Bauwelt

Denkmal oder Anbau?

Unter Missachtung elementarer Grundsätze des Denkmalschutzes soll das bauhistorisch bedeutende Maison du Peuple in Clichy ruiniert werden. Offenkundig stehen die Begehrlichkeiten der durch die Planungen für Grand Paris angeheizten Immobilienspekulation über dem Gesetz.

Text: Toulier, Bernard

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Das Hochhausprojekt auf dem Maison du Peuple von 1935–39 in Clichy bei Paris.
Abb.: Groupe Duval

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Das Hochhausprojekt auf dem Maison du Peuple von 1935–39 in Clichy bei Paris.

Abb.: Groupe Duval


Denkmal oder Anbau?

Unter Missachtung elementarer Grundsätze des Denkmalschutzes soll das bauhistorisch bedeutende Maison du Peuple in Clichy ruiniert werden. Offenkundig stehen die Begehrlichkeiten der durch die Planungen für Grand Paris angeheizten Immobilienspekulation über dem Gesetz.

Text: Toulier, Bernard

Die Geschichte des Maison du Peuple in Clichy nordwestlich von Paris ist eng verbunden mit der Ära der Front Rouge und der sozialistischen und kommunistischen Parteien der „Ceinture rouge“, des sogenannten Roten Gürtels der Außenbezirke um Paris. Der 1935–1939 entstandene Bau geht auf die Initiative des damaligen Bürgermeisters zurück, den bereits bestehenden Markt unter freiem Himmel überdachen zu lassen. Den Zuschlag erhielten die Architekten Eugène Beaudoin und Marcel Lods, der Tragwerksplaner Vladimir Bodiansky und Jean Prouvé. In seiner innovativen Vielschichtigkeit ging das umgesetzte Bauprogramm über die ursprüngliche Ausschreibung weit hinaus: Mit Hilfe beweglich konzipierter Vorrichtungen konnte die Aufteilung im Innern vielfach variiert werden, um zusätzlich zum Betrieb der tagsüber geöffneten Markhalle weitere Nutzungen zu ermöglichen. Abends sowie an Wochenenden oder Feiertagen stand ein großer Festsaal für 2000 Personen zur Verfügung, der auch für politische Veranstaltungen genutzt wurde. Dank Bodianskys kongenialer Konstruktion der mobilen Trennwände, des ebenfalls mobilen Saalbodens sowie des fahrbaren Dachaufsatzes konnte der Markt im Erdgeschoss quasi „unter freiem Himmel“ abgehalten werden. Voraussetzung für die enorme Wandlungsfähigkeit war eine minutiös durchdachte Bauweise mit mechanischen Systemen. Ungewöhnlich war auch der Einsatz industriell vor­gefertigter Bauteile aus Stahl und Formteilen aus Blech. Alle Elemente wurden von Jean Prouvé konzipiert und industriell gefertigt.
Beinahe ein halbes Jahrhundert stand der Bau leer. Fassaden und Tragwerk rosteten vor sich hin, die seitlichen Lichtgaden wurden verschlossen, der mobile Boden mit Beton zugegossen, die hölzernen Läden durch Aluminium-Vorrichtungen ersetzt. Erst 1984 folgte die Einstufung als Baudenkmal durch den Kulturminister Jack Lang. Aber es vergeht ein weiteres Jahrzehnt, bevor mit der Restaurierung begonnen wurde: Die großen Glasflächen in den Fassaden wurden durch wenig originalgetreue Paneele ersetzt, wohingegen die vorgefertigten Bauteile an den rückwärtigen Fas­saden und die Markisen möglichst authentisch nachgebaut wurden. Mit dieser Restaurierung gelang es, sich dem Ursprungszustand in der Außenansicht weitgehend anzunähern. Im Innern wurden Teile des mobilen Inventars wiederhergestellt, darunter der fahrbare Dachaufsatz und die beweg­lichen Trennwände. Hinsichlich der Nutzung dachte man zum Beispiel an ein Tagungszentrum oder eine Mediathek. Doch letztlich erwiesen sich alle Nutzungen als unvereinbar mit dem Gebäude. Sie würden den Charakter des Baus und seiner variablen Vielschichtigkeit nicht gerecht.
