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Vorreiter Athen

Text: Gräwe, Christina, Berlin

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Grafik: OKRA

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Vorreiter Athen

Text: Gräwe, Christina, Berlin

Während anderswo noch debattiert wird, nutzt Athen die Krise für beherzte Planungsentscheidungen: Eine zentrale Verkehrsader wird in Zukunft für Privatautos gesperrt. Noch in diesem Jahr beginnt der Umbau. Unsere Autorin sprach mit dem verantwortlichen Architekten, Martin Knuijt von OKRA, über das radikale Projekt
Eine Zwergenvariante der Autoeindämmung für Berlin scheitert, noch bevor das erste Info-Büro eröffnet werden konnte: Nicht gänzlich autofrei, aber frei von konventionellen Privatwägen sollte im Frühjahr 2015 einen Monat lang der Helmholtzkiez im Stadtteil Prenzlauer Berg gehalten werden. Der Ersatz: elektrobetriebene Autos nach dem Car-Sharing-Prinzip, 600 Pkw statt der aktuell 3500 individuellen. Betroffen wären rund 20.000 Bewohner. Das Bezirksamt fühlte sich überrumpelt, die Initiatoren des internationalen Städtenetzwerks für nachhaltige Entwicklung ICLEI suchen nun nach neuen Möglichkeiten, ihr „Schaufenster für emissionsfreie Mobilität“, das Ende letzten Jahres im südkoreanischen Suwan erfolgreich startete, in Berlin fortzusetzen.
Das im niederländischen Utrecht ansässige Büro OKRA Landschaftsarchitekten hat weit radikalere Pläne – und das nicht für einen beschaulichen Berliner Kiez, sondern für die abgasverpestete Athener Innenstadt rund um eine breite Autoschneise: Von der Panepistimiou soll der private Autoverkehr vollständig verschwinden. Aktuell verstopfen Blechschlangen die sechs Spuren und tragen gewaltig dazu bei, dass das Athener Zentrum zwischen Omonia- und Syntagma-Platz keinerlei Aufenthaltsqualität bietet. Im Gegenteil: Zur derzeit trostlosen Lage kommen der Leerstand vieler Gebäude entlang der Magistrale und die steigende Kriminalität noch hinzu. Hier hält sich niemand länger auf als nötig, schon gar nicht in den Abendstunden. Dabei waren die Athener einst durchaus stolz auf ihre Flaniermeile mit den repräsentativen Bauten, für die der Wittelsbacher-König Otto I. Mitte des 19. Jahr­hunderts Architekten wie Leo von Klenze und Friedrich von Gärtner in die damals gerade frisch gekürte Hauptstadt holte.
Nun soll an diese Zeiten angeknüpft und Athens Zentrum nicht weniger als neu erfunden werden. Vom Staat beauftragt, übernahm die private Onassis-Stiftung die Rolle der öffentlichen Hand und organisierte einen internationalen Wettbewerb. Unter dem Titel „Re-Think Athens“ suchte die Stiftung nach Ideen, den seit den achtziger Jahren fortschreitenden baulichen wie gesellschaftlichen Verfall des Stadtzentrums zu stoppen. Der Wettbewerb fand in zwei Phasen statt. Aus 71 Einreichungen wurden im Jahr 2013 neun für eine Shortlist gefiltert – und daraus schließlich OKRA als Gewinner.

