Bauwelt

Grüße aus Weimar

Weimar ist mit Sicherheit die Stadt in Deutschland, deren physische Ausmaße und historische Bedeutung am krassesten auseinanderfallen.

Text: Costadura, Leonardo, Weimar

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Grüße aus Weimar

Weimar ist mit Sicherheit die Stadt in Deutschland, deren physische Ausmaße und historische Bedeutung am krassesten auseinanderfallen.

Text: Costadura, Leonardo, Weimar

Die Ansichtskarte lässt die Beschaulichkeit des 60.000-Einwohner-Städtchens erahnen und zeigt zugleich einen konsistenten Bestandteil ihrer Bedeutung. Im Vordergrund ist das Stadtschloss der Ernestiner zu sehen – jener Herrscherdynastie, welche die vielen Geistesgrößen nach Weimar holte, die es so berühmt machen sollten. Weiter hinten die Stadtkirche St. Peter und Paul, in der Johann Gottfried Herder predig-
te wie vor ihm schon Martin Luther, in der Lukas Cranach der Ältere und der Jüngere einen monumentalen Dreiflügelaltar schufen und in der Johann Sebastian Bach am Anfang seiner Kar­riere musizierte. Am rechten Bildrand: der Turm der Jakobskirche, in der sich Johann Wolfgang von Goethe und Christiane Vulpius das Jawort gaben und auf deren Kirchhof Letztere wie auch Cranach der Ältere begraben liegt. Das ist nicht wenig deutsche Kulturgeschichte für gerade einmal drei Gebäude.
Ich bin in Weimar aufgewachsen. Dass meine Eltern mit uns Kindern – es war im Jahr 1996 – dorthin zogen, lag nicht zuletzt an ebenjenem Image und an der Schönheit der Stadt. Wir wa-ren Teil eines Phänomens, das durchaus zu den denkwürdigen, ja auch ungerechten Aspekten der Wiedervereinigung zählt. Es wurden damals dringend neue Lehrer, Professoren, Richter, Ministerialbeamte und Ärzte benötigt – und sie kamen in der Regel aus dem Westen. Sehr viele von denen, die dann in den Ministerien und Behörden in Erfurt oder an der Universität in Jena arbeiteten, zogen nach Weimar. Dort kauften die Gutsituierten unter ihnen jene Villen, die teils ihre ideellen Vorgänger, kulturbeflissene Privatiers um 1900, teils großkopferte Nazi-Honora­tioren gebaut hatten. Die erste Sorte Häuser war dem Eklektizismus der Jahrhundertwende verpflichtet und sah aus, wie sich ihre Bewohner fühlten: zu spät gekommen nämlich, und hatten da­-rin ihren ganz eigenen morbiden Charme. Die zweite Sorte Häuser hingegen befand sich stilistisch und typologisch auf halber Strecke zwischen Goethes Gartenhaus und Wehrmachtskasernen (vgl. „Letzte Seite“ der Bauwelt 24.2022).
Weimar ist aber noch etwas anderes als die Stadt der Dichter und Denker. Im Bildhintergrund der Postkarte ist oben auf dem Ettersbergder Turm des Buchenwald-Mahnmals zu sehen. Er wurde 1954 bis 1958 an einer Stelle errichtet, an der von 1901 bis 1949 der Bismarckturm gestanden hatte, zu dem die oben erwähnten Privatiers der späten Kaiserzeit gerne pilgerten. Das KZ Buchenwald, in dem zwischen 1937 und 1945 fast 300.000 Menschen inhaftiert waren und 56.000 Menschen ermordet wurden, stand in Verbindung mit dem großen Weimarer Indus­triebetrieb – ja, „Ilm-Athen“ hat überraschenderweise eine eigene Industriegeschichte. 1898 wurde nämlich die „Waggonfabrik Weimar“ gegründet, die eben während des Nationalsozia­lismus unter dem Namen Gustloff-Werk der Waffenproduktion diente. Viele Zwangsarbeiter sowie Häftlinge aus Buchenwald wurden hier durch Arbeit vernichtet.
Nach dem Krieg wurde aus der Fabrik der VEB Weimar-Werk, in dem nunmehr vornehmlich landwirtschaftliche Maschinen produziert wurden. Nicht zuletzt für die Arbeiter und ihre Fami­lien wurden in den siebziger Jahren zwei Plattenbausiedlungen errichtet, Weimar-West und Weimar-Nord (auf der Postkarte im Bildhintergrund zu erkennen: Weimar-West hinter dem Glockenturm von St. Peter und Paul, Weimar Nord in einer Mulde links vom Jakobskirchturm). Heute leben dort zusammengenommen immer noch 11.000 Menschen – ein Sechstel der Stadtbevölkerung. Mit den anderen fünf Sechsteln der Stadt gibt es nicht sonderlich viel Austausch, um es einmal ganz sanft zu formulieren – zumal sie auch räumlich stark getrennt sind. Das Weimar-Werk wurde in den neunziger Jahren liquidiert, und die lokale Fußballmannschaft, die in Bezug auf das Werk „Motor Weimar“ hieß und ein sehr hübsches Logo hatte, wurde in „SC 1903 Weimar“ umbenannt. Möge sie zur Strafe auf ewig Kreis­liga spielen.
Seit meiner Kindheit hat sich Weimar gewaltig herausgeputzt. Kaum ein Haus noch, an dem der braune Putz bröckelt… kaum eine Spur noch von der DDR. Aus der nationalsozialistischen, unvollendet gebliebenen „Halle der Volksgemeinschaft“ auf dem Gauforum wurde eine Halle der Konsumgemeinschaft: das Shopping-Center Weimar Atrium. Es zeichnet sich dadurch aus, dass es das Betongerippe hinter einer textil anmutenden Fassade verschwinden lässt, auf der die Dame mit dem Hermelin von Leonardo da Vinci und das Déjeuner sur l’herbe von Édouard Manet abgebildet sind; man hätte es in seiner Beliebigkeit nicht besser treffen können. Die Zeitschichten mit ihren klaren Linien und grotes­-ken Windungen, Abgründen sowie Glanzlichtern bleiben trotz mancher Verdrängung und Ver­wischung sichtbar – man muss nur genau hinschauen.

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