Bauwelt

Kapitel 4: Das G-string-Phänomen


Dach für vorsichtige Autofahrer in Naoshima


Text: Klauser, Wilhelm, Berlin


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Wenn sich die Fähre nach der kurzen Überfahrt von Ota aus langsam dem Hafen von Naoshima nähert, dann ist man überwältigt vom Anblick eines leeren Gebäudes: eines riesigen Dachs, das auf spindeldürren Stützen steht. Erst der zweite Blick erklärt, warum das Ding nicht einfach wegkippt. Bei dem 2006 realisier­ten Bau sind die Aussteifungen einfach „weggespiegelt“. Die wenigen Wandscheiben sind hochglänzend poliert. Sie sind unsichtbar. Was bleibt, ist das riesige, hauchdünne Dach, unter dem sich die Autos sammeln, wenn sie auf die Fähre warten. Vor und hinter den zarten Stützenhat das Wachpersonal spitze Warnhütchen aufgestellt. Nicht auszudenken, was passiert, wenn ein Auto gegen solch eine dünne Stütze fährt. Dann gibt es in dem Fährterminal noch ein klei­nes Glashaus, in dem kleine Geschenke und Erinnerungsstücke an Naoshima verkauft werden.

Naoshima ist eine Insel im Japanischen Meer, und sie ist heute bekannt als Ort der Kunst. Immer neue Kunstwerke – so von James Turrell, Rei Naito, Hiroshi Sugimoto, Christian Boltanski und vielen anderen – werden in die al­ten Häuser eingebaut, die von ihren Bewohnern verlassen sind. Auf der Insel leben noch 250 Men­schen, die lokale Ökonomie ist längst  zusammengebrochen. Naoshima ist im ökonomi­schen Kontext der produzierenden Industrie überflüssig geworden. Das ist seit vielen Jahren so, und darum sind die Bewohner auch weggezogen. Es gibt noch eine große Verbrennungsanlage von Mitsubishi Chemical Industries. Aberderen Arbeiter haben mit den Dörfern nichts mehr zu tun. Sie wohnen in der Fabrik oder auf dem Festland.

Mit der Kunst gibt es jetzt seit 15 Jahren eine neue Zukunft für die Insel. „350 Menschen kommen am Wochenende, wenn das Wetter schön ist“, erzählt mir der Badmeister des lokalen Badehauses, das durch eine Kunstintervention von Shinro Ohtake aufgewertet wurde und deshalb wieder betrieben werden kann. Die Besucher sitzen nackt unter einem Babyelefan­ten und plantschen auf Mosaik im Wasser. Es ist sehr entspannend. „Neuerdings gibt es auch viele Hochzeiten auf der Insel“, erzählt der Bademeister weiter.

Naoshima kultiviert den Kunsttourismus, und das mit Erfolg. Derzeitiger Kurator der vielen Installationen ist Kayo Tokuda. Es gibt jetzt so viel zu sehen, dass die Besucher meistens eine Nacht bleiben. Ich begegne einer jungen Frau, die eben mit einer kleinen Karte aus dem Tourismusbüro kommt. Warum sie hierhergefah­ren ist? „Ach“, sagt sie, „es gibt hier so viele Museen!“ Sie fragt zurück: ob ich mir das extravagante Terminal schon angesehen hätte?
Naoshima ist ein wunderbarer Ort der Kontemplation – die Reise zu sich selbst kann man nur empfehlen. Die Besucher der Insel kommen fast alle mit der kleinen Personenfähre; mit dem Auto kommt so gut wie niemand. Die Fähre legt auf der anderen Seite des Hafenbeckens an. Die Besucher sehen das große Dach des Fährterminals von SANAA bloß aus der Ferne und lesen es vielleicht als ein Signal: Etwas ist anders auf Naoshima.

In der Regel warten unter dem Dach keine Autos. Denn die Bewohner der Insel wissen
natürlich genau, wann die Autofähre kommt. Warum also sollten sie sich dort unterstellen? Sie kommen in letzter Minute. Das ist vielleicht das Schönste an Naoshima. Niemand muss
warten, aber es gibt für alle Fälle einen Ort, an dem man warten könnte.

Das Fährterminal ist einfach eine weitere Attraktion für die Insel. Nachts ist es beleuchtet wie ein Christbaum. Es sieht unwahrscheinlich schön aus. Ich verlasse den Hafen mit der Personenfähre, Dach und Stützen verschwinden langsam vor meinem Auge. G-String Architektur: ein Hauch von einem Nichts.



Fakten
Architekten Kazuyo Sejima, Ryue Nishizawa, SANAA, Tokyo
aus Bauwelt 33.2010

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