Bauwelt

Warschau


Wie sanieren im Umfeld der Europameisterschaft?


Text: Szczęsny, Jakub, Warschau; Spix, Sebastian, Berlin


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    Foto: Stadtverwaltung Warschau

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    1. Preis: Barbara und Marcin Skrzypczyk mit Katarzyna Chabanne

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Zur Weichsel hin liegt der zackige Stern des neuen Fußballstadions. Etwas weiter östlich, eingekreist von einem kaum unüberwindbaren Bogen aus Bahngleisen, schließt sich das Mischgebiet des Stadtbezirks Praga an.
Die EM 2012 wirft ein Schlaglicht auch auf das hier befindliche Europan-Areal. Wie kann, wie soll sich die Stadt im Umfeld des Großereignisses verändern? Das Wettbewerbs-Programm setzt auf Alternativen zu der von Prestigeprojekten getriebenen Transformation – ein mutiger Schritt. Unser Autor, selbst Juror der Europan-Konkurrenz, ist vom preisgekrönten Entwurf begeistert. Er bleibt aber radikal skeptisch, was die Umsetzung betrifft.

Radikales Umdenken | Gleich vorab ein Zitat aus dem Juryprotokoll zum preisgekrönten Ent­wurf: „Trotz der Schwächen des Entwurfs – einer allzu vagen Detaillierung möglicher Umsetzungsszenarios – überzeugt die Jury der Fokus auf das langfristige, strategisch ausgerichtete Konzept, das den Stellenwert der lokalen Entscheidungsträger als treibende Kraft für den künftigen Stadtentwicklungsprozess in den Vordergrund rückt. Die vorgeschlagenen Dimen­sionen lassen Raum für private wie für kooperative Konzepte, ohne möglichen Veränderungen hinsichtlich der sozioökonomischen Rahmenbedingungen vorzugreifen.“
Diesem Kommentar möchte ich gleich noch eine Anmerkung hinterher schicken: Das Projekt „L-M-S Urban Scale“ war in meinen Augen die beste Antwort auf die Probleme des Standorts und ist auch für den gesamtstädtischen Kontext bedeutsam. Denn dieser Entwurf unterstreicht die Bedeutung einer langfristigen Planungsstrategie und einer engen Zusammenarbeit zwischen öffentlichem und privatem Sektor. Gleichzeitig verweist er auch auf den Stellenwert von Bürgerbeteiligung und ihrer außerparlamentarischen Vertreterorganisationen. Als ein in Warschau tätiger Architekt, der sich mit unterschiedlichen Interessengruppen auseinandersetzt, ist mir nur zu deutlich bewusst, dass ein solcher Ansatz ein radikales Umdenken der beteiligten Akteure erfordert. Wenn ich im Folgenden die dazu nötigen Veränderungen aufliste, so ist das zugleich eine Liste der Gründe, weshalb ein solches Projekt im heutigen Warschau NICHT umsetzbar ist. Zu allererst müsste sich die kom­munale Verwaltung dazu aufraffen, ihre Maßnahmen zu koordinieren – fraglos die „Achillesferse“ der Warschauer Stadtverwaltung. Dazu müsste sie ihre Rolle als starker (nicht: autori­tärer) Akteur anerkennen. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen neo-liberalen Grundeinstellung mit dem übergreifenden Trend, Verantwortung abzuwälzen und städtische Grundstücke, Einrichtungen und Dienstleistungen abzuverkaufen, ist das keineswegs selbstverständlich. Auch wären neue Verfahren nötig, um eine solide soziale Bestandsaufnahme ins Spiel zu bringen: Stadtplanung sollte sich mehr an strategischen Entwicklungskonzepten statt an Bauvorschriften oder Masterplänen orientieren und von realis­tischen Machbarkeitsstudien flankiert werden. Private und Non-Profit-Organisationen müssten davon abkommen, den Verwaltungsapparat als trägen Dickhäuter (oder als heilige Kuh) wahrzunehmen. Investoren in spe (möglicherweise koordiniert von der Verwaltung) müssten ihre Haltung gegenüber den künftigen Nutzern revidieren und an Stelle starrer Standardimmobilien ein individuell verhandeltes – und verhandelbares – Produkt anbieten. Auch müsste sich die Wirtschaft von ihrer hemmungslosen Goldgräbermentalität verabschieden: Die Renditen für Immobilieninvestitionen in Polen, insbesondere in Warschau, sind mit Margen von bis zu 300 Prozent die höchsten in ganz Europa. Gleichzeitig haben die staatlichen Träger die Maßnahmen bezüglich des sozialen und kommunalen Wohnungsbaus seit 1990 in stillschweigender Übereinkunft auf Eis gelegt. Laut Angaben des Polnischen Instituts für Flächen- und Wohnungswirtschaft (Gospodarski Prze­strzen­nej i Mieszkalnictwa) finanzieren Investoren 87 Prozent aller Neubauten im Wohnungssektor, den Rest verantworten private Eigentümer,
