Bauwelt

Meinhard von Gerkan

1935–2022

Text: Redecke, Sebastian, Berlin

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    Meinhard von Gerkan auf der Baustelle des Flug­ha­fens Tegel (circa 1970). Mit seiner Super-8-Kamera dokumentierte er laufend den Bauprozess.
    Foto: gmp Archiv

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    Meinhard von Gerkan auf der Baustelle des Flug­ha­fens Tegel (circa 1970). Mit seiner Super-8-Kamera dokumentierte er laufend den Bauprozess.

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    Im Juni 2020: Meinhard von Gerkan und Volkwin Marg bei ihrem letzten gemein­samen Besuch des Flughafens Tegel vor der Schließung.
    Foto: Marcus Bredt

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    Im Juni 2020: Meinhard von Gerkan und Volkwin Marg bei ihrem letzten gemein­samen Besuch des Flughafens Tegel vor der Schließung.

    Foto: Marcus Bredt

Meinhard von Gerkan

1935–2022

Text: Redecke, Sebastian, Berlin

Zu Beginn des Grundstudiums 1979 war man bei der Fahrt hinauf ins 15. Obergeschoss des Oesterlen-Okerhochhauses der TU Braunschweig sehr angespannt. Dort oben befand sich Meinhard von Gerkans Lehrstuhl für Gebäudelehre und Entwerfen, später Institut für Baugestaltung A. Als Studienanfänger hatte man noch eine große Distanz zu diesem Lehrstuhl, aber das Buch „Architektur 1966–78 von Gerkan Marg und Partner“, das in Gerkans Vorlesungen zur „Theorie des Entwerfens“ Erwähnung fand, gab es dort günstig zu kaufen. 1982 folgte das Buch „Die Verantwortung des Architekten“ mit den Grundsätzen seines Architekturverständnisses. Wieder und wieder ging es ihm um das „Sinnfällige“, um die sich sozial, ökonomisch und konstruktiv erklärende Architektur. Später dann, im Hauptstudium mit dem kleinen oder dem großen Entwurf an seinem Institut, wussten die Studierenden, dass Experimentelles nur in einem engen Rahmen möglich war. Der Entwurf musste Klarheit bieten und in allen Punkten plausibel erklärt werden können, damit er bei der Korrektur mit Meinhard von Gerkan – falls dieser als große Erscheinung persönlich zugegen war – durchkam. Wieder war die Anspannung groß; es gab öfters deutliche Kritik und auch Tränen.
Die schnellen Stegreifaufgaben, die damals innerhalb von vier Tagen vorliegen mussten, verlangten ebenfalls eine klare entwurfliche Position. 1986 stellte sein Lehrstuhl die Aufgabe „Haus am Finkenwerder Norderdeich“, mit dem Hintergrund, dass ein Bauherr in den Besitz eines Grundstücks gekommen war, für das er weder einen zwingenden Bedarf noch eine Nutzung hatte: „Planen Sie am besten ein Haus, das für Sie und auch für mich ein Denkmal sein könnte.“ Wobei finanzielle Erwägungen eine nachgeordnete Rolle spielen durften. Von der Zeit der frühen Achtziger mit Aldo Rossi geprägt und aus Italien zurück, zeichnete ich ein „Denkmal“ zum Wohnen mit Säulen. Zu meinem großen Erstaunen nannte mich Meinhard von Gerkan einen „Römer“ und benotete großzügig, obwohl Postmoderne Architektur für ihn in der Vorlesung vergleichbar war mit dem „Kauf von Pudding oder eingemachtem Hering im Supermarkt“.
Meinhard von Gerkan gelang es, an nur einem Tag in der Woche mit größter Effizienz ab dem frühen Morgen seine Professur in Braunschweig zu absolvieren, Termin an Termin mit dem Assistententeam bestens strukturiert, bis er im Jaguar XJ 12 in die Nacht Richtung Hamburg entschwand. Die Lehre mit großer Praxisbezogenheit ist nur eine der vielen Facetten des Architekten, aber sie ist wichtig, denn sie korrespondiert ganz unmittelbar mit der Entwurfsarbeit in seinem Büro von Gerkan Marg und Partner (gmp). Gute Absolventen, die in Hamburg oder an einem anderen Standort von gmp ins Berufsleben starteten, bestätigten dies. Im Team lernten sie Meinhard von Gerkan mit seinen großen Stärken im pragmatischen Entwurfsverständnis kennen, das auf struktureller Logik und Ordnung aufbaut.
