Bauwelt

Zwischen Mikroparzelle und Megacity

Die Strategien japanischer Architektinnen und Architekten, Platzmangel in Experimetierfelder zu verwandeln, stehen in der langen Tradition einer Kultur der Kleinheit

Text: Meyer, Ulf, Berlin

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    Kenzo Tanges Wohnhaus in Tokio, 1953.
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    Kenzo Tanges Wohnhaus in Tokio, 1953.

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    „Sky House“ in Tokio, 1958, von Kiyonori Kikutake.
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    „Sky House“ in Tokio, 1958, von Kiyonori Kikutake.

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    Das Wohnhaus von Kunio Maekawa, 1942, ...
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    Das Wohnhaus von Kunio Maekawa, 1942, ...

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    ... steht heute im Edo-Tokio-Freilicht-Architekturmuseum.
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    ... steht heute im Edo-Tokio-Freilicht-Architekturmuseum.

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Zwischen Mikroparzelle und Megacity

Die Strategien japanischer Architektinnen und Architekten, Platzmangel in Experimetierfelder zu verwandeln, stehen in der langen Tradition einer Kultur der Kleinheit

Text: Meyer, Ulf, Berlin

Japaner wohnen nicht, lautet ein Bonmot. Jedenfalls wohnen sie nicht ausschließlich in den eigenen, meist engen vier Wänden, sondern in der Stadt: Convenience-Store, Waschsalon, Sento oder Café übernehmen Funktionen der Wohnung. Das Zuhause ist vor allem ein Refu­gium, kein Ort der Repräsentation. Wer den ganzen Tag über in der Bahn, in der Straße und im Büro unter Menschen ist, schätzt es, einen Raum zu haben, in dem er die Tür hinter der Welt schließen kann.
Es ist eng in Japan
Die Geschichten hinter den Wohnhäusern, die auf den folgenden Seiten vorgestellt werden, sind so unterschiedlich wie ihre Architekten, doch eines eint die präsentierten Gebäude: Auf kleinster Fläche und in dicht bebauter Nachbarschaft schaffen sie Wohnqualitäten, die man ihnen von außen nicht ansieht. Unter den Entwerfern finden sich international bekannte Namen wie Tsuyoshi Tane oder Yuko Nagayama, daneben junge Büros, die bislang nur in Japan bekannt sind. Mit dem Deutschen Florian Busch ist auch einer der wenigen in Tokio ansässigen ausländischen Architekten vertreten.
Die Häuser zeigen die Bandbreite der Antworten auf die Enge und Dichte in japanischen Städten. Manche sind Beispiele für vertrackte 3D-Puzzle, die jeden erdenklichen Quadratzentimeter Fläche zu schaffen und zu nutzen versuchen. Sichtbetonfassaden lassen die Wohnungen wie Festungen wirken, geschützt vor den Zumutungen und der Dauer-Sinnesüberforderung der Mega-Metropole. Andere Häuser hingegen bemühen sich, ihre Bewohner in einen visuellen Austausch mit der Umwelt zu bringen, Licht, Wetter, Tages- und Jahreszeit erlebbar zu machen.
Ist das Grundstück eigentlich zu eng für den Baukörper, lohnt es sich, in raffinierte Erschließungen zu investieren, Schein-Großzügigkeit mittels gezielter Ausblicke zu erzeugen, Tageslicht von oben ins Haus zu bringen oder die Räume um einen Nakaniwa (Innengarten) zu orientieren. Da das milde Klima in Mittel- und Südjapan keine aufwendige Isolierung erfordert, genießen Architekten dort gestalterische Freiheiten, um die westliche Kollegen sie nur beneiden können.
Grundstücke in japanischen Städten sind knapp und fast immer teurer als die Häuser darauf. Bauvorschriften regeln vor allem Verschattung und zulässige Höhen, die sich nach der Straßenbreite richten, um Brand- und Erdbebengefahren zu mindern. Trotz der extremen Dichte hat sich die Tradition des Einfamilienhauses erhalten, getragen von einer breiten Mittelschicht, die Wert auf privaten Grund- und Immobilienbesitz legt – sei er noch so klein.