Von den meisten Anwohnern wurden die Werte des Gebäudes wenig geschätzt. Die Ideen der Front Rouge für den Industriestandort von damals passen nicht mehr in das Clichy von heute. Die Adelung zum Monument historique stößt daher auf Unverständnis. Außerdem weigerte sich die deutlich überschuldete Gemeinde, ihren Pflichtanteil zur Finanzierung der Abschlussarbeiten für die Restaurierung zu tragen. Weil die erforderlichen Mittel fehlen, verharrt der Bau bis dato im Dornröschenschlaf – abgesehen vom Markt im Erdgeschoss.
Vor zwei Jahren bot das Projekt „Inventons la Métropole du Grand Paris“ mit zahlreichen Großprojekten endlich den Anlass für die Gemeinde, die Verantwortung für das sperrige Maison du Peuple abzugeben, befördert durch die neoliberale Gemeindepolitik des Bürgermeisters Rémi Muzeau. Angenehmer Nebeneffekt: die Entlastung des Gemeindebudgets – denn wer, wenn nicht ein Investor, wird die Finanzierung tragen?
Das Ende 2017 gekürte Siegerteam eines Wettbewerbs der Investorengruppe Duval heißt Rudy Ricciotti mit LBA + Holzweg Architectes. Nahe eines künftigen Bahnhofs von Grand Paris ist ein 96 Meter hohes Hochhausvorgesehen, das unmittelbar hinter – und über – dem Maison du Peuple errichtet werden soll. Neben einem Restaurant und einem Vier-Sterne-Hotelmit 100 Zimmern sollen in den obersten Geschossen etwa einhundert Luxuswohnungen mit Panoramablick über die Stadt entstehen. Der Turm konnte leicht durchgesetzt werden. Die derzeit noch geltende Auflage einer Traufhöhe von maximal 21 Metern wird durch eine simple Änderung im Bebauungsplan umgangen. Man klassifiziert das Areal als ein neues „Entrée in die Hauptstadt“, in der ein Bauen bis zu beinahe dem Vierfachen der derzeit erlaubten Höhe möglich ist. Wie von Zauberhand wird das Viertel damit neu kalibriert. Von einer Verschattung der umliegenden Wohngebäude ist aber ebenso wenig die Rede wie von Auswirkungen auf das Maison du Peuple, das vom Tageslichteinfall über die Oberlichter lebt.
Um gut Wetter zu machen, hat sich die Bürogemeinschaft der Talente des Denkmalschützers und Architekten Jacques Moulin versichert, dem neuen „Restaurator“ des Maison du Peuple. Hierfür ist ein ambitioniertes, von Duval mitgetragenes Nutzungsprogramm vorgesehen, das mit einem modischen Lifestyle-Mix aus Kulinarik und Kultur aufwartet. Das erste Obergeschoss ist der Kultur vorbehalten, vorgesehen sind Wechselausstellungen, Kino, Konzertbühne und Ausstellungsflächen für Sammlungsbestände des Centre Georges Pompidou.
An sich ist Ricciotti als vehementer und wortgewaltiger Fürsprecher von Auflagen und Normen bekannt, etwa in seinen Streitschriften zugunsten streng gefasster Umwelt-Richtlinien. Hier allerdings fragt man sich, ob er nicht doch den Verlockungen des Immobilienmarktes erlegen ist. Seine Haltung wirkt durchaus zwiespältig: Er tritt gerne als Verteidiger des Kulturerbes auf, vor allem in seiner Heimatstadt Marseille, lässt aber in Clichy die Auflagen hinsichtlich eines Baudenkmals eklatant außer Acht. Es geht um ein Stück Architekturgeschichte, das buchstäblich in den Schatten eines Hochhauses gestellt und zu einem Lifestyle-Spielplatz werden soll.
Aus dem Französischen von Agnes Kloocke

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