Keinem ist ein dritter Arm gewachsen – wir können reinspringen
Bis ins 19. Jahrhundert war Paris voller öffentlicher Badestellen. Für die letzten 120 Jahre war die Seine zu schmutzig – mit den Olympischen Spielen hat sich das geändert. Der erste Sommer mit drei neuen Flussbädern ist vorbei. Architekt Charles Freudiger zieht in seinem Pariser Büro Résumé.
Text: Kraft, Caroline, Berlin
Keinem ist ein dritter Arm gewachsen – wir können reinspringen
Bis ins 19. Jahrhundert war Paris voller öffentlicher Badestellen. Für die letzten 120 Jahre war die Seine zu schmutzig – mit den Olympischen Spielen hat sich das geändert. Der erste Sommer mit drei neuen Flussbädern ist vorbei. Architekt Charles Freudiger zieht in seinem Pariser Büro Résumé.
Text: Kraft, Caroline, Berlin
Mater ist ein kleines Studio. Wie kamen Sie da-zu, die Badestelle mitten in Paris zu entwerfen?
2023 gab es eine Ausschreibung der Stadt. Eigentlich wollten wir uns auf die Badestelle Pont Marie bewerben, aber die Zeit war zu knapp. Die Einreichung für Grenelle war später.
Sie haben die Vorgaben der Ausschreibung überschritten. Wieso?
Die Anforderungen hatte ein Schiffsarchitekt definiert, der die Stadt Paris im Vorfeld beraten hat. Es gab nicht genug Badestege, Duschen oder Umkleiden und nichts, was nach Spaß oder Freizeit aussah – nur gerade genug, um ins Wasser zu springen. Wir haben eine Badeinsel hinzugefügt, und Einstieghilfen, damit auch Personen mit eingeschränkter Mobilität ins Wasser können. Außerdem fügten wir Duschen und Trinkbrunnen hinzu. Und Sonnensegel, auch für die Bademeister.
Das heißt, es wurde am Ende teurer.
Ja. Wir wurden noch nicht vollständig bezahlt. Wir diskutieren gerade mit der Stadt, denn letztlich haben die Verantwortlichen im Rathaus entschieden, beispielsweise die Badeinsel zu platzieren. Wir haben Vorschläge gemacht, und sie haben ihr OK gegeben, was umgesetzt wird. Auch die Gestaltung haben wir ambitionierter umsetzen können als vorgesehen. Alle Eingriffe an den Ufern der Seine müssen die Vorschriften erfüllen, die der Hafen von Paris und das Pa-riser Forschungs- und Stadtplanungsbüro APUR erarbeitet haben. Sie legten diese Anforderungen mit einem Architecte des bâtiments de France fest (ABF kümmern sich um Denkmalschutz und städtebauliche Kontrolle und sind dem Kulturministerium unterstellt, Anm. d. Red.). Da gibt es dann Vorgaben zu Maßen, Rahmen, Materialien, Farben. Und wir hatten absolut keine Lust darauf. Sie haben diese Zugangstore vorgeschrieben, 2,50 Meter hoch mit Metallspitzen – schrecklich, wir wollten das nicht.
Was wollten Sie denn?
Einen Ort des Urlaubs, der Freizeit, der für die ist, die nicht in die Ferien fahren können – dieser Ort braucht ästhetischen Anspruch. An der Pont de Grenelle waren wir das einzige Architekturteam, das als Generalplaner agieren konnte. An den anderen Stellen waren Ingenieure federführend. Das hat uns, die wir auf historische Gebäude spezialisiert sind, ermöglicht, tief in die Gestaltung historischer Schwimmbäder einzutauchen. Ab den 1910er Jahren entstanden in Paris mit der Art-Déco-Bewegung viele davon. Sie waren gelb, blau, mit verspiegelten oder glänzenden Elementen und Art-Déco-Formen. So ist es in Paris, Rennes, Bordeaux – immer Gelb und Blau, weil das Sonne und Meer darstellt. Denen, die nicht in den Urlaub fuhren, gab man ein bisschen Süden. Der ABF, der unser Projekt absegnete, war für dieFarben und Motive empfänglich. Die anderen Teams fragten uns danach, wie wir das geschafft hätten. Nun ja, wir haben nachgefragt. Wir wollten uns nicht begnügen. Es ist unsere Rolle als Architekten, solche Versuche zu unternehmen. Das unterscheidet unseren vom Ingenieurs-Leistungsumfang.
