Kil, Wolfgang, Berlin

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Wolfgang Kil

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Wolfgang Kil


Terrain großer Hoffnungen

Nationalstadion in Warschau

Text: Kil, Wolfgang, Berlin

Am 8. Juni beginnt die Europameisterschaft mit dem Eröffnungsspiel im neuen Nationalstadion Polens. Warschau boomt auch ohne Fußball. Jedenfalls westlich der Weichsel, in jener Stadthälfte, die seit alters her Ort für die Regierung, für Handel und Kultur ist.
Auf der gegenüber liegenden Seite aber, im Stadtteil Praga, richten sich alle Hoffnungen auf das neue Stadion, ein gewaltiges Ufo für 58.000 Zuschauer, das am wilden Ostufer gelandet ist. Ein Reisebericht.

Unlängst wurde auf diesen Seiten die Renovierung des Warschauer Zentralbahnhofs gewürdigt. Die polnischen Staatsbahnen PKP, so war dort zu lesen, wären sich des kulturellen Wertes dieser „architektonischen Perle“ gar nicht bewusst und hätten den frisch renovierten Bau sogleich schamhaft mit Werbepostern verhüllt – wogegen die Architekten öffentlich protestierten, was zum Sieg baukultureller Vernunft geführt habe (Bauwelt 13.2012). Wer Warschauer Alltag kennt, dem wird die Unsitte des Verhüllens indes bekannt vorkommen – ist doch hier kein Bau ab einer gewissen Größe vor Verhängung gefeit. Von der „Ostwand“ bis zur zentralen Kreuzung Marszałkowska/Jerozolimskie verschwinden regelmäßig die einst stolzen Ikonen der Nachkriegsmoderne hinter gigantischen Reklametableaus. Im Hotel MDM, einem aufwändig sanierten Ensemble des sozialen Realismus, bewahrt nicht einmal der Denkmalstatus Mieter, Büroangestellte oder Hotelgäste vor trübem Dasein hinter textilverspannten Fenstern. Auch wenn Skeptiker argwöhnen, hinter den Bilderplanen sollen ungeliebte Architekturen allmählichem Vergessen anheimfallen: Hier geht es um Geld, um nichts weiter.

Beim Zentralbahnhof nahm die Affäre nun eine überraschende Wendung: Auf den offenen Brief der Architekten hin wurden empörte Bürger aktiv. Sie richteten ihren Protest aber nicht an die Bahn, sondern via Facebook direkt an jene schwedische Bekleidungskette, deren Werbefahnen den frisch erglänzenden Bau umflatterten. Die war es schließlich, die den Rückzug antrat und der Architektur zum ihr gebührenden Auftritt verhalf.

Im freiheitlich-neoliberalen Überschwang war in Polen Stadtplanung als Aufgabe kommunaler oder staatlicher Ämter für verzichtbar erklärt worden. Doch im so eröffneten Feld freier Interessenkollisionen können sich eben auch „Betroffene“ durchsetzen – wie zuvor schon im Fall des Hotels Intercontinental, dessen 40-geschossiger Turm den Bewohnern eines mitten in der neuen Downtown übrig gebliebenen Wohnblocks jeden Sonnenstrahl auf ewig verstellt hätte. Um ihr Projekt zu retten, schnürten die Investoren die untere Hälfte ihres Turms diagonal um fast die Hälfte ein und fingen die nun gefährlich überkragende obere Hälfte mit einem unendlich langen Stelzenbein ab: Ein groteskeres Denkmal für nachbarschaftlichen Konsens ward lange nicht gesehen.

