Bauwelt

Unser Teil kostet nicht einmal eine Milliarde

Zehn Jahre Baustelle Stuttgart 21 nah­men wir zum Anlass für ein Gespräch mit dem Architekten Christoph Ingenhoven in seinem Düsseldorfer Büro. Er ist auch heute auf die Stadt und auf Frei Otto nicht gut zu sprechen. Die Fer­tigstellung ist in fünf Jahren geplant.

Text: Redecke, Sebastian, Berlin

  • Bilderliste
    • Social Media Items Social Media Items

    Christoph Ingenhoven Architekturstudium an der RWTH Aachen und an der Kunstakademie Düsseldorf. 1985 Bürogründung in Düsseldorf.
    Foto: Jim Rakete

    • Social Media Items Social Media Items
    Christoph Ingenhoven Architekturstudium an der RWTH Aachen und an der Kunstakademie Düsseldorf. 1985 Bürogründung in Düsseldorf.

    Foto: Jim Rakete

  • Bilderliste
    • Social Media Items Social Media Items

    Blick auf die Baustelle im Februar 2020. Von den insgesamt 28 Kelchen wurden sieben bereits betoniert, zwei weitere sind eingeschalt, einer davon ist auf dem Foto zu sehen. Das Dach der neuen Bahnhofshalle wird in Zukunft begehbar sein.
    Luftfoto: DB Projekt Stuttgart-Ulm

    • Social Media Items Social Media Items
    Blick auf die Baustelle im Februar 2020. Von den insgesamt 28 Kelchen wurden sieben bereits betoniert, zwei weitere sind eingeschalt, einer davon ist auf dem Foto zu sehen. Das Dach der neuen Bahnhofshalle wird in Zukunft begehbar sein.

    Luftfoto: DB Projekt Stuttgart-Ulm

  • Bilderliste
    • Social Media Items Social Media Items

    Die Visualisierung unten erläutert das Konzept des Verkehrsknotenpunkts.
    Visualisierung: © ingenhoven architects

    • Social Media Items Social Media Items
    Die Visualisierung unten erläutert das Konzept des Verkehrsknotenpunkts.

    Visualisierung: © ingenhoven architects

Unser Teil kostet nicht einmal eine Milliarde

Zehn Jahre Baustelle Stuttgart 21 nah­men wir zum Anlass für ein Gespräch mit dem Architekten Christoph Ingenhoven in seinem Düsseldorfer Büro. Er ist auch heute auf die Stadt und auf Frei Otto nicht gut zu sprechen. Die Fer­tigstellung ist in fünf Jahren geplant.

