Bauwelt

dupli.casa



Text: Marquart, Christian, Stuttgart


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    David Franck

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Die weiße Villa präsentiert sich wie ein überdimensioniertes Möbel – eine Wellness-Schatulle, am Rande eines Dorfs zwischen Ludwigsburg und Marbach positioniert.
In den Tagen, als Fernsehen in Phasen geistiger Erschöpfung noch geholfen hat, lernten wir über die TV-Serie „Dallas“ eine Industriellenfamilie kennen, die beschaulich auf dem Lande wohnte und gleichzeitig die Petrodollars im urbanen Ambiente texanischer Wolkenkratzer verdiente. Ihre Ranch „South Fork“ aber, ein repräsentatives Anwesen fernab der Metropole, war heillos verschachtelt. Ähnlich verwinkelt und ländlich gelegen muss man sich auch das Haus jener im Schwäbischen, genauer: im Großraum Stuttgart beheimateten Industriellenfamilie vorstellen, für die der Architekt Jürgen Mayer H. eine neue, vor allem großzügiger und plausibler organisierte Villa entworfen und gebaut hat. Arbeitstitel: „dupli.casa“. Aber so morsch war die alte Heimstatt, die zu ersetzen war, gar nicht: 1984 fertiggestellt, wurde sie über gut zwei Jahrzehnte hinweg mehrfach erweitert; die Räumlichkeiten verteilten sich über neun Ebenen. Dann mag die Familie es leid gewesen sein, im­mer wieder auf einer Baustelle zu leben; andererseits war ihr das alte Haus lieb genug, um ein wenig vom vertrauten Raumgefühl in das neue Heim hinüber zu retten.
Obwohl Jürgen Mayers Wurzeln ebenfalls in der schwäbischen Provinz liegen, ist die Formenwelt seiner Bauten doch dezidiert städtisch, man könnte sogar sagen: kosmopolitisch. Erste Aufmerksamkeit erregte sein Stadthaus Ostfildern (Heft 14.2002); auch an seiner Hochschulmensa in Karlsruhe (Heft 8.2007) und einem Bürogebäude in der Hamburger City kam die Fachkritik nicht vorbei: Architektur aus dem Geist einer im Kern retromodernen Ästhetik, die aber mit zeitgemäßen Mitteln und Materialien entworfen und realisiert wird und deshalb immer auch aktuell und zeitgenössisch wirkt. Zügig hat der Architekt eine wiedererkennbare, gleichsam markentaugliche architektonische Handschrift bzw. Zeichensprache entwickelt. Er setzt sie ähnlich konsequent ein wie der amerika­nische Altmeister Richard Meier; ist dessen Architektur noch der Klassischen Moderne verpflichtet, so arbeitet sich Jürgen Mayer H. an der Nachkriegsmoderne ab.
Das schwäbische „dupli.casa“ prunkt mit urbanen, theat­ralischen Gesten. Es könnte in Marbella stehen oder einem Bond-Film als Kulisse dienen. Aber es ist auch kein Landsitz im klassischen Sinne. Der Bau präsentiert sich wie ein überdimensioniertes Möbel – eine Wellness-Schatulle, am Rande eines Dorfs zwischen Ludwigsburg und Marbach positioniert, zwischen Siedlungsbereich, landwirtschaftlichen Freiflächen und einem Naturraum am Neckarufer. Hangaufwärts steht ei­ne stillgelegte Fabrikationshalle, dahinter eine banale Wohnbebauung, die in ein Gewerbegebiet übergeht.
Der Architekt plante die neue Villa gewissermaßen im „Fußabdruck“ der alten. Möglichst viele Räume sollten in den Genuss der schönen Aussicht kommen, die das Hanggrundstück bietet: über den Neckar hinweg auf die Stadt Marbach. Die alte Raumstruktur des Gartengeschosses mit großem Hallenbad wurde hinter der Fassade des Neubaus im Wesentlichen beibehalten. Darüber, im Erd- und Obergeschoss, wurde die unregelmäßige Grundrissgestalt des Vorgängerbaus räumlich modifiziert und schließlich um 225 Grad gedreht.
Die dreistöckige Villa hat jetzt ein Flachdach mit großem Oberlicht über der Lobby und bietet sich innen und außen als architektonische Skulptur dar. Das dritte Geschoss kragt weit über die unteren hinaus. In ihrem plastischen Aufbau zeigen die Gebäudefassaden eine eigenwillige, „virtuelle“ Statik aus dickem, schräg angeschnittenem Mauerwerk, das tragende Funktionen optisch andeutet, indem seine dynamisch geführten Linien den Kraftverlauf nach unten abgeleiteter Traglasten metaphorisch plausibel vortäuschen.