Die Metropolen auf Honshu sind in den letzten Jahrzehnten zur durchgehenden Megastadt Tokaido verschmolzen. Da ihre Entwicklung auf öffentlichen Schienennetzen und nicht auf Autoverkehr beruht, haben die zerstörerischen Effekte der Suburbanisierung, wie man sie aus den USA kennt, weniger Schaden angerichtet. So konnte sich ein kulturell reicher, dichter Siedlungsteppich erhalten, der die Grundlage der japanischen Stadtgesellschaft bildet.
Tradition und Moderne
In Japan ist Kontextlosigkeit oft der einzige Kontext. Jedes Gebäude steht für sich. Die rasche Abfolge von Bau und Abriss macht es für Architekten wenig sinnvoll, auf Nachbarhäuser Bezug zu nehmen – sie könnten morgen verschwunden sein. Gebaut wird nicht für die Ewigkeit. Nach zwanzig Jahren gelten viele Häuser als abbruchreif. Statt Weiterverkauf folgt üblicherweise der Abriss und Neubau. Diese Traditionslosigkeit hat ihrerseits Tradition. Auch Tempel und Schreine werden regelmäßig erneuert – ihre Kontinuität liegt in der Form, nicht im Material.
Bis ins 19. Jahrhundert waren Wohnhäuser in Japan Holzskelettbauten mit Fusuma (Schie­betüren), Tatami (Strohmatten) und Shoji (Papierwänden) und waren von Stroh- oder Ziegel­dächern gedeckt. Sie dienten Großfamilien, ihre Grundrisse folgten einem modularen System aus Räumen und Korridoren, dessen Proportionen das Tatami-Maß vorgab. Die Räume waren nicht funktionsgebunden und ließen sich durch Schiebewände zusammenschalten. Erst die Meiji-Zeit (1868–1912) brachte westliche Formen, das Kanto-Erdbeben von 1923 den Stahlbeton. Mit den Dojunkai-Apartments in Tokio begann der moderne Wohnungsbau. Gleichzeitig erreichte die Rezeption japanischer Architektur im Westen ihren Höhepunkt: Bruno Tauts Interpretation der Villa Katsura in Kioto als „Durchdringung von Wohnen und Natur“ beeinflusste die Architekten der Moderne. In Japan seien „Lösungen gefunden worden für Probleme, die uns heute beschäftigen“, befand Walter Gropius.
Maekawa, Tange, Kikutake
Die Materialknappheit während des Zweiten Weltkriegs zwang Kunio Maekawa, beim Bau seines Hauses auf bewährte Baustoffe zurückzugreifen. Sein 1942 errichtetes Gassho-Bauernhaus bündelt gleichwohl den Kern seines Verständnisses von Moderne: Ein symmetrisches Satteldach überspannt einen asymmetrischen Grundriss mit westlichen Bodenbelägen, Möbeln und Bädern. Die Fassade besteht aus Glasschiebetüren, hinter denen sich opake Paneele vorschieben lassen – wie bei einer Shoji als Sicht- und Blendschutz. Dieses Haus gilt als Keimzelle moderner Wohnformen.
Kenzo Tange gelang es, die Tektonik des Holzbaus in den modernen Stahlbetonbau zu übersetzen – sichtbar auch in seinem eigenen Wohnhaus in Tokio. 1953 war er eingeladen, den Wiederaufbau des Ise-Schreins zu leiten. Was er dort in der Tradition wiederentdeckte, überführte er in eine zeitgemäße Form: ein Stahlbetonskelett, auf dem Tatami-Modul errichtet und mit Holz- und Papierwänden ausgefacht. Schlanke Stützen gliedern die Fassade, das Dach zitiert traditionelle japanische Formen und bringt sie in die Moderne der fünfziger Jahre.
Mit dem „Sky House“ in Tokio schuf Kiyonori Kikutake die Wohnbau-Ikone der beginnenden sechziger Jahre. Das Gebäude besetzt sein Grundstück nicht, sondern schwebt auf vier wandartigen Stützen, sodass das Erdgeschoss frei bleibt. Trotz seiner radikal modernen Form verweist es auf die Tradition der aufgeständerten, von Luft umspülten japanischen Wohnhäuser. In den Stützen sind Schiebeelemente inte­griert, mit denen sich der zentrale Einraum bei Bedarf abtrennen lässt. Eine Engawa vermittelt zwischen Glas- und Holzpaneelfassade; in diesem schmalen Streifen sind auch Küche und Bad untergebracht, sodass der quadratische Haupt­raum geometrisch ungestört bleibt. Lediglich ein Einbauschrank markiert die Grenze zwischen Wohn- und Schlafbereich.