Text: Redecke, Sebastian, Berlin

Herr Ingenhoven, 1997 haben Sie den Realisierungswettbewerb für den Stuttgarter Durchgangsbahnhof gewonnen, damals unter Beratung von Frei Otto. Würden Sie heute, nach so langer Zeit und mit vielen neuen Erfahrungen, einen abgewandelten Entwurf vorlegen?
Nein, aber ich würde in der Folge stärker versuchen, die Stadt an das Projekt zu binden. Es entsteht ein spektakulärer Bahnhof, jedoch bleibt der Arnulf-Klett-Platz, der kein Platz ist, sondern als Verkehrsraum nur so heißt, auf unabsehbare Zeit wie er ist. 90 Meter breit, 400 Meter lang. Die Stadt hat sich bislang ihrer Verpflichtung zur Umsetzung des Wettbewerbsentwurfs entzogen und uns mit keinerlei Planung in diesem Bereich beauftragt. Der Bahnhof wird im Jahr seiner Fertigstellung 2025 durch diese furchtbare Verkehrsschneise von der Stadt vollständig getrennt sein – eine unnötige und schmerzhafte Amputation unseres Konzepts. Gleiches gilt für den nördlichen Bahnhofsbereich. Wir hatten darauf hingewiesen, dass dort eine lange Mauer stehen wird für die vielen Jahre, die vergehen werden, bis sich die Stadt zu einer konkreten Bebauung durchringt. Dies hat bereits zur Folge, dass der Ausgang zum Europaviertel vorerst nicht gebaut wird. Wir hatten Modelle und Zeichnungen gemacht, damit dies verständlich wird. Am Arnulf Klett-Platz und am nördlichen Bahnhofsbereich hätten schon früh Entscheidun­gen fallen müssen, damit sie mitgestaltet werden und der Bahnhof nicht für lange Zeit isoliert steht.
Andere Städte, zum Beispiel Paris, haben anders entschieden. Dort bleiben die Kopfbahnhöfe Gare du Nord, Gare Saint-Lazare oder Gare de Lyon in Betrieb und werden um Shopping Center ergänzt. In Grand Paris entstehen neue Bahnhöfe für den TGV-Verkehr mit bester Anbindung in die Innenstadt. Ist dieses Konzept nicht besser, als unter Protesten diesen Riesenaufwand für einen Durchgangsbahnhof unter der Erde zu betreiben?
Vor dem Start des Wettbewerbs gab es ein interessantes Alternativkonzept, das mir damals nicht bekannt war. Es sah vor, den neuen Bahnhof in Bad Cannstatt zu bauen mit einer sehr schnellen Verbindung nach Stuttgart hinein. Das hat man dann aber nicht gewollt, um diese Form eines innerstädtischen Hauptbahnhofs nicht aufzugeben, so vermute ich. Stuttgart liegt im Tal und hat nicht so viel Platz wie andere Städte. Der alte Hauptbahnhof nimmt mit seinen Gleisen eine Hälfte der Talsohle ein, die andere Hälfte ist der Schlossgarten. Das Konzept des unterirdischen Durchgangsbahnhofs schafft Raum für eine neue Stadtentwicklung u. a. mit dem Europaviertel. Im Unterschied zu Paris, das ein auf ebener Fläche radial geplanter Organismus ist – es wären hier noch Wien, Mailand oder Leipzig zu nennen – wird Stuttgarts Entwicklung durch den Kopfbahnhof in anderer Form blockiert.
Wenn Sie heute die schon gut sichtbaren Teile Ihres Bahnhofs 1:1 in Augenschein nehmen, was freut Sie am meisten?
Die elegante Form der Kelchstützen und die Sichtbarwerdung dieser großen Raumerfindung.
Konnten die Stützen auch wie geplant realisiert werden?
Ja. Es wurde lange Zeit behauptet, das sei nicht möglich.
Die Schalendicke des Betons soll teilweise nur 40 Zentimeter betragen.
Am äußersten Ende sind es 40 Zentimeter, ein allerdings nur zwei Meter langes Teilstück. Die Frei-Otto-Formen waren im Prinzip als Null-Linie gedacht, ohne Auflast, nur unter Eigengewicht. Es ist nach wie vor eine sehr Material sparende, jedoch keine ausschließlich druckbelastete Konstruktion, wie man es als Betrachter der Mem-branversuche und Hängemodelle glauben mag.
Frei Otto hat sich 2009 aus dem Projekt zurückgezogen. Was war der Grund?
