Was in Chemnitz gebaut wurde, war selten Durchschnitt
Die Chemnitzer Kulturbürgermeisterin Dagmar Ruscheinsky und der scheidende Baubürgermeister Michael Stötzer im Gespräch über ihre Stadt im Kulturhauptstadtjahr und darüber hinaus.
Text: Landes, Josepha, Berlin
Was in Chemnitz gebaut wurde, war selten Durchschnitt
Die Chemnitzer Kulturbürgermeisterin Dagmar Ruscheinsky und der scheidende Baubürgermeister Michael Stötzer im Gespräch über ihre Stadt im Kulturhauptstadtjahr und darüber hinaus.
Text: Landes, Josepha, Berlin
Herr Stötzer, Sie sind Architekt und waren zehn Jahre lang Baubürgermeister von Chemnitz. Was zeichnet das Chemnitzer Stadtbild aus?
Michael Stötzer Vielfalt! Diese Vielfalt an Bau-Epochen und Baustilen entsteht auch durch die vielen Brüche, die es in der Stadtgeschichte gibt. Sie gehen fünfhundert Meter durch die Stadt und haben mindestens drei, vier Bauzeiten zu bestaunen. Wunderbare Solitäre, Grünanlagen. Diese Vielfalt ist unsere Basis für Kul-tur. Auch Baukultur gibt es nur durch Vielfalt.
Dagmar Ruscheinsky Ich finde auch, das Chemnitzer Stadtbild zeichnet sich durch seine Klasse aus: Was hier gebaut wurde, war selten Durchschnitt. Chemnitz hat sich Architekten wie Henry van de Velde geholt, Erich Mendelssohn für den Schockenbau, Hans Poelzig für die Erweiterung einer Bademodenfabrik. Ich finde es spannend, wie deutlich in Chemnitz die Stadtentwicklung der letzten zwei Jahrhunderte ablesbar ist, über den Kaßberg, eine der größten zusammenhängenden Gründerzeit- und Jugendstilviertel in Deutschland, bis hin zur „sozialis-tischen Musterstadt“.
Welche Ansätze gibt es, auch der zeitgenössischen Architektur eine gute Spielwiese zu bieten?
Dagmar Ruscheinsky Auch nach der Wiedervereinigung sind hier hervorragende Bauten entstanden: Am Markt haben zum Beispiel Hans Kollhoff, Helmut Jahn und Christoph Ingenhoven gebaut.
Michael Stötzer Ein gutes Angebot sind Wettbewerbe der öffentlichen Hand für städtische Vorhaben. Dies gilt auch für andere Organisationen oder private Auftraggeber. Momentan organisiert die Architektenkammer einen studen-tischen Architekturwettbewerb für die Innenstadt. Es geht um eine Multifunktionshalle und andere neue Stadtstrukturen. Auch wenn sie nicht eins zu eins umgesetzt werden, können diese Ideen Anregung für Diskussionen in der Stadtgesellschaft bieten.
Wie steht es um die junge Architektur-Szene in der Stadt?
Dagmar Ruscheinsky Langfristig ist das Ziel, die Ausbildung für Architektur, Design, Gestaltung stärker in Chemnitz zu verankern. Wir haben namhafte Gestalter in Chemnitz gehabt, allen voran Karl Clauss Dietl, der sich bereits ein Forum für Gestaltung für Chemnitz vorgestellt hat. Auch die Kulturhauptstadt soll dem Rückenwind geben. Wir spüren viel positive Überraschung bei Besuchern, die noch nie in Chemnitz waren.
Inwiefern verbinden Sie mit der Kulturhauptstadt auch den Wunsch nach Wachstum?