Im Japan der Nachkriegszeit setzte sich die Vorstellung durch, jedem Raum eine feste Funktion zuzuweisen. Die meisten Wohnungen wurden für Kleinfamilien entworfen, die aus den Präfekturen in die Großstädte zogen und dort die Nachfrage anheizten. Mit dem Metabolismus entstand in den sechziger Jahren eine Architekturströmung, die Wachstumsfantasien baulich verdichtete. Häuser wurden industriell vorfabriziert und als „Raum-Kapseln“ angeboten – doch ließen sie sich nur schwer auf die winzigen Grundstücke abstimmen. Stattdessen entwarfen die Metabolisten Visionen einer Stadt der Zukunft: Infrastrukturen, in die vorgefertigte Zellen eingehängt werden. Ikone dieser Ideen war Kisho Kurokawas Nakagin-Kapselturm (1972) – zwei Betonkernen waren 140 Module eingehängt, jeweils mit nur vier Schrauben fixiert. Die Kapseln integrierten Einbauschränke für Bar, TV, Stereo und Miniküche; selbst die WC-Module wurden im Werk vorproduziert und komplett angeliefert.
Wachstum!
Mit den rasant steigenden Immobilienpreisen wurde das Einfamilienhaus für breite Schichten unerschwinglich. In den achtziger Jahren schossen Luxuswohntürme mit Eigentumswohnungen in den Himmel. Die kleinen Stadtwohnungen, Toshi jutaku, galten als Reaktion auf die Entwertung der Wohnviertel und als Alternative zum Leben in der Vorstadt. In Tokio können sie bis auf die zulässige Mindestbreite von zwei Metern zusammenschrumpfen. Während in den siebziger Jahren Häuser als heterogene „internalized city“ verstanden wurden, brachte die „new wave“ eine Wende: Architekten gaben den Anspruch auf, die Stadt gestalten zu wollen, und suchten eine introvertierte Baukunst, die sich defensiv verhielt und hermetische Trennung betonte. Sichtbetonarchitektur mit strenger Geometrie spiegelte die Vorstellung von der Stadt als feindlichem Umfeld – anti-urban und anti-hedonistisch zugleich. Die Abkehr von der übermächtigen Stadt führte zu höhlenartigen Räumen. Kein Entwurf illustriert die Wiederentdeckung des Ephemeren besser als Kengo Kumas Glas-Wasser-Villa, errichtet neben Bruno Tauts Hyuga Bettei von 1936.
U-Boote
Nur wenige Wohnhäuser in Japan entstehen aus Architektenhand – und doch ist der Wohnbau ein fruchtbares Feld für die Büros. Niedrige Zinsen und hohe Erbschaftssteuern haben die Nachfrage nach Eigenheimen zuletzt wieder steigen lassen, ebenso der gesellschaftliche Wandel: Nur noch rund sechzig Prozent der Haushalte bestehen aus Familien; Singles, Alleinerziehende und Senioren bilden einen wachsenden Anteil. Sinkende Geburtenraten und steigende Lebenserwartung führen zu immer kleineren Haushalten – und zu kleineren Häusern.
Viele dieser Mikrohäuser stehen auf Parzellen kaum größer als ein Parkplatz und bringen es dennoch auf drei Etagen. Ihre Schlafzimmer sind so groß wie Kleiderschränke, die Kleiderschränke kaum größer als Koffer, die Küchen würde man in U-Booten erwarten. Erfindungsreichtum ist gefragt: Stauraum in Nischen und unter Treppen, überlappende Funktionen, fließende Raumfolgen mit Paravents statt Wänden. Im Zentrum vieler Kleinsthäuser liegt das Chanoma – eine offene Fläche für Küche, Essen und Wohnen.
Während Rem Koolhaas im Westen die „Bigness“ beschrieb, vollzog sich in Japan die entgegengesetzte Entwicklung: Auf winzigen Parzellen widmet sich eine junge Architektengeneration der Aufgabe, selbst auf kleinstem Raum lebenswerten und anspruchsvollen Lebensraum zu schaffen. Dieser Trend zur „Smallness“ hat im Westen kein Pendant – und wird dort mit umso größerer Neugier verfolgt.

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