„Don’t cross the road, people have been killed before“
Der erstaunliche Vorschlag von OKRA und ihren externen Experten Mixst Urbanisme (Utrecht), der Universität Wageningen mit Werner Sobek GT, Atelier Roland Jeol (Caluire) sowie den griechischen Partnerbüros Studio 75, NAMA und LDK basiert auf drei Säulen: Resilienz, Zugänglichkeit und Lebendigkeit für das alte, neue Stadtzentrum zu schaffen. Wie der Leiter des Projekts, Martin Knuijt, erklärt, sollen so vor allem Bewohner, speziell Familien, in die Innenstadt zurückgeholt und das Zentrum Athens wieder in einen attraktiven Ort für die Öffentlichkeit verwandelt werden. Martin Knuijt beruft sich im Gespräch auf vergleichbare Ansätze, die sein Büro bereits in Rotterdam und London erfolgreich umgesetzt hat. „Don’t cross the road, people have been killed before“, dieses Schild begrüßte ihn im Süden Londons. Für OKRA keine Abschreckung, sondern die Aufforderung, die achtspurige Hauptstraße in ein grünes Rückgrat des Viertels umzubauen.
In Athen wollen die Planer ihr ehrgeiziges Ziel mit einer mehrgleisigen Strategie erreichen: der radikalen Eindämmung des Individualverkehrs, der nicht minder radikalen Begrünung der Hauptachse Panepistimiou und der Wiederbelebung leerstehender Bauten. Diese auf den ersten Blick traumtänzerischen Visionen unterlegt das Team mit handfesten Eingriffen. Die sechs Spuren der 1,2 Kilometer langen Panepistimiou werden in Fußgänger- und Fahrradspuren aufgeteilt. Mittig ist die Verlängerung der seit der Olympischen Spiele 2004 existierenden Tramlinie zwischen Zentrum und Küste bis zum heute noch etwas abgehängten Archäologischen Museum geplant. Nicht weniger als 800 Bäume werden als Allee entlang der Straße und auf den Plätzen gepflanzt, dazu Büsche und Sträucher. Sie legen nicht nur ein grünes Netz über den Boulevard und seine Nachbarschaft, sondern tragen dazu bei, dass die Sommertemperatur von durchschnittlich 34 Grad um drei Grad gesenkt werden kann. Viel Grün braucht viel Wasser: In unterirdischen Reservoirs soll das Regenwasser gesammelt werden, das in den Wintermonaten reichlich fällt. Über 14 Millionen Liter sollen so zusammenkommen, weit mehr, als für die Bewässerung der Pflanzen notwendig sein wird.
Bleibt der Leerstand von rund 30 Prozent der Gebäude. Ihm wird Martin Knuijt, anknüpfend an die reiche Kulturgeschichte Griechenlands, mit dem „Theater der 1000 Räume“ begegnen. Ausstellungen, Bars, Theateraufführungen und andere Veranstaltungen können in die verwaisten Erdgeschosse einziehen. Die Planer möchten für die Umsetzung solcher Aktionen private Sponsoren begeistern und die Attraktivität des Viertels für Bewohner und Touristen weiter wachsen lassen. Den Anfang hat das Team bereits selbst gemacht, als es seine Pläne in 20 leerstehenden Läden entlang der Arsakeion Arkaden ausstellte. Der Andrang war groß und die Reaktionen der neugierigen Öffentlichkeit überwiegend wohlwollend. Die griechische Fassung des Videos zu „Re-Think Athens“ haben sich inzwischen mehr als 100.000 Interessierte angesehen.
Das Einverständnis der Bevölkerung scheint groß, vor allem bei den Älteren, die sich noch an die glanzvollen Zeiten der Panepistimiou erinnern. Und die Jüngeren warten ungeduldig darauf, nach der jahrelangen Misere wieder eine Zukunft für sich und ihre Stadt zu sehen. Wie aber steht es mit den Reaktionen der Verantwortlichen zu diesem 80-Millionen-Euro-Projekt? Die Onassis-Stiftung war klug genug, das Wettbewerbsergebnis vor den prominentesten Stadtpolitikern zu verkünden. Die Vorstellung der Ideen scheint die politischen Köpfe aller Parteien überzeugt zu haben, allen voran den Bürgermeister Samaras. Eine für Griechenland sehr un­typische Einigkeit, so Martin Knuijt.
Ein Zukunftsmodell für mediterrane Städte?
Dennoch bleiben einige Fragezeichen, denn mit solch weitreichenden Eingriffen ist immer auch ein Umdenken verbunden. Das braucht Zeit, die hier eigentlich nicht zur Verfügung steht. Wohin beispielsweise mit den Automassen, die sich täglich durch die Panepistimiou wälzen? „Das wird sich schon finden“, meint Knuijt. Vielleicht ist diese Gelassenheit wirklich die richtige Strategie. In San Francisco zum Beispiel wurde bei einem Erdbeben 1989 die zweistöckige Stadtautobahn, der Embarcadero Freeway, stark beschädigt – was aber keinesfalls zum erwarteten Verkehrskollaps führte. Daher wurde auf die Reparatur der einst wichtigen Verkehrsader verzichtet; durch den Abriss der Autobahnreste hat die Stadt zudem den direkten Zugang zum Wasser wiederbekommen und inzwischen längst ein attraktives Viertel hinzugewonnen. Martin Knuijt beobachtet in Athen, dass während der täglichen Sperrungen der Panepistimiou wegen der Demonstrationen der Verkehrsfluss einfach in Nebenstraßen ausweicht. Außerdem ist die Straße nicht die einzige Verkehrsachse in der Gegend. Und was ist mit dem Auto als Prestigeobjekt? Auch darauf hat der Landschaftsarchitekt eine so einfache wie überzeugende Antwort: Es fehlt vielen schlicht das Geld für ein privates Auto. Und, was noch vor zwei Jahren unvorstellbar war,  in Athen wächst die  Fahrradbegeisterung.
„Re-Think Athens“ wird bereits Modellcharakter zugeschrieben. Vor allem mediterrane Städte könnten von diesen Strategien profitieren. Der Juryvorsitzende der zweiten Wettbewerbsphase, Peter Cachola Schmal, sagt zur Entscheidung des Preisgerichts, die Ideen von OKRA seien „die einzige ruhige Antwort, die souverän und professionell Vorschläge macht, die nicht nur realisierbar, sondern auch wünschenswert sind“. Wie die Pläne Realität werden, wird man bald beobachten können. Noch 2014 muss mit den Maßnahmen begonnen werden, sonst verfallen die Förderungen aus EU-Fonds. Bereits 2016 soll das Projekt abgeschlossen sein. Bleibt zu hoffen, dass nicht allzu viele wertvolle archäologische Funde im Untergrund Athens den Umbauprozess bremsen. 

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