Michael Stötzer Chemnitz war jahrzehntelang eher durch die Abnahme von Bevölkerung geprägt. Der Tiefstwert lag 2003 bei gerade einmal 225.000. Mittlerweile sind wir wieder bei 250.000. Das ist ein moderates Wachstum. Nichtsdestoweniger hatten wir zwischenzeitlich 80.000 Einwohner verloren – so viele Menschen leben in einer mittelgroßen Stadt! Das bedeutet: Die Jacke, die wir nutzen, die gesamte Infrastruktur und die Gebäudeanzahl, ist zurzeit noch zu groß. Wir sorgen uns also nicht wegen Zuwachs. Die vorhandenen Strukturen können sehr gut neue Bürgerinnen und Bürger aufnehmen. Trotzdem gibt es Potenzialanalysen, und auch Planungen die Verkehrsinfrastruktur betreffend. Um die Infrastruktur effektiv zu nutzen, muss die Stadt wachsen. Wir müssen uns nicht mit Problemen beschäftigen wie Städte, die enormen Zuwachs hatten, so wie Frankfurt oder Berlin. Bei uns ist der Bestand eine Reserve, mit der man Geduld haben muss. Oder andersrum: Die Gebäude müssen Geduld haben mit den Menschen. Wenn sie nicht zu desolat werden, sind sie ein Schatz, der sich auch nach Jahren bergen lässt. Man darf sie nicht voreilig aufgeben.
Dagmar Ruscheinsky Wir sehen das anhand der Industriearchitektur. Von dreihundert denkmalgeschützten Fabrikanlagen waren nach der Wiedervereinigung nur noch gut hundert in Betrieb. Mittlerweile ist es gelungen, hundert weitere wieder in Betrieb zu nehmen – ihnen völlig neues Leben einzuhauen. Natürlich haben Industrie undGewerbe mittlerweile andere Vorstellungen von Immobilien. Sie müssen sich bei jedem einzelnen Objekt ein völlig neues Konzept überlegen.
Verfolgen Sie experimentelle Nachnutzungsansätze?
Dagmar Ruscheinsky Im Rahmen der Kulturhauptstadt wurden drei Industriebauten als Innovationsflächen ausgewiesen. Die Kreativwirtschaft bespielt diese riesigen Flächen nun eher kleinteilig. Vieles läuft in Chemnitz unter der Überschrift Transformation. Einige Fabriken sind zu Wohnungen umgenutzt worden oder zu Common Spaces. Natürlich kann das nicht immer von der öffentlichen Hand ausgehen. Man braucht auch private Investoren, und ich glaube, dass die Kulturhauptstadt dem Schwung verleihen kann.
Auch das Schauspiel bespielt derzeit eine alte Spinnereimaschinenfabrik.
Dagmar Ruscheinsky Das Schauspielhaus in der Innenstadt steht unter Denkmalschutz und ist sanierungsbedürftig. Die Ausweichspielstätte ist jene Spinnereimaschinenfabrik. Derzeit suchen wir mit den Kollegen aus dem Baudezernat nach Lösungen für eine neue Spielstätte. Es ist ein traditionsreiches Theater. Frank Castorf hat hier inszeniert, Ulrich Mühe und Corinna Harfouch standen auf der Bühne. Der Bestandsbau weist Defizite auf, was die Bühnentechnik angeht oder die Verfügbarkeit von Bühnenräumen.
Michael Stötzer Die Standortfrage für das Schauspiel wurde in den vergangen Wochen umfassend analysiert. Es gibt verschiedene Optionen. Im Ergebnis sind wir aber vom Vorhaben eines vollumfassenden Neubaus abgerückt. Ich habe über Jahre auch nie den Wunsch aus der Bevöl-kerung vernommen: Wir wollen noch einen Neubau für dies oder das. Im Gegenteil, es kam immer eher: Wir haben ja noch so viel und das wird nicht effektiv genutzt. Chemnitz bietet mit industriellen Quartieren einzigartige Standorte, die geeignet sein könnten.
Dagmar Ruscheinsky Das alte Schauspielhaus war übrigens ein Provisorium, das sich verstetigt hat. Ich halte es für wichtig, den Geist des Theaters zu erhalten. Dass muss nicht in den-selben Mauern geschehen. Es ist immer schwer, Liebgewonnenes loszulassen, aber ein anderer Standort kann auch bessere Potenziale bieten. Wir müssen überlegen, welches Theater wir uns für die Zukunft wünschen.
Apropos Perspektive: Die Konzeption eines neuen städtischen Mobilitätskonzepts scheint schwierig zu sein.
