50 Jahre Berliner Philharmonie!
Text: Wang, Wilfried, Berlin
50 Jahre Berliner Philharmonie!
Text: Wang, Wilfried, Berlin
Am 15. Oktober 1963 wurde Hans Scharouns Meisterwerk eingeweiht. Unser Autor würdigt ein Bauwerk, das die „Leichtigkeit der Demokratie“ wie kaum ein anderes verkörpert. Aber könnte solch ein Kulturprojekt heute in Deutschland überhaupt noch realisiert werden?
Es gibt viele Menschen, die der Meinung sind, unsere Epoche könne und dürfe alles: die Bestandteile des Lebens und jedes anderen Phänomens erfassen und sie nach Eigensinn zusammenstellen; der Technologie das Ausputzen aller von Menschen selbst geschaffenen Probleme anvertrauen. Dabei unterschlägt dieser Allmachtglaube die Voraussetzung für die Entstehung aller Dinge: die Existenz einer gesellschaftlich-kulturell geteilten Ambition und das daraus abgeleitete Handlungsbewusstsein.
Unsere Epoche kann eben nicht alles. Unsere Entscheidungsträger versagen in zentralen Fragen: von der Klimakatastrophe bis zu den ungebändigten Banken. Und Deutschland kann nicht mehr alles: von Flughäfen und Bahnhöfen bis zu Kulturbauten. Noch schwerwiegender: Eine vermeintlich republikanisch-demokratische Gesellschaft, die längst verschollene Schlösser rekonstruiert, ist geistig einfach nicht mehr in der Lage, heute noch eine Scharounsche Philharmonie zu erdenken.
Welche gesellschaftlich-kulturelle Ambition teilten aber die Entscheidungsträger in den fünfziger Jahren, die über den Neubau eines Konzertsaals für das Berliner Philharmonische Orchester zu befinden hatten? Nach dem Zweiten Weltkrieg musste man ein anderes Deutschland wollen. Scharouns Entwurf für die Philharmonie wurde erst nach schwieriger Debatte unter den Juroren ausgewählt. Heute gilt sie als Symbol eines neuen Deutschlands.
Zeltähnlich, von den Berlinern „Zirkus Karajani“ genannt, eine Anti-Kuppel, versammelt die Philharmonie die Zuhörer um die Musiker herum. Scharoun spricht von Weinbergen, die das Orchester umgeben; eben nicht eine undifferenzierte Masse, sondern eine Gruppe von Menschen: Musiker und Zuhörer nicht im Gleichschritt, sondern im Gleichmaß, nicht auf Konfrontation – hier Bühne, da Saal –, sondern im Miteinander, gleichwertige Facetten einer musischen Gemeinschaft.
Und ein offenes Geheimnis: Im Saal selbst erreicht man jeden Sitzplatz. Gibt es freie Plätze in den besseren Blöcken, werden diese von alten Hasen auch kurz nach Schließung der Türen über die internen Treppen eingenommen; das Einlasspersonal kann nicht darauf reagieren. In welchem Konzertsaal, eingeschlossen aller Philharmonie-Kopien, gibt es das noch einmal? Beurteilt man Konzertsäle unter diesem Gesichtspunkt, wird klar, wie eindeutig jeder Saal das jeweilige Klassenbewusstsein abbildet.
In der Philharmonie spielt die fast überall bestehende freie Sicht von jedem Punkt aus auf jeden anderen Punkt im Saal eine entscheidende Rolle. Man erspäht die freien Sitzplätze von jedem Standort aus. Die Philharmonie ist die Umkehrung, die Revolution des Panoptikums: Der Dirigent steht zwar im Zentrum, aber die Zuhörer haben ihn im Blick und auch alle anderen Punkte im Saal. Die klassische zentralperspektivische Bühne ist weg. Die Weinberge sind eine a-perspektivistische, kubistische Anamorphose: Jeder Sitzblock bildet einen Fokus, zusammen überlagern sie sich im Raum des Orchesters.