Downtown im Überbietungsrausch


Unter Profis kämpft man mit anderen Bandagen. Was in New York nicht gelang, macht Warschau möglich: In dessen Himmel darf Daniel Libeskind seine Signatur einschreiben, und wie von ihm zu erwarten, wird es kein klassisches Hochhaus, eher eine Skulptur: ein recht schmächtiger Turmkörper von einer sphärischen Schale umfangen, die an einen Schiffsbug denken lässt oder ein Wappenschild. Am Rohbau waren die geschossweisen Versprünge des Traggerüsts gut zu erkennen, lauter eindrückliche Beweise für den kompromisslosen Formwillen des Meisters. Dabei ist Libeskind gar nicht der erste, der hier, zwischen Zentralbahnhof und Platz des Ghettogedenkens, von braver Tektonik nichts hält. Die ganze Emilia-Plater-Straße entlang tanzen und taumeln die Bürokisten wie im Delirium neureichen Übermuts. Diese buchstäblich „schrägen Vögel“ sind Teil eines Konzepts: Sie sollen den Kulturpalast, der jahrzehntelang das Panorama Warschaus dominierte, durch Umzingelung neutralisieren. Konnte man Stalins Machtgeste schon nicht durch Abriss verschwinden lassen, so soll sie doch wenigstens im Rudel weiterer „Himmelsstürmer“ verblassen. Bislang schlug die Strategie eher ins Gegenteil aus, denn Lew Rudnews Neoklassizismus behauptet sich zwischen all den banalen Versicherungs- und Hoteltürmen jüngeren Datums recht vorteilhaft. Auch Libeskind würde mit atektonischer Ex­travaganz allein gegen den Moskauer Kollegen nichts ausrichten, doch rückt er dem einstigen Solitär so respektlos nahe, dass er die eben noch klar lesbare Silhouette der Downtown verwischt. Ein trauriger Sieg, der da über ein ungeliebtes Erbe errungen wurde. Spötter monieren, dass nach dem aufdring­lichen „Geschenk“ des Sowjetdiktators es heute wiederum fremde Mächte sind, die sich in Polens Metropole Denkmäler setzen. Da aber, wie Jakub Szczesny anlässlich des Europan-Wettbewerbs im Stadtteil Praga klagte (Bauwelt 15–16.2012), bei Renditen von dreihundert Prozent selbst der Himmel keine Grenze mehr setzt, wird einen Steinwurf weit neben Libeskinds Appartement-Tower schon am nächsten Rekordhalter betoniert. Vom Dach des Wolkenkratzers an der Twarda-Straße soll dann, glaubt man dem Bauschild, der Kulturpalast wie ein Gartenzwerg wirken. Architekt des neuen Höhenwunders ist Helmut Jahn.

Museum sucht Bleibe


Jener bereits erwähnte Wohnblock mit der renitenten Belegschaft war schon immer von zu nahen Nachbarn geplagt, weshalb man seine unteren Geschosse nur als Büros nutzte, und zwar für die Verwaltung des Möbelhauses „Emilia“, das mit klarer Glasfront und markantem Trapezfaltendach sich wie ein Relikt lange verflossener Zeiten zwischen all die Erektionen der Neuzeit duckt. Noch immer werden zur Straße hin Möbel verkauft, doch in den rückwärtigen Büroetagen hat ein Hoffnungsträger Unterschlupf gefunden: das 2005 gegründete Museum für zeitgenössische Kunst. Dessen Mannschaft bereitet sich mit Geduld und kuratorischer Phantasie auf den eigentlichen Start in einem künftig eigenen Haus vor. Den Wettbewerb für das neue Museum hatte Christian Kerez aus Zürich gewonnen. Dessen wuchtige Raumgesten sorgten in Warschauer Kunstkreisen für heftigen Streit (Bauwelt 11.2007). Nun droht dem Projekt, das schon seit Monaten im Bau sein sollte, das Scheitern von unerwarteter Seite: Unter den Museumsfundamenten soll eine neue U-Bahn-Linie verlaufen, und für die haben gerade – just im Eurofußballsommer – erste Aushubarbeiten begonnen. Skeptiker unter den Museumsleuten sehen die Chancen für ihren versprochenen Neubau schwinden, sie haben deshalb eine Alternative ins Gespräch gebracht: Warum nicht das Möbelhaus ganz übernehmen? Dessen Verträge laufen demnächst aus, Flächen und Raumhöhen der Verkaufsgeschosse sind für Präsentationen geeignet, zwischen den Bauteilen führen zwei filigrane Brücken über einen zauberhaften Hof. Es würde also ein schönes Exemplar jener immer noch umstrittenen Bauepoche bewahrt und, nicht zuletzt, ein Signal gesetzt für einen in vielerlei Hinsicht zeitgemäßen Museumsbetrieb.