Er ist 2009 als beratender Partner ausgestiegen, da er aus meiner Sicht aufgrund gesundheit­licher Einschränkungen der mit diesem Projekt verbundenen enormen Arbeitsbelastung nicht mehr gewachsen war. Er hat dann unglücklicherweise ein Schreiben verfasst, in dem er Bedenken gegen die Flutsicherheit des Bahnhofs äußerte. Hintergrund ist, dass die Regenentwässerung Stuttgarts überwiegend durch den Nesenbach geleistet wird, heute weitgehend ein unterirdischer Kanal. Weil wir quer zur Talmulde bauen, kreuzt der Kanal den Bahnhof, kommt dort an und wird, wie in einem Siphon, erst runter und dann wieder hoch geleitet. Das wäre im Falle eines Jahrtausendhochwassers, das der Nesenbach nicht mehr aufnehmen kann, gegebenenfalls ein Schwachpunkt. Wir haben die Oberkante des Bahnhofs soweit an ihrem Ende abgesenkt, dass oberirdisch eine kontinuierliche Talneigung erhalten bleibt. Wenn tatsächlich eine große Flutwelle kommen sollte, fließt das Wasser über den Bahnhof hinweg.
Werden auch die Zugänge wie geplant realisiert?
Ja, es gibt nach wie vor vier Zugänge. Einer von ihnen zum neuen Europaviertel auf dem Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs wird, wie gesagt, erst später gebaut.
Wie sehen Sie dieses Stadtviertel? Es hieß mal Ökoquartier.
Es ist heute üblich, von einem Ökoquartier zu sprechen. Dazu fällt aber jedem etwas Anderes ein. In Stuttgart wollte man nach einer Volksbefragung ein gemischtes Gebiet, verkehrsberuhigt mit Wohnen, Arbeiten, Ausbildung, viel Ökologie – alles heute selbstverständlich. Ich sehe das insofern skeptisch, als man erlebt, wie solche Projekte medioker enden können. Es wäre eine sehr gute Gelegenheit gewesen, die Stadt 4.0 zu bauen. Das müsste Stuttgart können. Doch es fehlt an visionären Ideen. Insbesondere die weitere Planung des Nordgebäudes am zukünftigen Manfred Rommel-Platz ist ungeklärt. Der Bonatz-Bau wirkt hier sehr präsent. Es bedarf eines monumentalen Gegenüber. Auch dieses Konzept war Gegenstand des Wettbewerbs, wird aber von der Stadt Stuttgart bislang nicht als verpflichtend angesehen.
Bleibt es beim Null-Energie-Konzept für Ihren Bahnhof?
Ja. Da der Bahnhof unterirdisch ist und nur die Lichtaugen der Kelchstützen offen sind, bleibt der Wärmeeintrag über das Glas entsprechend gering. Im Sommer heizt der Bahnhof nicht so sehr auf, im Winter ist er gewärmt durch das Erdreich sowie die Luftströme aus den Tunneln: ein komfortabler Bahnhof ohne Energieverbrauch für Kühlung, Heizung und Ventilation sowie mit stark reduziertem Verbrauch für künst­liche Beleuchtung durch das einfallende Tageslicht.
Muss ein solches Projekt mit seinen Tunnels über acht Milliarden Euro verschlingen, bei acht Gleisen eine Milliarde pro Gleis? 1998 war es noch eine Investitionssumme von 2,6 Milliarden, 2006 hatte McKinsey Kosten von 4,8 Milliarden Euro errechnet. Jetzt ist es noch einmal erheblich mehr. Möchten Sie dazu Stellung nehmen?
Stuttgart 21 ist viel mehr als ein Bahnhof. Es umfasst vier neue Bahnhöfe und 59 Kilometer Tunnel. Wir arbeiten nur am mittleren Talabschnitt. Das Gesamtprojekt kostet insgesamt acht Milliarden Euro, unser Teil nicht einmal eine Milliarde. Zudem gab es im Bahnhof die Preissteigerungen nicht in dem Umfang wie in anderen Bereichen. Die Planfeststellung im Genehmigungsverfahren war vor der Finanzierung nicht in allen Teilen zu Ende geführt, zwei von sieben Planabschnitten waren nicht abschließend geplant und deshalb noch nicht genehmigt. Es gibt nach über 20 Jahren immer noch anhängige Gerichtsverfahren gegen einen Abschnitt. Das ist bis zu einem gewissen Grad unkalkulierbar. Gründe für die Kostensteigerungen sind beispielsweise die Vertiefung der Planung, Normenänderungen, die Baupreissteigerungen, aufwendigere Bauverfahren in den schwierigen Formationen des Anhydrits, die Dauer der Genehmigungsverfahren und der Artenschutz. Wegen des Brandschutzes haben wir den Bahnhof dreimal komplett neu geplant.
Vergleichbar mit dem Berliner Flughafen BER?
In gewisser Weise ja. Aber wir haben nichts gebaut, das man anschließend wieder herausreißen musste. Vielmehr haben die Europäische Union und das Eisenbahnbundesamt während der Planung ihre Vorgaben geändert. Die nachzuweisende Brandlast wurde vervielfacht und die Brandrettungswege damit rechnerisch sehr viel weniger lang rauchfrei. Der vom Eisenbahnbundesamt vorgegebene Bemessungsbrand wurde schrittweise von 10 MW über 25 MW zur Planfeststellung auf 53 MW erhöht. Die zu berücksich­tigende Brandenergie ist verfünffacht, die zugehörigen Rauchvolumen steigen exponentiell. Dieser Bemessungsbrand ist den Nachweisen für die Rauchfreiheit der Rettungswege zugrunde zu legen.