Wie fortfahren? Wie den Architekten näher beleuchten? Sein Leben begeistert schon insofern, da er aus dem Nichts zusammen mit seinem Studienfreund Volkwin Marg unglaublich viel Glück hatte. Ein Jahr nach dem Diplom gewannen sie den Wettbewerb für den Berliner Flughafen Tegel, basierend auf einer genialen Konzeptskizze. Sie wurden beauftragt, und der erste Bauabschnitt eröffnete 1974. Dies war der Schlüssel. Ihre Namen wurden schnell bekannt, und es ergaben sich weitere Aufträge, meist über Wettbewerbserfolge. 1974 gewannen sie gegen 600 Konkurrenten den weltweit offenen Wettbewerb für die Nationalbibliothek in Teheran. Doch blickt man weiter zurück, an die Anfänge, so waren sie für Meinhard von Gerkan alles andere als einfach. Er stammte aus Riga, hatte eine schwere, vom Krieg geprägte Kindheit mit dem Tod der Eltern, gelangte zu einer Pflegefamilie nach Hamburg und ging zum Abendgymnasium. Es folgte das Architekturstudium in Berlin und Braunschweig, das er 1964 abschloss.
Die große Kontinuität des Büros, das er 57 Jahre lang zusammen mit Volkwin Marg mit entschiedener Handschrift und wenig beeinflusst vom Zeitgeist leitete, ist beeindruckend. Auch zuletzt ergaben sich ein Großteil der Aufträge über Wettbewerbe. In wenigen Zeilen die Schwerpunkte im großen Werk von gmp zu setzen ist unmöglich, es gibt zu viele Bauten und Projekte. In den achtziger Jahren war es sicherlich das Hamburger Hanse-Viertel, eine überzeugend ins Quartier eingepasste Einkaufspassage mit sehr viel Klinker, besten Lichtverhältnissen und „ohne Reklame“ – heute nicht denkbar. Von Bedeutung sind auch die Flughäfen in Stuttgart und Hamburg. Viel später folgte für gmp im großen Stil die Öffnung zur Welt mit den Stadien: Berlin, Frankfurt am Main, Warschau, Bukarest, Krasnodar (Russland). Besonders zu den Fußballweltmeisterschaften in Südafrika und in Brasilien sind ihre Bauten von großer Eleganz auf viel Beachtung gestoßen. In Katar war man nicht beteiligt.
Eine weitere Facette ist der beispiellose Erfolg Meinhard von Gerkans als Architekt in China, einem Land, das er voller Leidenschaft kennenlernte, mit vielen Einblicken in die Kultur und in die Strukturen der Baupolitik. Hier paarte sich der Pragmatismus seiner Architektur mit einer Symbolik, die in China zur Architektur dazugehört und somit „sinnfällig“ ist. Nach dem Gewinn des Wettbewerbs für die Deutsche Schule Peking 1998 folgten zahlreiche Großprojekte wie zuletzt das riesige Grand Theater in Tianjin. Der Umbau und die Erweiterung des Nationalmuseums am Platz am Tor des Himmlischen Friedens in Peking stellte auch Fragen zur Position des Architekten zur politischen Lage in China. Etliche Bürokomplexe entstanden, die allerdings nicht alle überzeugen. Sie passen nicht zu einem seiner Leitsätze: „Der einzige Parameter unserer Sinngebung liegt im gesellschaftlichen Gemeinnutzen des jeweiligen Objekts.“ Spektakulär war 2003 der Masterplan für die völlig neue Stadt Lingang südöstlich von Shanghai für zunächst 300.000 Einwohner, die basierend auf Meinhard von Gerkans erster Skizze konzipiert und umgesetzt wurde. In ihren großen Gesten, vor allem den klaren Zonierungen der Wohnquartiere, erinnert sie ein wenig an Brasilia von Lúcio Costa und Oscar Niemeyer, aber die Mitte der kreisrunden Stadt ist leer. Dort befindet sich ein großer See als Ort der Ruhe. Ein pragmatischer, kein visionärer Entwurf. Auch in Vietnam wurde Meinhard von Gerkan gefeiert. Es entstanden die Vietnamesische Nationalversammlung, das Innenministerium und das Kongresszentrum, in Ho-Chi-Minh-Stadt 2008 der Bürokomplex „Deutsches Haus“. Zu jener Zeit arbeiteten mehr als 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für gmp an vielen Standorten weltweit, darunter auch Hanoi.
