Neue Normalität
Zur Situation portugiesischer Architekten in der Krise
Text: Novais, Teresa, Porto
Neue Normalität
Zur Situation portugiesischer Architekten in der Krise
Text: Novais, Teresa, Porto
Portugal befindet sich in einem Prozess wirtschaftlicher und sozialer Verarmung. Und ist dabei nicht allein. Es ist wichtig zu verstehen, wie das Land 37 Jahre lang den europäischen Traum hegte – die Architektur ist ein offenkundiges Beispiel – und wie dieser Traum in sich zusammenstürzte. Längst ist die Krise in Portugal kein Ausnahmezustand mehr, sie ist die neue Normalität. Eine Situation, die die Zukunft Europas vorwegnimmt?
Portugal 1973: Mehr als 87.000 Männer emigrieren oder werden in den Kolonialkrieg geschickt; 40 Prozent des öffentlichen Haushalts fließen ans Militär. 53 Prozent aller Haushalte haben kein fließend Wasser, 40 Prozent keine sanitären Einrichtungen, 37 Prozent keine Elektrizität. 25,7 Prozent der Portugiesen sind Analphabeten und nur 0,9 Prozent haben einen Hochschulabschluss. Es gibt 753 Architekten, die für 9 Millionen Einwohner planen.
In den Jahren nach der Revolution im April 1974 macht Portugal die notwendige Transformation durch. Die nach-revolutionäre Regierung erkennt die Dringlichkeit der Wohnungsfrage und initiiert im Juli 1974 den Serviço de Apoio Ambulatório Local, mobile technische Einsatzteams, die Menschen unterstützen, die in prekären Bedingungen leben. Das (nie vollendete) Programm mobilisiert die Architekten, 40.000 Familien sind beteiligt, fast 8000 neue Wohnungen entstehen. Die methodischen Erfahrungen, der Traum von einer partizipativen Architektur und die städtebaulichen Experimente werden international positiv aufgenommen – und weisen den Weg für die kommende Architektur des Landes.
Der europäische Traum
Am 1. Januar 1986 tritt Portugal der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bei. 65 Prozent aller Investitionen, die bis 2002 basierend auf europäischen Programmen getätigt werden, fließen in Bauprojekte. Zu Beginn führen die fehlende Erfahrung in der Bau- und Liegenschaftsverwaltung sowie unzulängliche Gesetze zur Zerstörung von Landschaft und Kulturerbe – im Namen des Fortschritts. Die Stadtzentren werden sich selbst über- und von ihren Bewohnern verlassen, ganz anders die schnell wachsenden Ränder mit neuen, „modernen“ Wohnungen.
Ab 1995 ermöglicht das fallende Zinsniveau weiten Bevölkerungskreisen den Eigenheimkauf. Die Bauindustrie erlebt ein nie dagewesenes Wachstum. 2002 werden 125.574 neue Wohnungen gebaut, mehr als je zuvor und annähernd doppelt so viele wie 1995. 1983 gibt es in Portugal 2183 Architekten, 1993 sind es bereits 5146. Bis 2003 verdoppelt sich diese Zahl auf 11.237. Es ist diese junge Berufsgruppe, die die Besonderheit portugiesischer Architektur entwickelt, produziert und erforscht – und die für die Erhaltung der historischen Zentren, Landschaften und Plätze kämpft. Die Aufmerksamkeit, die portugiesische Architektur national wie international erfährt, und die Dynamik der Bautätigkeit machen das Architekturstudium bei jungen Leuten beliebt wie nie. 1983 gab es drei Ausbildungsgänge für Architektur, 2003 sind es 19.
Portugal 2011: 99,3 Prozent der Haushalte haben fließend Wasser, 95,5 Prozent sanitäre Anlagen, fast 100 Prozent Elektrizität. Es gibt 19.477 Architekten, die für 10,5 Millionen Einwohner planen. Innerhalb von 37 Jahren hat Portugal Isolation und extreme Armut überwunden, die Unabhängigkeit seiner Kolonien (der ehemals größte Markt) anerkannt, ist ein demokratisches Land geworden. Die Portugiesen fühlen sich als vollwertige Bürger Europas.
Small is beautiful
Das Wachstum auf dem Bausektor hat nicht dazu geführt, dass auch große Design- oder Baufirmen entstehen. Die meisten Baufirmen erhalten sich ihre familiär geprägte Struktur. Auch Architekturbüros werden niemals große Unternehmen. 2006 geben 90 Prozent der Büros an, sie planten vor allem Einfamilienhäuser oder Wohnungsbau (europäischer Durchschnitt 2008: 45 Prozent). Öffentliche Aufträge konzentrieren sich in der Hand einiger Büros. Und die wenigen Büros, die größere Aufträge bearbeiten, behalten ihre Arbeitsweise weitgehend unverändert bei; nach Bedarf heuern sie Freiberufler an, die im eigenen Studio arbeiten.