In der Seine wurde 2024 während der Olympischen Spiele geschwommen. Hat sich das Event sonst in der Planung bemerkbar gemacht?
Wir haben die Spiele in der Planungsphase überhaupt nicht bemerkt. Für die Stadt waren sie ein Katalysator. Sie haben eine finanzielle Blockade gelöst, bereits Jahre vorher – und dann eine psychologische. Nachdem die Wettkämpfe in derSeine stattfanden, haben die Leute sich gesagt „Niemand ist krank, keinem ist ein dritter Arm gewachsen – wir können reinspringen.“
War es einschüchternd, an diesem Ort zu arbeiten? Er ist sehr symbolisch, der Eiffelturm im Hintergrund.
Ein Bisschen. An der Pont Marie wäre es aber schlimmer gewesen – der zuständige ABFschaute da ganz genau hin. Das liegt im UNES-CO-Gebiet. Grenelle ist knapp außerhalb, auch wenn gegenüber der Eiffelturm steht. Vor allem aber befindet sich die Schwimmstelle am Fuß der Tour Beaugrenelle. Das ist einer der wenigen Orte innerhalb von Paris, wo es Türme aus den 1970ern gibt. Uns war klar: Wir stehen hier sowieso im Schatten. Wir hatten eine Ausdrucksfreiheit, die wir weiter im Zentrum nicht gehabt hätten. Trotzdem: Die Métro fährt hier oberirdisch, von der Brücke über die Seine sieht man das gesamte Projekt. Und dann, plötzlich, hat Emmanuel Macron ein Foto von unse-
rer Badestelle auf Instagram gepostet, ohne Vorwarnung, das Wahrzeichen Frankreichs direkt dahinter.
rer Badestelle auf Instagram gepostet, ohne Vorwarnung, das Wahrzeichen Frankreichs direkt dahinter.
Sie arbeiten auch viel in der klassischen Innenarchitektur. Wie war dieses Projekt für Sie?
Es war das erste Mal, dass wir auf eine öffentliche Ausschreibung reagiert und sie gewonnen haben – also 100 Prozent Erfolg. Normalerweise bewerben sich junge Büros auf unzählige Ausschreibungen, bevor sie eine einzige, meist kleine, gewinnen. Der Einfluss, den es haben wür-de, so ein Objekt in den öffentlichen Raum zu setzen, war sehr besonders für uns. Wir waren uns der Verantwortung, die wir damit einhergeht, bewusst. Das Projekt ist temporär, wäre es misslungen, wäre es schade gewesen, aber eben auch nur auf Zeit. Trotzdem: es musste gut werden.
Es war das erste Mal, dass wir auf eine öffentliche Ausschreibung reagiert und sie gewonnen haben – also 100 Prozent Erfolg. Normalerweise bewerben sich junge Büros auf unzählige Ausschreibungen, bevor sie eine einzige, meist kleine, gewinnen. Der Einfluss, den es haben wür-de, so ein Objekt in den öffentlichen Raum zu setzen, war sehr besonders für uns. Wir waren uns der Verantwortung, die wir damit einhergeht, bewusst. Das Projekt ist temporär, wäre es misslungen, wäre es schade gewesen, aber eben auch nur auf Zeit. Trotzdem: es musste gut werden.
Ein Ziel, das Sie sich für dieses Projekt gesetzt haben, war, „die Menschen im Moment des Eintauchens in die Seine körperlich und psychisch zu beruhigen“. Was bedeutet das?
Seit 100 Jahren hat praktisch niemand mehr in der Seine gebadet, insofern gibt es eine psychische Barriere. Niemand kennt die Temperatur, die Strömung, die Tiefe. An der Unterkante der Pontons sind Gitter angebracht, die Treibgut zurückhalten – beispielsweise Äste. Die Gitter werden jeden Tag gereinigt. Sie sorgen auch dafür, dass niemand versehentlich unter den Ponton gerät. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass das doch passieren sollte, haben wir Lufträume un-ter der Platte gelassen, sodass man den Kopf über Wasser halten könnte, bis Hilfe kommt. Darüber haben sich die Feuerwehrleute gefreut. Für ein gutes Hygienegefühl war es wichtig, dass es gute und ausreichende Duschen gibt. Dann gibt es noch die Intimitätsebene. Es musste geschlossene Umkleiden geben. An der Badestelle Pont Marie gibt es keine, man legt das Handtuch zum Umziehen um, wie am Strand. Das funktioniert nicht gut in einer Metropole. Ich denke vor allem, dass es in einer Stadt wie Paris nicht funktioniert – oder generell in Frankreich. Niemand ist an öffentliche Nacktheit gewöhnt, das gibt es hier überhaupt nicht.
