Bauwelt

Treehouses Bebelallee



Text: Seifert, Jörg, Hamburg


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    Foto: Dominik Reipka

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Anstatt die Zeilenbauten zu engen Blöcken zu verschließen, stockten blauraum Architekten den energetisch schwachen Bestand um 64 neue Wohnungen auf, wodurch das gesamte Quartier aufgewertet wurde.
Hamburg benötigt Wohnraum. Seit Jahren hinkt die Neubaurate dem Bedarf hinterher, die Mieten auf dem freien Markt zählen mittlerweile zu den höchsten in Deutschland, und die Zuzügler aus aller Welt verschärfen die Situation noch. Während die Finanzbehörde über einen Ideenwettbewerb Flächen für den Wohnungsneubau zu erschließen sucht, protestieren „Recht-auf-Stadt“-Aktivisten gegen leer stehende Büros und fordern deren Umwandlung in Wohnraum.
Unter diesen Vorzeichen haben blauraum Architekten im vergangenen Herbst die Nachverdichtung einer Wohn­anlage aus den späten 1950er Jahren abgeschlossen, die sich in der Nähe des Alsterlaufs befindet, etwa sieben Kilometer nördlich des Stadtzentrums. Nach einer Machbarkeitsstudie erhielt das junge Hamburger Büro im Jahr 2006 den Direktauftrag von der Robert Vogel GmbH & Co. KG – einem der großen Hamburger Immobilienunternehmen, das auch am Markt in den Vereinigten Staaten aktiv ist und in der Hansestadt mit Projekten wie „Dockland“ (von Bothe Richter Tehe­rani) oder dem eigenen, von Richard Meier entworfenen Firmensitz sein Faible für exklusive architektonische Lösungen unter Beweis gestellt hat.
Der Bestand der durchgrünten Wohnanlage in Alsterdorf setzt sich entsprechend dem damaligen Paradigma von der „gegliederten und aufgelockerten Stadt“ aus einer leicht aufgefächerten Reihung von fünf zweigeschossigen Riegeln und einer quer dazu angeordneten dreigeschossigen Häuserzeile zusammen. Entgegen der ursprünglichen Vorstellung des Bauherrn behielten die Architekten die vorgefundene städtebauliche Struktur bei und schufen allein durch Aufstockung um ein bis zwei Geschosse gut 9000 Quadratmeter an neuem, quali­tativ hochwertigem Wohnraum. Damit konnte der Baumbestand weitgehend erhalten werden, und es war auch die Vorstellung vom Wohnen in den Bäumen, mit der die Architekten punkten konnten. Obwohl der Bebauungsplan gar keine Aufstockung erlaubte, überzeugte das romantische Bild vom Baumhaus – der grob zusammengezimmerten Abenteuerhütte in luftiger Höhe – offenbar den Bauherrn und die Behörde, die eine Ausnahme nach Paragraph 31 des Baugesetzbuchs gewährte.
Zwar sind es keine „echten“ Baumhäuser, wie etwa jene des Bremer Architekten Andreas Wenning, sondern wohl eher „aufgepfropfte“ Reihenhäuser, mit denen die Gesamtanlage „veredelt“ wurde. Doch wenn es gelingt, für ein sinnfälliges Vorhaben baurechtliche Hürden durch rhetorische Kniffe zu überwinden, so ist es durchaus legitim, auch diese als unabdingbaren Bestandteil architektonischer Kreativität zu honorieren. Zudem vermittelt der Ausblick aus den neuen Wohnungen im zweiten und dritten Obergeschoss den Eindruck, als säße man fast in den Baumkronen, obschon es einen wirklich dichten Baumbestand lediglich an den Zeilenenden zur Bebelallee hin gibt. Die Metapher verweist schließlich aber auch darauf, dass die Aufstockungen, welche bis zu zwei Meter über den Bestand auskragen, weitgehend unabhängig von diesem gedacht und erlebt werden.
Reihenhaus und Laubengang
