Bauwelt

Projekt Alltagsarchitektur

Einleitung

Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin

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Foto: Stefan Müller-Naumann

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Projekt Alltagsarchitektur

Einleitung

Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin

Die Alltagsarchitektur der siebziger Jahre gilt heutzutage Vielen als Tiefpunkt der Baugeschichte, und zwar unter Laien wie Architekten.
Während die Bauten der fünfziger Jahre noch mit handwerklichen Details und charmanter Sparsamkeit aufwarten und die der sechziger mit formaler Stringenz für sich einzunehmen wissen, scheint dem Gros der zehn Jahre später entstandenen Gebäude die gestalterische Qualität abhanden gekommen: Unverständlich ihre Volumetrien, grob gefügt die Fertigteile ihrer Fassaden, plump die Profile von Fenstern und Türen, ohne jede Eleganz die Abschlüsse von Trauf- und Mauerkanten, keine Materialien an Wand, Boden und Decke, de­ren Oberfläche auch nur den geringsten Reiz in punkto Haptik oder Textur verströmt. Wohl gemerkt: Es geht hier nicht um die Glanzpunkte jener Epoche, die es zweifellos auch gibt; um Gebäude also wie beispielsweise das Berliner ICC – es geht um jene anonymen Gebäude, aus denen die Städte außerhalb ih­rer Zentren landauf, landab bestehen: um Schulen und Kindergärten, um Bürohäuser und Einkaufszentren, um Ein- und Mehrfamilienhäuser; um die Gebäude also, die jene diffusen Stadtbereiche bilden, die wenig zur Identität einer Stadt beitragen, stark aber das tägliche Leben ihrer Bewohner bestimmen.
Ein Plädoyer für Gelassenheit
Inzwischen stehen etliche dieser Bauten vor ihrer ersten größeren Sanierung. Nicht nur sollen sie neuen energetischen Ansprüchen genügen oder müssen ihre haustechnischen Anlagen erneuert werden, häufig sehen sie sich auch mit neuen funktionalen Erfordernissen konfrontiert, welche bis hin zu einer kompletten Umnutzung reichen können. Damit aber werden räumliche Interventionen unumgänglich: eine architektonische Herausforderung, die sich in den nächsten Jahren vermehrt stellen wird. Denn mögen Abriss und Neubau in gestalterischer Hinsicht auf den ersten Blick auch häufig wünschenswert erscheinen – allein die schiere Masse des damals Gebauten legt nahe, dass wir weiterhin mit einem großen Teil dieser Hinterlassenschaft werden leben müssen: aus Pragmatismus, um Ressourcen zu schonen und nicht zuletzt weil vielerorts kein ökonomischer Druck zu jenem „sozialen Upgrade“ führt, den wir in der vorigen Woche thematisiert haben.
Diese Perspektive sollte Verpflichtung genug sein, dass nicht nur Ingenieure und Systemanbieter die anstehende Erneuerung begleiten, sondern auch Entwerfer, denn die Aufgabe verlangt formale Aufmerksamkeit. Wie lässt sich die Gestalt dieser Gebäude verbessern, ohne ihre zeitliche Herkunft zu verleugnen? Wie lassen sich Eingriffe vornehmen, die neuen Bedürfnissen Raum geben, bestehende Zusammenhän­-
ge verständlicher werden lassen, die Dramaturgie im Außen- wie im Innenraum steigern? Andererseits: Wie viel entwerferischen Ehrgeiz vertragen diese Gebäude überhaupt, ohne dass Banalität in Lächerlichkeit umschlägt?  
Die drei Projekte, die diese Woche das Thema stellen, sind ein Plädoyer für Gelassenheit im Umgang mit diesem Erbe; dafür, sich auf den Bestand und seine jeweilige Systematik einzulassen, aber auch dafür, auf eine gewisse Robustheit und Wandlungsfähigkeit des Vorhandenen zu vertrauen. Neue Materialien einführen, mehr Sorgfalt im Detail walten lassen, unklare Grenzen von Öffentlichem, Halböffentlichem, Privatem definieren, Resträume auflösen, die Farbenfreude jener Zeit für heutige Orientierungssysteme aufgreifen – nur einige Ansatzpunkte, mit der die Bauproduktion der siebziger Jahre auf entwerfende Architekten wartet. In Erlangen, Berlin und London wurde diese Bandbreite im Rahmen des jeweils Möglichen genutzt: Jede Bauaufgabe kann eine Architekturaufgabe sein.

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