Seitenwechsel Praga

Es ist schwer, sich in Warschau an historischen Baustilen zu orientieren. Westlich der Weichsel sind nur wenige Gebäude der systematischen Zerstörung durch die deutsche Wehrmacht entgangen. Trotzdem vermochte ein ehrgeiziger, undogma­tischer Aufbauwille neben der pittoresken Altstadt ein wahrlich urbanes Kontinuum europäischer Stilepochen zu reproduzieren, dem man die Neugeborenheit aus der Nachkriegszeit nur selten ansieht. Um authentische „Geschichte zum Anfassen“ zu finden, muss man über die Weichsel hin­über nach Praga fahren. Wo zwischen rußigen Fabriken die abgelederten Mietskasernen stehen. Wo auf engen Hinterhöfen neben kleinen Marienaltären an Motorrädern geschraubt wird. Wo auf tristen Brachen Markthändler all den Ramsch ausbreiten, der den Hauptstädtern vom Westufer peinlich ist. Praga – das ist „der Osten“, nicht nur als andere Stadthälfte, sondern habi­tuell. Aber Praga ist auch Terrain großer Hoffnungen. Kaum sickerten in den stark perforierten Gründerzeitvierteln die üblichen Verdächtigen ein, Studenten, Künstler, „Kreative“, stie­-
gen die Grundstückspreise. Doch dem Zugriff des schnellen Geldes stehen unklare Besitzverhältnissen entgegen. Wer die neunziger Jahre in Ostdeutschland erlebt hat, kann sich ausmalen, was für eine Spekulationsblase sich da über dem Proletarierkiez zusammenbraut: Jegliches Bauen kommt zum Stillstand, Verfall beschleunigt sich, trotzdem werden Mieten für Normalverdiener bald unerschwinglich. Leere Häuser nagelt man einfach zu. Alles wartet auf einen Befreiungsschlag.

Den soll jetzt das Nationalstadion bringen. Patriotisch weiß-rot drapiert, ist die ausladende Korbfigur weithin sichtbar, besonders gut aber von der noblen City: Endlich, so darf man hier deuteln, haben Fortschritt und Zivilisation auch da drüben Fuß gefasst – selbst wenn in lauen Nächten am wilden Ostufer noch die Lagerfeuer brennen. Natürlich wurde die Standortfrage anders entschieden: Die aus leichten Masten und Seilen konstruierte Arena thront auf dem alten Warschauer Stadion „Dziesi ciolecia“ (übersetzt: „Zehnter Jahrestag“). Das war ein riesiger ovaler Erdwall aus den Trümmermassen der Innenstadt, der aber nur wenig genutzt, dafür ab 1990 als größter Basar Osteuropas berühmt wurde. So dankbar die Stadt­väter dem Wettbewerbssieger Volkwin Marg (in ARGE mit JSK Architekci und Schlaich Bergermann und Partner) für die Idee des Draufsetzens waren, so unerbittlich forderten sie dann, bei den Bauarbeiten das alte Stadion möglichst gar nicht anzutasten – aus Pietät gegenüber womöglich dort mitverschütteten Opfern der Krieges.

Die eigentliche Erfolgsidee des Neubaus wird wohl erst nach dem EM-Sommer an die Öffentlichkeit dringen: Dies ist eine Multifunktionsarena, in der man unter anderem auch Fußball spielt. Dank Seilnetzdach und beweglichem Membransegel offen oder geschlossen nutzbar, lässt ein massiver Boden unterm Wechselrasen neben Popkonzerten sogar Veranstaltungen mit schwerer Technik, also Motorshows zu. Und dann sind da, hinter den steilen Sitzrängen, 20.000 Quadratmeter vermietbarer Fläche für Büros und Konferenzen, mit eigenem Catering und, je nach Lage, direktem Blick vom Schreibtisch aufs Spielfeld! Wie es heißt, sind alle Flächen schon vergeben.

Von solcher Geschäftigkeit ermutigt, liegen Pläne für eine Busi- ness-Zone gleich hinter dem Stadion natürlich vor. Doch je visionärer, desto aussichtsloser, denn Pragas Zukunft hängt nicht von noch mehr Investorengeld ab, sondern von einer Klärung der Besitzrechte im Bestand. Und wenn die dann nicht kon­trolliert, d.h. in kleinen Schritten erfolgt, wird jede erhoffte Sanierung krasse Gentrifizierung bewirken. Man möchte den wechselseitigen Blick nach Berlin empfehlen – am Prenzlauer Berg haben sie das gerade durch. 
Fakten
Architekten GMP, Hamburg
aus Bauwelt 20.2012
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