Im Entwurfskonzept prägt diese konsequente Absetzbewegung die Entwicklung der Kubaturen ebenso wie die Grundrissorganisation, Konstruktion, Materialität und Fassaden­gliederung. Während es sich bei den 104 bereits vorhandenen Wohneinheiten um Ein- bis Dreizimmerwohnungen mit 40 bis 70 Quadratmetern handelt, fallen die 47 neuen Wohnun­gen mit je zwei bis vier Zimmern und 90 bis 140 Quadrat­metern deutlich geräumiger aus. Bis auf den nordöstlich ge­legenen Riegel – als einziger ein Laubengangtyp – sind alle ­aufgestockten Wohnungen als Zweispänner organisiert, und mit Ausnahme der südöstlich angeordneten, ursprünglich dreigeschossigen Zeile sind auch alle als Maisonettes ausgebildet. Großzügige Dachterrassen in Richtung Südwesten gliedern die Baumassen, und die ausgewogene Balance zwischen der Introvertiertheit einerseits und den Öffnungen andererseits verhindert störende Einblicke in die jeweilige Nachbarwohnung.
Der statisch weitgehend ausgelastete Bestand machte für die Aufstockungen eine Mischbauweise aus Stahlbeton, Stahl- und Holzbau erforderlich, wobei die leichtere Holztafelbauweise dominiert. An zwei der sechs Baukörper mussten im Bereich der Brandwände wandartige Stahlbetonträger sowie Pfahlgründungen zur zusätzlichen Lastabtragung implementiert werden, da alte Bodengutachten hier eine Torflinse auswiesen. Die Entscheidung für die Holzbauweise, die sich auch im Fassadenbild widerspiegeln sollte, brachte erhebliche Brandschutz-Auflagen mit sich, da die Bauten mit den Aufstockungen automatisch von der Gebäudeklasse III in die Klasse IV gewechselt sind. Die Holzrahmenelemente mussten mit Fermacelltafeln verkapselt werden, für die Fassade war ein Abweichungsantrag inklusive Brandversuchen nötig; zudem mussten horizontale wie vertikale Ableitbleche an der Unterkante und im Bereich der Brandwände integriert werden.
Die Architekten verfolgen mit dem Projekt einen ästhetischen Pragmatismus, der zu überraschenden Lösungen führt und sich unter anderem im Entscheidungsprozess für die Fassadengestaltung sowie in den Höhenentwicklungen manifestiert. Holz als Wandbekleidung wurde nie in Frage gestellt. Zunächst hatte man eine Vertikallattung vorgesehen, zwischenzeitlich erwog man eine Horizontallattung, bis dann die Belange des Brandschutzes eine geschlossene Oberfläche erforderten, die schließlich zur Schindelfassade aus dreifach gedeckter Alaskazeder führte, welche von einer Firma im Allgäu geliefert wurde. Der Kontrast zur grauen Klinkerfassade der unteren beiden Geschosse ergibt eine vertretbare Melange unterschiedlicher Traditionen – alpin trifft nordisch-hanseatisch – ohne vordergründiges Interesse an der Regionalismusfrage. Vielmehr ist diese Art „fusion aestectics“ das konkrete Resultat pragmatischer Entscheidungen und in der unorthodoxen Haltung sogar in einem tieferen – vielleicht eher Koolhaas’schen – Sinne postmodern.
Doppelte Fläche, halbe Energie
Die angesprochene Höhenentwicklung ist eine Folge forcier­ter räumlicher Qualitäten. Den Architekten war es wichtig, eine lichte Raumhöhe von 2,80 Metern in den oberen Geschossen zu erreichen. Da der Bestand dagegen nur 2,50 Meter aufweist, wirken die Aufstockungen recht massiv: Das Höhenverhältnis zwischen Alt- und Neubau liegt etwa bei 5:6. Während sich die Aufbauten nach Südwesten hin aufgrund der Rückstaffelung der Dachterrassen zurücknehmen, wird dieser Eindruck an den Nordost-Fassaden durch die Vertikalität der Treppenhauseinschnitte sowie der seitlich angeordne­ten Fensterschlitze noch gesteigert.
