Dreihundert Straßen
Paris begrünt dreihundert Straßen vor Schulen, damit Kinder sicher spielen können und saubere Luft atmen.
Text: Klingsieck, Ralf, Paris
Dreihundert Straßen
Paris begrünt dreihundert Straßen vor Schulen, damit Kinder sicher spielen können und saubere Luft atmen.
Text: Klingsieck, Ralf, Paris
Den Pariser Straßenverkehr so umzugestalten, dass er nicht über Gebühr laut ist und die Luft belastet, ist eine große Herausforderung. Das Straßennetz stammt noch überwiegend aus dem 19. Jahrhundert. Zwischen 1853 und 1870 ließ der Präfekt Georges-Eugène Haussmann im Auftrag von Kaiser Napoleon III. im Zentrum der Stadt und in den Vierteln zwischen Triumphbogen und den Großen Boulevards hunderte Gassen und kleine Straßen mitsamt der dort stehenden Häuser abreißen, um breite, oft mit Bäumen bestandene Straßen, Avenuen und Boulevards anzulegen. Sie sind zusammen 150 Kilometer lang, und an ihnen wurden Häuser errichtet, die den klassizistischen Haussmann-Stil verkörpern und heute weitgehend das Bild von Paris prägen. Diese und viele weitere Straßen, die nach diesem Vorbild entstanden, bildeten bis in unsere Zeit ein Verkehrswegenetz, das im wesentlichen dem Bedarf der Hauptstadt entsprach und auch den Wechsel vom Pferdewagen zum Auto problemlos bewältigte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Straßenverkehr immer zähflüssiger, und die zeitraubenden Staus nahmen Überhand. Georges Pompidou, der 1962–68 als Premierminister und 1969–74 als Präsident amtierte und der ein leidenschaftlicher Porsche-Fahrer war, wollte „Paris an das Auto anpassen“. Dafür ließ er ab 1967 nach dem Vorbild der amerikanischen Stadtautobahnen die Pariser Seine-Kais zu kreuzungsfreien Schnellstraßen umbauen. Als sie fertig waren, konnte man die Stadt mit 70 km/h in etwa zwanzig Minuten durchqueren. Außerdem wurden Tunnel gegraben, durch die man staugefährdete Verkehrsschwerpunkte unterqueren konnte.
Dagegen machte sich der erste linke Bürgermeister Bertrand Delanoë, der 2001 gewählt wurde und bis 2014 im Amt war, die wachsende Kritik an der Luftbelastung und dem Lärm des Autoverkehrs zu eigen und versuchte, ihn einzuschränken. Im Sommer 2002 ließ er entlang einiger großer Boulevards separate Spuren für Busse, Taxis und Fahrräder anlegen. Als die Pariser aus dem Urlaub zurückkehrten, hatte er vollendete Tatsachen geschaffen. Die Proteste der Autobesitzer waren heftig, aber die Ergebnisse sprachen für sich: Der Autoverkehr und die Zahl der Staus gingen zurück, während die Geschwindigkeit der Busse um zwanzig Prozent stieg und sie stärker genutzt wurden. Im Sommer 2002 ließ Delanoë erstmals die rechte Uferstraße gegenüber der Seine-Insel Cité zwei Monate lang für die Autos sperren und dort Sand aufschütten. So entstand für die Pariser, die nicht in den Urlaub fahren konnten, eine Art Strand-Ersatz. Das wiederholt sich seitdem in jedem Sommer, und seit Juni 2025 darf man sogar an speziell gesicherten Stellen in der Seine schwimmen. Um die Seine-Kais, die seit 1991 zum Weltkulturerbe der Unesco gehören, für die Pariser und die Touristen zurückzugewinnen, ließ der Bürgermeister die Uferstraße auf dem linken Ufer 2013 ganz und 2016 auch die auf dem rechten Ufer zumindest zur Hälfte für den Autoverkehr sperren. Somit sind seither Dreiviertel der früheren Uferstraßen den Spaziergängern und Radfahrern vorbehalten. „Von den Uferschnellstraßen ist nur noch auf dem rechten Ufer der 13 Kilometer lange Abschnitt vom Stadtrand bis zum Concorde-Platz im Stadtzentrum in Betrieb“, erläutert Nicolas Vignot, Abteilungsleiter im Bereich Straßen und Wege der Pariser Stadtverwaltung, „und von dem Tunnelnetz nur noch der Tunnel unter dem Markthallen-Viertel.“
Unter Bürgermeister Delanoë und noch stärker unter seiner ebenfalls sozialistischen Nachfolgerin Anne Hidalgo, die seit 2014 Bürgermeisterin ist und deren Mandat mit der Kommunalwahl im März 2026 endet, wurde eine explizit menschen- und umweltorientierte Stadtplanung betrieben. Im Mittelpunkt steht die Lebensqualität, während das Auto immer mehr an Bedeutung verliert. „Seit August 2021 gilt in fast ganz Paris mit Ausnahme einiger Hauptverkehrsachsen Tempo 30“, erläutert Vignot diese Strategie. Auf dem Périphérique, der Ringautobahn am Stadtrand, durfte man von der Einweihung 1963 an dreißig Jahre lang 90 km/h fahren, bevor die Höchstgeschwindigkeit 1993 auf 80, 2014 auf 70 und im vergangenen Jahr auf 50 km/h reduziert wurde. „So konnten die Luftbelastung und der Lärm weiter verringert werden“, meint Vignot.