Wieso vortäuschen? Wie vor einem halben Jahrhundert der Industriedesigner Raymond Loewy seine Maschinen verpackte, so „verpackt“ auch Jürgen Mayer H. das konstruktive Innenleben des Hauses mit einer Hülle aus üppigen Rundungen. Die schlanke Stahlbetonkonstruktion mit kantiger Geometrie verschwindet unter einem dicken Mantel aus modellierten Mineralschaumplatten, die nach Maßgabe des „futuristischen“ Designs – Form folgt bei Jürgen Mayer H. einer kalkulierten Eindrücklichkeit! – präzise geschnitten und schließlich verputzt wurden. Überdies isolieren sie das Haus, das durch Fernwärme beheizt wird. Eine dünne Beschichtung aus Polyurethan schützt die bewetterten weißen Oberflächen und die dunkel kontrastierende Rahmung der Fenster aus glasfaserverstärktem Kunststoff; so sind die unvermeidlichen Schmutzfahnen leicht abzuwaschen.
In den Konzept-Diagrammen markieren grüne Pfeile ei­nen „Goethe-Schiller-Blick“; gemeint ist damit eine Blickachse schräg über den Fluss, die auf das Schiller-Nationalmuseum zielt und auf das Deutsche Literaturarchiv. Warum Goethe, zu dem Schiller sich nicht in seinem Geburtsort Marbach, sondern erst viel später in seinen Weimarer Jahren gesellte, gleich auch in den „Blick“ mit einbezogen wurde, bleibt ein kleines Rätsel. Man kann aber schon sagen, dass die Lage der Villa mit ihrem großzügigen Garten, den Landschaftspanoramen und dem Blick auf Marbachs Stadtvedute den architektonischen Entwurf wesentlich bestimmte.
Nicht die ungewöhnliche äußere Erscheinung der Villa, sondern das Erwandern des Hauses weckt die Ahnung, dass das Wohnen in größerem Maßstab vielleicht doch eine Kunst ist, die man erst erlernen muss. Rund 1200 Quadratmeter  Wohn­fläche sind auf einer Grundfläche von knapp 570 Quadratmeter über die drei Geschosse verteilt: Wegen der Schwimmhalle ist im Gartengeschoss nur für zwei Appartements Platz, die von den Kindern der Familie bewohnt werden. Im Erdgeschoss fließen die Räume ineinander, nur beiläufig organisiert und getrennt durch vier unterschiedlich ausgelegte „Service-Kerne“ mit Küchentrakt, Toiletten, Treppenhaus, Aufzug und einer Medienwand; diese schiebt sich zwischen den üppigen Wohn­bereich und einen etwas intimeren Raum, funktionell eine Kreuzung zwischen Arbeitszimmer und Bibliothek.
Die Lobby ist das Zentrum des ganz auf Repräsentation, Wirkung und offene Weite ausgelegten Erdgeschosses. In diesem Raumkontinuum wird die atmosphärische Spannbreite von Behaglichkeit bis hin zur förmlichen Festlichkeit insze­nierbar; edle Materialien in nobler Verarbeitung und kostbar wirkende Accessoires verstärken den Effekt. Dass es sich hier um ein neuzeitlich-demokratisches Hauswesen handelt und nicht um ein feudales, lässt sich vor allem am Speisebereich ablesen, der ganz in Weiß gehalten ist: An einer großen Tafel finden mehr als ein Dutzend Personen Platz, aber das „Herz“ des Raumes bildet eine frei stehende Küchenzeile, die auch als Büffet-Bar dienen kann, bei Mahlzeiten in kleinerem Kreis.
Vier große Zimmer im Obergeschoss mit gerundeten Ecken und ein geräumiges Bad in der Mittelachse der Gartenfront umfassen den privaten Bereich. Die Erschließung der Räume entwickelt sich um den Luftraum über der Lobby. Einbauschränke sorgen für intakte, „geschlossene“ Raumbilder.  
Das Haus hat keine echte Rückseite; dort jedenfalls, wo kein Panorama eindrückliche Fernsichten bietet, weitet sich bis hin zum Fischteich eine große Terrasse, vordem die Zufahrt zur alten Garage. Für jene wurde zur Straße hin Ersatz geschaffen. Die alte, nunmehr großzügig verglast, wird jetzt von der Hausherrin als Atelier genutzt.



Fakten
Architekten J. Mayer H., Berlin
aus Bauwelt 43.2008
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