Aus Sicht des Eigentümers war – neben der Erhöhung der Mieteinnahmen auf bestehendem Baugrund – die energeti­sche Optimierung der in die Jahre gekommenen Bausubstanz ein wesentliches Anliegen des Vorhabens. „Verdopplung der Wohnfläche bei gleichzeitiger Halbierung des jährlichen CO2-Ausstoßes“ – mit dieser Formel setzten sich die Architek­ten ein ehrgeiziges Ziel, das sie nach eigenen Angaben auch umsetzen konnten. Die Planer gehen diskret mit den Berechnungsgrundlagen um. Ohne daher wirklich Details anführen zu können, erscheint diese selbstgestellte Aufgabe keineswegs unlösbar: Nimmt man beispielsweise an, dass der U-Wert der 8800 Quadratmeter BGF umfassenden Aufstockung ein Fünftel des unsanierten Bestandes mit 9600 Quadratmetern BGF beträgt, so folgt daraus eine notwendige Reduzierung des ursprünglichen U-Werts auf 25 bis 30 Prozent. Die vorgenommenen Sanierungsmaßnahmen sind durchaus geeignet, eine derartige Reduzierung zu erreichen: Das zweischalige, in Gelbklinker ausgeführte Sichtmauerwerk wurde mit 12 Zentimeter dicker Mineralfaserdämmung versehen, die wiederum mit dem erwähnten grauen Klinker im identischen Dünnformat verblendet wurde. Zur energetischen Ertüchtigung der Fenster wurden die Gläser ausgetauscht, da die noch funktionsfähigen Holzrahmen nur unwesentlich den U-Wert beeinflussen. Die Substitution des Sattelkaltdachs durch beheizten Wohnraum hat darüber hinaus das A/V-Verhältnis des Bestands positiv beeinflusst.
Bauen trotz Mieterschaft
Eine besondere Herausforderung ergab sich aus der Tatsache, dass die komplette Baumaßnahme bei Vollvermietung der Bestandswohnungen zu erfolgen hatte. Durch den hohen Vorfertigungsgrad der Tafelbauweise sollten zwar Baulärm und Bauzeit reduziert werden, dennoch waren gegenseitige Beeinträchtigungen von Wohnen und Baubetrieb unvermeidlich. So mussten beispielsweise die Treppenhäuser gesperrt werden, um die Treppenlöcher in die bestehenden Betondecken zu schneiden, auch kam es zu Verzögerungen des Bauablaufs, wenn während dieser Arbeiten Mieter ihre Wohnung betreten oder verlassen wollten. Im Außenbereich machte die Überschneidung der Baustelle mit den Verkehrswegen der Mieter eine erhöhte Überwachung der Wege bei Krantätigkeit sowie der Baustellensauberkeit insgesamt erforderlich. Die Kompletteinhausung der Bauzeilen erschwerte die Montage der Holztafelelemente und beeinträchtigte zeitweise die Belichtung und Belüftung der unteren Geschosse. Auf Vorschlag der Architekten setzte der Eigentümer während der gesamten Bauzeit alle Mieten auf null. Eine zusätzliche Belastung für alle Beteiligten stellte in dieser Situation eine sechsmonatige Bauverzögerung dar, welche aus dem (fremdbedingten) Konkurs eines der Hauptauftragnehmer resultierte.
Nach der Fertigstellung hat sich für die alteingesessenen Mieter vieles verändert: Die Anlage hat nicht nur ihr Gesicht komplett verändert, geändert haben sich auch ihre Raumproportionen. Aus der suburban anmutenden Siedlung sind Strukturen mit innerstädtischer Dichte geworden. Die neue räumliche Situation mag für einige gewöhnungsbedürftig sein, sie wirkt aber keineswegs unangenehm. Das Verkehrsaufkommen hat sich erhöht, die Sozial- und Altersstruktur hat sich insbesondere durch den Zuzug junger Familien breiter aufgefächert. Nach Auskunft der Architekten, die inzwischen zum Teil selbst im Objekt wohnen, bestehen erste nachbarschaftliche Kontakte über die Mietergenerationen hinweg. Während etwa die Bewohner der ersten Obergeschosse die Verschattung infolge der auskragenden Aufbauten als geringe Einschränkung wahrnehmen, werden die Vorteile durch die Energieeinsparung, durch deutlich größere private Freiflächen im Erdgeschoss, aber auch die neue Lebendigkeit positiv bewertet. Der Vermieter hat auf eine Umlegung der Modernisierungskosten verzichtet, so dass die Netto-Kaltmieten für den Altbestand bei 6 bis 8 Euro, die für die größeren Neubauwoh­nungen zwischen 10 und 12 Euro liegen. Im Zuge einer Neuvermietung des Bestandes werde allerdings bei diesem über eine Erhöhung auf 8 bis 10 Euro nachgedacht.



Fakten
Architekten blauraum Architekten, Hamburg
Adresse Bebelallee 64-70, Wolffsonweg 3-7, 22297 Hamburg-Alsterdorf


aus Bauwelt 4.2011
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