Kleine Baufirmen und Architekturbüros, die enge Verbindung zwischen Gestaltern und Handwerkern, die fehlende Standardisierung von Baukomponenten und -systemen, die Ausbildung in traditionellen Handwerkstechniken – all das begründet den Charakter zeitgenössischer portugiesischer Architektur: eine zweckdienliche, nicht-technologische Architektur, mit Substanz und voller Poesie.
Niedergang
Tatsächlich beträgt im Jahr 2000 das Durchschnittseinkommen der Portugiesen nur 75 Prozent des mittleren Einkommens in Europa. Exporte konzentrieren sich auf die Textil-, Schuh- und Metallmechanik-Industrie, die sich allesamt – nun mit der starken Gemeinschaftswährung – nicht den Bedingungen der Globalisierung anpassen können. In nur zehn Jahren schrumpft das Wohnungsbauvolumen um 80 Prozent: 2012 werden nur 27.747 Wohnungen gebaut. Für 2013 ist eine noch geringere Zahl zu erwarten. Als die Troika 2011 in Portugal interveniert, entscheidet die Regierung, Verbrauchs- und Einkommensteuern zu erhöhen, Sozialleistung zu kürzen, Investitionen auf ein Minimum herunterzufahren. Die Sättigung des Wohnungsmarkts und die plötzliche Schwierigkeit, Kredite zu bekommen, stoppen auch Privatinvestitionen. 2012 hat die geringe Bautätigkeit 90.000 Arbeitslose geschaffen, insbesondere Männer – fast dieselbe Anzahl, die 1973 im Kolonialkrieg kämpfen musste oder emigrierte.
Eine Umfrage der Architektenkammer im Dezember 2012 ergibt: Ein Drittel der kontaktierten Architekturbüros hat zugemacht; 77,4 Prozent der noch existierenden Büros hat in den letzten vier Jahren keinen Gewinn erwirtschaftet. In der Zwischenzeit haben mehrere private Universitäten ihre Ausbildungsgänge für Architektur geschlossen, Hochschullehrer ihren Job verloren.
Noteingänge
Derzeit gibt es in Portugal 21.537 Architekten, gut zwei Architekten pro 1000 Einwohner (eine der höchsten Quoten in Europa). Ihr durchschnittliches Jahreseinkommen beträgt 15.000 Euro, die Arbeitslosigkeit ist extrem hoch. Finanziell (noch) potente Büros setzen auf internationale Märkte, besonders in portugiesischsprachigen Ländern wie Angola, Mosambik und Brasilien. Im 2012er Report der Europäischen Architektenkammer findet sich Portugal an vierter Stelle der Architekturexport-Länder. Auf der persönlichen Ebene ist die Emigration für viele, vor allem junge Architekten die brauchbarste Option.
9 Prozent der portugiesischen Architekten arbeiten im Ausland, das ist das Dreifache des europäischen Durchschnitts. Im oben erwähnten Report geben 59 Prozent der portugiesischen Architekten an, sie würden darüber nachdenken, 2013 auszuwandern; europaweit tun das nur 35 Prozent.
9 Prozent der portugiesischen Architekten arbeiten im Ausland, das ist das Dreifache des europäischen Durchschnitts. Im oben erwähnten Report geben 59 Prozent der portugiesischen Architekten an, sie würden darüber nachdenken, 2013 auszuwandern; europaweit tun das nur 35 Prozent.
Die Baustoffindustrie in Portugal profitiert davon, dass sie junge Architekten, die auf ihrem klassischen Gebiet keine Arbeit finden, anheuern kann. Auf der anderen Seite wächst die Zahl der Architekturbüros, die nicht mehr nur Planungsleistungen anbieten, sondern zum alleinigen Ansprechpartner des Kunden werden – ein Geschäftsmodell, das sich besonders bei privaten Bauherren zunehmender Beliebtheit erfreut und wettbewerbsfähig wird.
Wem die Stunde schlägt
In Portugal ist kostensparende Architektur das offizielle Konzept geworden. Um sich am Markt zu behaupten, versprechen die Architekten geringe Baukosten – zur Freude des Bauherrn. Wo einst der Ehrgeiz bestand, Hervorragendes, Schönes, Komfortables, Würdevolles zu schaffen, herrscht heute der Wunsch vor, den Kunden unverzüglich zufrieden zu stellen. Unter diesen Bedingungen hängt es wieder vom kritischen Geist der Architekten ab, ob auch in Zukunft angemessene Architektur entsteht.
Noch einmal der Report der Europäischen Architektenkammer. Er zeigt eine deutliche Teilung zwischen Nord- und Südeuropa. Im Norden gibt es sie: erhebliche öffentliche und private Investitionen und eine niedrige Arbeitslosigkeit in der Architekturbranche. Aber – ist dieses Niveau der Bautätigkeit auf mittlere und lange Sicht nachhaltig? Entspricht es den wahren Bedürfnissen der Bürger und ihrer Städte? Die Verarmung Portugals ist eine Tatsache. Und portugiesische Architekten, inzwischen klar sehend, dass die Krise ihre neue Normalität ist, passen sich dieser Situation an. Gehören portugiesische Architekten zu den Ersten, die vorbereitet sind?
Aus dem Englischen von Jan Friedrich
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