Michael Stötzer Es gibt schwer zu versöhnende Ansichten, etwa was den Radverkehr angeht oder das Parken in der Innenstadt. Man merkt, dass Mobilität die Gemüter erregt und auch spaltet. Viele sind nach wie vor der Meinung, Chemnitz wäre aus seiner Tradition heraus eine Autostadt. Die Auto Union, heute Audi, wurde hier aus vier Fahrzeugbauunternehmen gegründet, und bis heute werden in der Region Autoteile hergestellt. Aber das ist keine Begründung und darf schon gar keine Ausrede für die Zukunft sein. Hier wurden auch Fahrräder gebaut und Lokomotiven. Dennoch lässt sich das Nutzerverhalten schwer lenken; es gibt ein großes Unverständnis, wenn man überdimensionierte Fahrbahnen zugunsten von Grün oder Fahrradwegen zurückbauen möchte, Straßenbahnen einbringt oder Sharing-Angebote vorschlägt. Im Stadtrat gibt es trotzdem Übereinstimmungen für das wesentliche und größte Infrastrukturprojekt, auch über Fraktion hinweg: Das Chemnitzer Modell verbindet die Straßenbahn mit dem Schienennetz, sodass der Stadtverkehr auch die Umlandgemeinden erreicht. Man kann quasi direkt aus dem Zentrum ins Erzgebirge hochfahren. Auch zusätzliche Straßenbahnstrecken sind in Planung.
Andererseits ist die Einbindung ins überregionale Fernverkehrsnetz schlecht. Gerade im Kulturhauptstadtjahr fällt das auf. Woran liegt das?
Michael Stötzer Laut Bundesverkehrsregelungsplan ist die Anbindung Chemitz-Leipzig schon seit sieben Jahren beschlossene Sache. Die Deutsche Bahn steckt aber immer noch in der Entwurfsplanung. Die Gäste der Kulturhauptstadt sind natürlich nicht begeistert von der Bahnanbindung. Es gibt nun auch ein Angebote von der Deutschen Bahn, die Strecke Berlin-Dresden nach Chemnitz zu führen. Leipzig wäre aber das Drehkreuze in den Rest Deutschlands.
Auf welcher Ebene muss der Druck steigen?
Michael Stötzer Auf allen. Unser Oberbürgermeister ist hartnäckig. Wir brauchen als Stadt eine angemessene Anbindung an den Bahn-Fernverkehr.
Wie verbunden sind Sie mit anderen Kulturhauptstädten?
Dagmar Ruscheinsky Mit unserer Zwillingskulturhauptstadt Nova-Gorica/Gorizia stehen wir in engem Austausch. Außerdem gibt es regelmäßig Treffen der ehemaligen, aktuellen und künftigen Kulturhauptstädte Europas. In diesem Jahr feiert das Format Jubiläum: 40 Jahre European Capitals of Culture! Deshalb gab es kürzlich bei uns ein Treffen, um das Thema Kulturhauptstadt, dass damals von der griechischen Kulturministerin Melina Mercouri ins Leben gerufen wurde, auch für die Zukunft fit zu machen. Wir haben ein White Paper verabschiedet mit 40 Punkten. Zum Beispiel geht es eben stärker um die Vernetzung in Europa.
Konkret im Kulturhauptstadtprogramm haben wir einen Austausch im Garagencampus orga-nisiert. Dort treffen sich Lebensgeschichten aus Chemnitz und Nova-Gorica. Nova-Gorica ist eine neue Stadt, die erst nach dem Krieg entstanden ist. Im Grunde gab es diesen slowenischen Teil nicht. Durch die Grenze befand sich das ursprüngliche Stadtzentrum plötzlich im italienischen Go-rizia. Man musste also eine neue Kernstadt generieren. Genau deshalb gibt es viele bauliche Ähnlichkeiten mit Chemnitz: Hier waren 80 Prozent des Zentrums zerstört. Und der Wiederaufbau erfolgte in einer ähnlichen Bauzeit. Chemnitz musste sich auch neu erfinden. In diesem Projekt mit den Lebensgeschichten tauschen sich Menschen aus Chemnitz und Slowenien darüber aus, was die Teilung mit ihrem Leben gemacht hat.
Michael Stötzer Chemnitz ist zwar keine geteilte Stadt, aber die Lage in einem geteilten Land hat die Mentalität geprägt.
Karl-Marx-Stadt war als sozialistische Musterstadt angelegt, die auf Funktionalität und Repräsentation setzte. Welche Vor- und Nachteile ergeben sich aus diesen strukturellen Relikten?