Musik in der Mitte, Gleichmaß und Miteinander von Zuhörern und Musikern, facettierte Sitzblöcke, unmittelbar im Geschehen, und freier Zugang zu allen Sitzplätzen sind die innovativen Eigenschaften der Philharmonie. Scharoun gestaltet sie mit einer Nonchalance, die dem Ganzen eine bis dahin nicht gekannte beiläufige Leichtigkeit gibt.
Dabei ist Scharouns Idee alles andere als beiläufig. Sie ist klar. Geprägt von seinen Wettbewerbsentwürfen zu diversen Theatern, von Piscators Politischem Theater der dreißiger Jahre, mit seinen verschiedenen, gleichzeitigen Projektionen und Handlungen, von der kristallinen Stadtkrone, wie sie die Mitglieder der „Gläsernen Kette“ nach dem Ersten Weltkrieg erträumten, erhielt die neue Demokratie mit der Philharmonie ihren wohl wichtigsten Bewusstseinsort.
Der Zugang zum Bauwerk wurde bewusst asymmetrisch angeordnet. Im labyrinthisch erscheinenden Foyer mit seinen etlichen Treppen, Pfeilern, Stützen, tiefen und kurzen Durchblicken gibt es keine klassischen Raumachsen. Die Nervosität jedes zu spät Kommenden wird durch dieses Labyrinth potenziert. Der Gesamtkomposition des Foyers zielt auf den Effekt der Steigerung der Vorfreude auf das Konzert. Dagegen leert sich der Saal in den Pausen und am Ende des Konzerts in wenigen Minuten. Was beim Hinaufsteigen auch mit den Augen erklommen werden muss, verläuft beim Hinabgehen wie ein Fluss von Menschen. Der nächste Treppenlauf ist immer gleich im Blickfeld. Das vermeintliche Labyrinth wird hier zu einer architektonischen Interpretation von Terrassen und Flussläufen.
Vor fünfzig Jahren wurde Hans Scharouns Schlüsselwerk nach sieben Jahren Planungs- und Bauzeit eröffnet. Zunächst als Erweiterungsbau an das Joachimsthalsche Gymnasium gedacht, entschied das Abgeordnetenhaus 1959, die Philharmonie als ersten Baustein des heute immer noch nicht abgeschlossenen Kulturforums an der Sektorengrenze zu Ostberlin zu errichten. Es war als Angebot an Gesamtberlin gedacht; noch während der Bauzeit wurde die Mauer errichtet. Die goldgelb leuchtende Philharmonie wurde über die Jahre zur Stadtkrone. Nach der Wiedervereinigung machten unverhältnismäßig große und unsensible Kommerzbauten am Potsdamer Platz der Philharmonie ihren gesellschaftlich-kulturellen Anspruch streitig. Auch im Inneren zog jene neoliberale Mentalität ein, der das Maß an Verpflegung nicht ausreichte. So wurde der ehemalige Pflanztrog um den Doppelbock im Foyer mit einer Champagnerbar umwickelt. Empfindet der Hauptsponsor keine Scham angesichts der Größe seines vollplastischen Logos?Scharoun selbst hätte wohl nichts dagegen gehabt. Die Idee des Bauwerks trägt ja, die ist nicht kaputt zu kriegen. Scharouns Gleichmut tröstet. Er als Ur-Sozialdemokrat öffnete mit seiner Philharmonie unseren Blick auf eine Leichtigkeit der Demokratie, die vor fünfzig Jahren den Menschen Mut machte und die uns heute noch an die schwer erkämpften demokratischen Grundwerte erinnert. Das heutige Deutschland ist ein selbstzufriedenes, sattes, pampiges und behäbiges Land geworden, das mehr Geld in die Rekonstruktion von Schlössern investiert als in die Vervollständigung des Kulturforums. Angesichts dessen erscheint es heute wie eine glückliche Fügung, dass Scharouns Philharmonie überhaupt verwirklicht wurde, heute gäbe es für ein derartiges revolutionäres Bauwerk weder die Intelligenz, die Ambition, noch den Mut oder die Weitsicht.
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