Danach war nichts mehr wie vorher. Zunächst haben wir zusätzliche Fluchttreppenhäuser auf den Bahnsteigen geplant. Das war genehmigungsfähig, hätte den Gesamteindruck der Bahnhofshalle jedoch erheblich beeinträchtigt. Schließlich ist es uns gelungen, diese Fluchttreppenhäuser in die beiden Bahnhofsköpfe zu verlagern. Die erforderlichen Nachweise sind erbracht, Das Eisenbahnbundesamt hat das Brandschutzkonzept genehmigt.
Daneben ergaben geänderte europäische Vorschriften die Einordnung des Bahnhofs als Tunnelbauwerk. Als Anforderung an die Betonkonstruktion ist damit eine Temperaturbeständigkeit der Oberfläche von 1200 Grad vorgegeben, die konstruktiv nachgewiesen werden muss. Jeder von uns weiß, dass diese 1200 Grad nie erreicht werden, aber es gibt diese Vorschrift für Tunnelbauwerke. Alles fokussiert sich auf den Bahnhof, dabei wird eine neue 100 Kilometer lange Bahnstrecke durch die Schwäbische Alb bis nach Ulm gebaut. Ein Großteil der Tunnel auf einer Länge von 59 Kilometern sind mittlerweile fertig.
Sind die acht Gleise des neuen Bahnhofs nicht zu wenig?
Nein. Dank der künftigen Infrastruktur wird Stuttgart Pilotknoten für die Digitale Schiene Deutschland: Der neue Bahnhof Stuttgart 21 ist Voraussetzung für den Deutschland-Takt und ermöglicht zudem die Verdoppelung der Fahrgastzahlen bis 2030. Das belegt ein vom Verband Region Stuttgart veröffentlichtes verkehrswissenschaftliches Gutachten.
Es gab immer wieder die Idee, zur Entlastung den Kopfbahnhof für den Regionalverkehr weiter zu nutzen.
Das Gesamtkonzept Stuttgart 21 wäre dann ein völlig anderes und hätte größte Auswirkungen auf das Europaviertel. Man addiert alle Nachteile beider Konzepte, wer will das ernsthaft verantworten? Man sollte daher nicht weiter darüber nachdenken.
Stuttgart 21 hat Sie mit Höhen und Tiefen einen Großteil Ihres Berufslebens begleitet. Gibt es ein großes Infrastrukturprojekt, das Sie inte­ressieren würde? Oder wollen Sie mit solchen Projekten nichts mehr zu tun haben?
Wir beteiligen uns zurzeit an einem Wettbewerb für den Ausbau des Züricher Flughafens. Der gilt als einer der besten Flughäfen der Welt mit München, Singapur und Hongkong.
Was planen Sie dort konkret?
Eine Erweiterung des Terminals 1 mit vielen zusätzlichen Flugzeugpositionen. Ich glaube, dass es in Zukunft viele interessante unterirdische oder halb unterirdische Verkehrsprojekte geben wird wie in Stuttgart.
An welche Stadt denken Sie?
New York zum Beispiel, aber wir können auch nach Los Angeles und San Francisco schauen. Oder nach Sydney, wo wir derzeit mit unseren australischen Partnern Sydney Central, die Überbauung des Hauptbahnhofs, planen.
Wussten Sie, dass es im Raum Stuttgart sehr viele Mauereidechsen gibt? 4000 sollen im Bereich des geplanten, zum Großprojekt gehörenden Abstellbahnhofs leben. Die Eidechsen sind streng geschützt. Sollte dies zu einer Blockade der Bauarbeiten führen, würde das angeblich die Wirtschaftlichkeit des gesamten Stuttgart-21-Projekts in Frage stellen. Hätten Sie eine Idee, wie man dieses Problem lösen kann?
Es ist zu spät für einen Ersatzstandort des Bahnhofs. Die Eidechsen werden umgesiedelt.
Während der Bauzeit gab es auch andere Tiere, die in die Quere gekommen sind.
Ja, Fledermäuse und Juchtenkäfer. Die geschützten Fledermäuse wurden im alten Bahnhof
gesichtet. Die Juchtenkäfer befallen sterbende Bäume. Insofern entbehrt der Schutz dieser Bäume zum Schutz der Juchtenkäfer nicht einer gewissen Komik. Sobald die Bäume für die Käfer nicht mehr interessant sind, ziehen sie weiter und hinterlassen uns sterbende Bäume, für die wir einen Teil des Bahnhofs umgeplant haben.
Fakten
Architekten Ingenhoven, Christoph, Düsseldorf
aus Bauwelt 7.2020
Artikel als pdf

0 Kommentare


loading
x
loading

6.2024

Das aktuelle Heft

Bauwelt Newsletter

Das Wichtigste der Woche. Dazu: aktuelle Jobangebote, Auslobungen und Termine. Immer freitags – kostenlos und jederzeit wieder kündbar.