Die Duschen sind allerdings offen.
Wenn man Badesachen trägt, ist man noch nicht ganz so intim. Dieses Duschsystem, das dasselbe ist wie am Strand, funktioniert also gut. Wenn man aus dem Wasser kommt, ist es wie ein Zwischenschritt – man will sich kurz abspülen. Vielleicht fragt man sich, ob das Wasser wirklich sauber war, also tut es gut, gleich zu duschen. Wir wollten außerdem lieber eine Dusche mit Zugschnur, nicht mit einem Knopf, den vorher schon alle gedrückt haben.
Wie kann man an der Badestelle Grenelle in die Seine „eintauchen“?
Wir wollten anfangs eine große Rampe, die sanft ins Wasser hinuntergeht, auch für Rollstühle. Aber die Druckkräfte des Wassers sind zu groß, das ging also nicht. Daher wollten wir zwei An-gebote machen: Es gibt eine Treppe mit Handlauf Richtung Fluss – man kann sich festhalten und mehrere Stufen hinuntergehen, bevor man richtig schwimmt. Und dann gibt es auf der Innenseite des Pontons flachere Stufen, auf die man sich setzen, also erst mal die Füße ins Wasser tauchen kann. Für die Kinder ein richtiges Becken. Es ist ein Familienort.
Ist der Zugang ins Wasser nun barrierefrei?
Ja – mit einem Hebesystem, das wir ein bisschen stigmatisierend finden. Bisher haben das auch noch nicht viele benutzt. Die Aufgabe ist, Personen mit eingeschränkter Mobilität zu sagen: die Einrichtung funktioniert für euch. Sie sind so daran gewöhnt, ausgeschlossen zu sein, dass sie oft gar nicht erst hingehen.
Was war technisch herausfordernd an diesem Projekt?
Erstmal der Ponton: Er muss sich den verschiedenen Wasserständen der Seine anpassen und darf nicht auf eine Seite kippen. Deshalb läuft er auf einem waagerechten Schienensystem. Der Eigentümer – HAROPA, das steht für die Häfen von Le Havre, Rouen und Paris – wollte außerdem, dass alles reversibel ist. Es ist kein öffentlicher Kai. Wir brauchten aber Betonfundamen-te, um den Ponton festmachen zu können. Insgesamt mussten rund 100 Kubikmeter Beton gegossen werden, ohne Baumwurzeln zu beschädigen oder die Mauerfläche des Kais anzutasten. Beim Graben gerät man schnell unter das Niveau der Seine. Wir bauten also „bâtardeaux“, Spundwände, damit kein Wasser eindringen und der Boden einstürzen konnte. Wir mussten mit Saugbaggern arbeiten, um die Wurzeln und Rohrleitungen freizulegen, ohne sie zu beschädigen.
Im Boden verlaufen nicht nur Wurzeln...
...sondern auch Leitungen und Netze – die waren nicht kartiert. Wir mussten extrem aufpassen. Im Hafen liegen auch Hausboote. Wir mussten also unsere Badestelle mit grob 10.000 Litern täglichem Wasserbedarf anschließen, ohne den Betrieb der Kanalisationsleitungen der Boo-te zu stören. Alles läuft in dasselbe Rohr, deshalb haben wir ein Tanksystem eingebaut, bei dem die Abflussmengen elektronisch gesteuert und zeitversetzt erst nachts abgelassen werden. Es gibt also jetzt neue Kanalisationsleitungen. Dann war da noch das Thema mit den Bäumen: In Pa-ris herrscht ein richtiges Trauma, weil vor ein paar Jahren einige Bäume irrtümlich gefällt wurden. Deshalb darf man heute wirklich überhaupt nichts mehr anrühren. Wir mussten alles mit dem Kran machen – die Container setzen, alles montieren –, ohne auch nur einen einzigen Ast zu beschädigen. Da wurde sehr genau hingeschaut. Und: Da wir im Winter gebaut haben, mussten wir mit dem Risiko einer Springflut rechnen – zum Glück kam keine – und auch die Baustelle so konzipieren, dass alles in 48 Stunden hätte demontiert werden können.