und nur ein minimaler Prozentsatz entfällt auf Genossenschaften oder kommunale Träger. Schließlich müssten sich die Bürger auf ein Experiment einlassen, das Zeit und Kraft kostet – nicht unbedingt naheliegend, wenn man bedenkt, dass die Generation der nicht mehr ganz jungen Erwachsenen in den produktivsten Jahren die Zielgruppe für derartige Neuerungen ist. Zugegebener Maßen bin ich aber in diesem Punkt hoffnungsfroh: In den vergangenen zwanzig Jahren wurde bei den Großstädtern ein stetig wachsendes Selbstbewusstsein spürbar, was sich an einem Ansteigen der Aktivitäten im dritten, dem gesellschaftlich-integrativen Sektor ablesen lässt. Kultur, einschließlich Stadtplanung und Architektur, steht dabei ganz oben.
Die verzweifelten Anstrengungen der Kommunen, öffentliche Gelder in ein ‚Place-Branding‘ zu investieren, etwa beim Bau der Stadien für die polnisch-ukrainischen Europameisterschaften, führen in die Irre. So lässt sich die Identität nicht stärken. Wichtiger wäre etwa, den Bürgern ein anderes Wohnraumangebot bereitzustellen, sodass sie sich nicht mehr auf Bankkredite mit Laufzeiten von vierzig Jahren einlassen müssen – Alternativen zum überteu­erten Wohneigentum auf dem freien Markt gibt es so gut wie keine. Das Europan-Siegerpro­jekt, so mein Fazit, setzt einen großartigen Schritt in der Diskussion über die Zukunft der Stadtentwicklung: „Warschau, sei wieder mutig!“ Jakub Szczęsny
Praga, ein Stadtbezirk von Warschau mit etwa 260.000 Einwohnern, liegt östlich der Weichsel am Rande der Altstadt. Bei dem 175 Hektar großen Areal handelt es sich um ein ehemaliges Industriegebiet. Extrem beschleunigtes Wachstum setzte in Warschau in den letzten zehn Jahren einen urbanen Veränderungsprozess in Gang: Praga hat mit steigenden Einwohnerzahlen, anhaltender Migration, urbaner Zersiedelung, mangelhafter Verkehrsanbindung und Gentrifizierung zu kämpfen. Darüber hinaus veränderte die Errichtung des Stadions für die Fußball-Europameisterschaft die Nachbarschaft. Das sechs Hektar große Projektgebiet im Stadtteil Grochów, ein ehemaliger Standort der Luftfahrtindustrie, soll künftig besser mit der Innenstadt verknüpft werden – im Norden über die flankierende Bahn­strecke, im Süden über den angrenzenden Sportpark; vor allem aber geht es um soziale und kulturelle Strategien für das vernachlässigte Gebiet.
L-M-S Urban Scale | Warschau 1. Preis
Die Architekten verstehen ihr Konzept als Modell für eine langfristige Modernisierung. Sie konzentrieren sich dabei auf die Neuorganisation von drei markanten Planungsbereichen. Anhand der nördlichen „Verkehrszone“ soll das Areal über die flankierende Bahnstrecke mit der Innenstadt verknüpft werden, ein neues Eisenbahnmuseum soll die Anbindung zusätzlich verstärken. Mittels einer neuen Grünraum­planung für die Quartiergrenzen in der „Wohnsiedlungszone“ wird der fragmentierte Raum definiert. Abbruchmaterial aus der „Industriezone“ wollen die Planer recyceln und für den Bau neuer Gebäude lagern. Brauchbare Lagerhallen werden in neue Funk­tionsräume umgewandelt, auch das gehört zum Recycling. Zur Stärkung der orthogonalen Struktur des Stadtteils Grochów haben sich die Architekten vom antiken griechischen Stadt-Modell anregen lassen: Neue Quartiere mit paritätisch gleichgroßen Frei- und Gebäudeflächen sind rechteckig angeordnet und unterschiedlich gestaltet. Ob die Parzellen, wie vorgeschlagen, gemeinschaftlich von Bewohnern, Planern, Soziologen und der Stadtverwaltung mit neuen Wohn- Arbeits- und Freizeiträumen bebaut werden können, ist fraglich. Städtebaulich überzeugend ist die Betonung der Nord-Süd-Achse des Quartiers im Bereich „Small Scale“: Mit zwei Bezugspunkten an den Achsenenden wird der Parzellenteppich von einer neuen Hauptachse aufgeteilt und so revitalisiert. Im Süden soll eine alte Radrennbahn zu einem Freizeitpark, im Norden ein ehemaliger Standort der Rüstungsindustrie, in Anlehnung an das Dessauer Bauhaus gestaltet, zu einem Forschungs- und Kulturzentrum umgebaut werden.  Sebastian Spix



Fakten
Architekten Skrzypczyk, Barbara, Warschau; Skrzypczyk, Marcin, Warschau; Chabanne, Katarzyna, Warschau
Adresse Warschau, Polen


aus Bauwelt 15-16.2012
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