Zu nennen sind auch Sonderaufgaben, zum Beispiel die aus Einzelelementen zusammengesetzte Kirche in Volkenroda, die zuvor als Christus-Pavillon auf der Expo 2000 in Hannover zu sehen war, oder 2012 die Crystal Hall, die in nur acht Monaten Planungs- und Bauzeit als Veranstaltungshalle in Baku, Aserbaidschan, errichtet wurde. In Dresden modernisierte gmp mit großer Hingabe den Kulturpalast aus dem Jahr 1969, wofür das Büro 2019 den DAM-Architekturpreis erhielt.
Das gesamte Werk von gmp wurde kontinuierlich in Büchern vorgestellt. Ich kenne kein anderes Büro, das in diesem Umfang und in dieser Bandbreite in Veröffentlichungen seine Bauten und Projekte dokumentiert und auch sonst Bücher zum Architekturgeschehen publiziert. Aus der Reihe von Ausstellungen war wohl „Aus freier Hand“ von 2015 mit den Architekturzeichnungen Meinhard von Gerkans im eigenen Hamburger Architektursalon die persönlichste.
Doch es gab auch Enttäuschungen, Misserfolge. Besonders beim Hauptbahnhof in Berlin und beim Hauptstadtflughafen BER. Meinhard von Gerkan echauffierte sich heftig, insbesondere als Bahnchef Hartmut Mehdorn 2006 kurzerhand die Deckengestaltung in der 430 Meter langen unterirdischen Bahnhalle strich und das Glasdach über den Gleisen verkürzte, um Zeit und Geld zu sparen. Nach der skandalösen Verzögerung der Fertigstellung des Flughafens BER und der Trennung der Flughafengesellschaft von den Architekten zählte Gerkan 487 Änderungen und Anordnungen bei den Plänen auf, die zu diesen Verschiebungen der Eröffnung über Jahre geführt hätten. Für ihn sei der Flughafen danach zu einer „Einkaufsmall mit Flughafenanschluss verkümmert“. Meinhard von Gerkan schrieb im Zorn 2013 das Buch „Black Box BER – Wie Deutschland seine Zukunft verbaut“. Der Flughafen ging erst Ende 2020 in Betrieb.
Wichtig war Meinhard von Gerkan in den letzten Jahren das „Weitergeben“, weshalb gmp 2007 die Academy for Architectural Culture (acc) gründete. Die Stiftung mit Sitz in der sanierten ehemaligen Seefahrtsschule aus den 1930er Jahren an der Rainvilleterrasse in Hamburg bietet internationale Workshops an. Der Herbstworkshop 2022 mit vier kleinen Teams von Studierenden und Gastdozenten befasste sich mit dem Dresdner Residenzschloss, mit dem Ziel, neue Konzepte für bestehende Räume der Museumsmitarbeiter innerhalb der Schlossmauern zu entwickeln. Die souveräne Fähigkeit Meinhard von Gerkans, mit den Partnern im Büro zu arbeiten und mit ihnen Konzepte im Dialog und undogmatisch gemeinsam bis zur Fertigstellung durchzustehen, war eine wichtige Basis für den großen Erfolg. Ohne diese Sicherheit und Verlässlichkeit in einer gut strukturierten Zusammenarbeit im Team hätte er ein so großes Büro an mehreren Standorten nicht leiten können; und die Bauherren waren eingenommen von seiner Persönlichkeit, seiner starken Präsenz, man kann auch sagen: Autorität.
Am 30. November ist Meinhard von Gerkan in Hamburg gestorben. Die Trauerfeier fand am 9. Dezember im Michel statt. Für die Kirche entwarf gmp 2011 ein Besucherzentrum. Es wurde nicht gebaut. Am Tag seines Todes fand die Jurysitzung des offenen, zweiphasigen Wettbewerbs für die Erweiterung der bedeutenden Gipsformerei der Staatlichen Museen zu Berlin statt. Meinhard von Gerkan und Stephan Schütz mit Nicolas Pomränke gewannen mit klarem Votum den ersten Preis.

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