Michael Stötzer Es gibt natürlich Defizite, an denen wir arbeiten, um die Stadt lebendiger werden zu lassen. Dabei geht es aber nicht nur ums bauliche Ergänzen, sondern auch ums Umgestalten. Die Großzügigkeit, mit der die Stadt nach dem Krieg angelegt worden ist, war für eine Einwohnerzahl von 500.000 ausgelegt. Da hat man die Straßen groß gebaut, die Gebäude groß gebaut, einen ganz anderen Maßstab gewählt. Das ist nicht eingetreten, und wir müssen mit diesen Strukturen umgehen.
Wir haben im letzten Jahr unseren Rahmenplan Innenstadt überprüft und überlegt: Was können wir uns für die Zukunft vornehmen? Erstaunlich für mich war, dass die Menschen das bauliche Erbe aus der DDR-Zeit durchaus mittlerweile wieder wertschätzen und gar nicht so viel verändern wollen. Mit Blick auf die Klimaveränderungen bietet unsere in weiten Teilen lockere Bebauung regelrecht Chancen: überdimensionierte Verkehrsflächen bergen grüne Poten-ziale, man sollte sie nicht alle mit Gebäuden überbauen. Vielleicht brauchen ja auch die nächste Generationen den Raum einmal dringender. Wir wollen gar nicht mehr so viel Dichte.
Ziel des DDR-Städtebaus war es auch, Indus-trie und Arbeiterklasse ins Zentrum zu rücken. Was ist denn von diesem Geist noch spürbar?
Michael Stötzer Hier gibt es nicht die Tendenz, das bauliche Erbe der DDR-Zeit ausradieren zu wollen. Die Bürger wissen, dass ihre Stadt keine Idylle ist, sondern eine schroffe Schönheit hat, die etwas gewöhnungs- oder erkundungsbedürftig ist.
Dagmar Ruscheinsky Im Kulturhauptstadtjahr merken die Chemnitzer, die gern mal ihr Licht unter den Scheffel stellen, zunehmend, was sie an ihrer Stadt haben. Sie ist gewiss nicht lieblich, aber trotzdem attraktiv. Nach der Wende wurde im Zentrum viel neu gebaut. Das Ziel der sozialistischen Musterstand war im Ansatz stecken geblieben, und es gab viele Freiflächen rund ums Rathaus. Es wäre in Chemnitz undenkbar gewesen, wie in Dresden auf dem Neumarkt, historisierende Fassaden aufzubauen. Man hat sich für zeitgenössische Architektur entschieden, weil Chemnitz eigentlich immer schon zeitgenössisch orientiert war. Deswegen auch der Slogan „Stadt der Moderne“.
Der Slogan wurde nach den fremdenfeindlichen Ausschreitungen von 2018 neubewertet. „Modern“ zielt jetzt auch auf Weltoffenheit und Dynamik. Welche Programmpunkte thematisieren diese Aspekte im Kulturhauptstadtjahr?
Dagmar Ruscheinsky Wir wollen die Chemnitzer Bürgerschaft von innen heraus zu Aktivität ermuntern, zum Beispiel mit der Programmlinie „freundliche Nachbarn“. Wir wollen Räume zum Einander-Zuhören schaffen, das kann auch in einem Garagenkomplex stattfinden. Ausschlaggebend für den Zuschlag der EU war bestimmt auch, dass wir ein nicht nur für Chemnitz relevantes Thema abbilden. Gesellschaften überall in Europa sind mit extremistischen Tendenzen konfrontiert. Antworten darauf liegen nicht auf der Hand, sondern man muss sie sich selbst erarbeiten. Das ist ein langwieriger Prozess. Und der erste Schritt ist gegenseitiges Zuhören. Wir müssen zusammenkommen und sprechen: Was ist eigentlich passiert? Wie konnten es dazu kommen, was lernen wir daraus für die Zukunft? Der Begriff der stillen Mitte ist nicht beliebt, aber wir wollen diese schweigende Mehrheit anregen, sich einzumischen, anstatt zu sagen: Na, da geh ich jetzt lieber heim, wenn die Rechtsextremen marschieren.







0 Kommentare