Die Pariser Schiffsarchitekten von Yacht Design Collective haben mit am Projekt gearbeitet. Wie lief die Zusammenarbeit?
Perfekt – wir sitzen alle im selben Coworking-Space. Es war kein Debut: Unser erstes Pro-jekt war ein Hausboot. Sie haben an der Kon-struktion und der Stabilität gearbeitet, wir am Innenraum. Dabei geht es ums Gleichgewicht, denn wenn das Boot „gefüllt“, wird, muss das symmetrisch passieren. Dieses Projekt wären wir ohne sie nicht angegangen, wir wären technisch nicht in der Lage gewesen, Themen wie Auftrieb und Stabilität zu meistern. Unsere Arbeitsgemeinschaft hat gewonnen.
Wie wurde die Badestelle in diesem Sommer angenommen?
Alle, mit denen ich gesprochen habe, waren zufrieden. Die Leute lächeln, wenn sie ins Wasser gehen. Auf TikTok gab es wahnsinnig viele Videos, sehr spontane, ungezwungene Reaktionen. Ich habe von einer Dame gehört, 98 Jahre alt, die sagte: „Ich will in der Seine baden, bevor ich sterbe“ – die Betreiber waren ein bisschen panisch, aber sie schwamm sehr gut und war überglücklich. Auch eine blinde ältere Da-me konnte schon ihre Bahnen ziehen. Es ist vielen ein wirkliches Anliegen, hier baden gehen zu können. Die Badeinsel ist wie ein Magnet, einmal wäre sie fast umgekippt.
Außerhalb der Schweiz oder Dänemarks ist es in Europa außergewöhnlich, in Flüssen von Metropolen schwimmen zu können. Wie verändert es eine Stadt, wenn es geht?
Enorm. Es macht in der Stadt einen Unterschied, zu wissen: theoretisch könnte ich mich im Was-ser erfrischen, gerade wenn es keinen Strand gibt – es verändert die eigene Beziehung zu einer Stadt. Paris ist sehr dicht, die Seine ist ein großer, offener Raum. Hier sind dann auf einmal 200 Meter von einem Ufer zum anderen frei, zack, es gibt einen Kilometer Sicht. Gleichzeitig denke ich, wir sind in Frankreich für vieles nicht bereit. Das war jetzt ein Anfang, nächstes Jahr geht die Saison vielleicht länger – aber die Bo-jen sind trotzdem noch da. In Basel oder Bern können die Leute einfach im Rhein baden. Da gibt es keine Barrieren, sondern ein anderes Verhältnis zum Fluss, der vielleicht sauberer ist und vielleicht weniger frequentiert, aber trotzdem nicht leer. Hier hat man es mit Absurditäten zu tun: An der einen Uferstelle muss eine Balustrade gesetzt werden, „falls jemand runterfällt“, 20 Meter weiter dann nicht – weil da eine Einrichtung ist, die Publikum empfängt, und nochmal 20 Meter weiter ist öffentlicher Raum. Da gibt es eine Gefahr, da gibt es keine – dabei ist sie überall gleich hoch. Wir können nicht entlang der ganzen Seine Barrieren setzen. Vielleicht werden die Badestellen ein neues Verhältnis zum Fluss ermöglichen. Wir könnten lernen, kollektiv intelligent zu sein, zu baden, wenn es möglich ist, wo es möglich ist, ohne Exzesse.
Alles eine Frage der Einstellung?
Hier hat man eine riesige Angst vor „Bad Buzz“ – dass jemand einen Unfall hat und dann die ganze Verantwortungskette losgeht, bis am Ende die Bürgermeisterin von Paris schuld ist. Vielleicht wäre das gar nicht so. Vielleicht müssten wir lernen, das anders einzuordnen.
Charles Freudiger studierte Rechtswissenschaften und Politikwissenschaften an der Université Paris-Panthéon-Assas, bevor er an der Ecole Nationale Supérieure d‘Architecture de Paris Malaquais in Architektur diplomierte. Er ist auf Denkmalschutz spezialisiert. 2017 gründete er mit Léa Matray mater studio in Paris. Das Duo ist überwiegend im Bestand tätig.







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