Nach Baujahren gestaffelt, sind alte und damit besonders abgasreiche Autos in der Stadt verboten. Gegenwärtig liegt diese Grenze bei Autos mit Benzinmotor beim Baujahr 2006 und bei Dieselmotoren bei 2011. An Tagen mit Smog und starker Luftverschmutzung kann abwechselnd ein Fahrverbot für Autos mit gerader oder ungerader Kennzeichen-Nummer verhängt werden. „Seit November 2024 gilt für die Viertel im unmittelbaren Stadtzentrum – begrenzt durch die Großen Boulevards und die Seine beziehungsweise durch die Madeleine-Kirche, die Oper, den Platz der Republik und den Bastille-Platz – ein Durchfahr-Verbot für private Autos“, zählt Vignot auf. „Ausgenommen sind Fahrzeuge von Anwohnern und Behinderten oder begründete Fahrten zu einem konkreten Ziel in diesem Sektor. Bei Verstößen werden aber in der gegenwärtigen Gewöhnungsphase noch keine Strafmandate verhängt, erst ab 2026“, räumt er ein. Ziel sei die 15- Minuten-Stadt, in der man alle wichtigen Orte – Arbeit, Einkauf, Schule und Freizeitgestaltung – in einer Viertelstunde zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichen kann. „Bei den Arbeitsplätzen wird das bei einer so großen Stadt wie Paris ein Wunschtraum bleiben, aber in allen anderen Bereichen sind wir auf dem besten Wege“, meint Nicolas Vignot.
Während im Landesmaßstab 80–85 Prozent aller Haushalte ein Auto oder mehrere besitzen, treffe dies in Paris nur auf jede zweite oder dritte Familie zu. „Hier benutzt kaum noch jemand das Auto für den täglichen Weg zur Arbeit, sondern fast nur für Wochenendausflüge und für die Fahrt in den Urlaub.“ Studien und Umfragen zufolge legen in Paris 55 Prozent der Einwohner ihre tagtäglichen Wege zu Fuß zurück, je zwanzig Prozent benutzen das Fahrrad oder öffentliche Verkehrsmittel wie die Metro, den Bus, die Straßenbahn oder das Taxi, während nur knapp fünf Prozent nach wie vor mit dem Auto unterwegs sind. „Die Reduzierung des individuellen Autoverkehrs hat zur Folge, dass nicht nur die Luftbelastung und der Verkehrslärm nachgelassen haben, sondern auch, dass diejenigen, die aufgrund ihres Berufs mit Fahrzeugen unterwegs sein müssen wie Feuerwehr und Rettungsdienst, Polizei und Handwerker, heute wesentlich schneller vorwärts kommen als früher“, hat Nicolas Vignot beobachtet.
Zur Luftverbesserung und zur Reaktion auf den Klimawandel gehöre aber nicht nur die Reduzierung des Straßenverkehrs, sondern ganz besonders auch die Begrünung von Straßen und Plätzen, wobei vor allem asphaltierte Flächen durch Grünanlagen ersetzt werden. Als Beispiele, wo das bereits erfolgreich erfolgte, nennt Vignot große Plätze wie den Platz der Republik, den Bastille-Platz und den Platz der Nation. Für den größten, den Concorde-Platz, steht eine grundlegende Umwandlung, bei der der Raum für die Autos auf ein Viertel reduziert werden soll, unmittelbar bevor.
„Zur menschenorientierten Stadtplanung gehört auch, dass sich die Bürger zu Wort melden sollen, um Kritik zu äußern und Ideen einzubringen“, ist Pauline Joubert, stellvertretende Bürgermeisterin der Stadtbezirksverwaltung des 10. Arrondissements, überzeugt. So haben sich bereits ab 2002 Eltern an ihre Stadtverordneten gewandt, um darum zu bitten, im Interesse der Sicherheit und Gesundheit der Kinder den Autoverkehr vor den Schulen zu verbieten, zumindest zeitweise am Morgen und am Nachmittag, wenn die Kinder zur Schule gebracht und abgeholt werden. „Bei einigen Schulen wurde das versuchsweise getan, und der Erfolg war überzeugend und hat sich schnell herumgesprochen“, erinnert sich Joubert. „Das Problem des Verkehrs vor den Schulen wie überhaupt des Verhältnisses zwischen Menschen und Autos gibt es in ganz Paris, wo im Schnitt 20.000 Menschen pro Quadratkilometer leben und wo es in einigen Stadtvierteln sogar bis zu 40.000 sind.“ Zum Vergleich: In Tokio leben im Schnitt 6400 Menschen pro Quadratkilometer, in Berlin sind es sogar nur 4100. Vom Beginn seiner zweiten Amtszeit 2008 an ließ Bürgermeister Delanoë den Autoverkehr vor einigen Schulen verschiedener Stadtbezirke morgens früh und nachmittags unterbrechen und die Reaktionen der Bevölkerung und vor allem der Eltern von Schulkindern untersuchen. Die Ergebnisse waren so überzeugend, dass eine Ausweitung dieser Praxis ins Auge gefasst werden konnte. Allerdings plädierten die damit befassten Experten dafür, den Autoverkehr vor Schulen nicht stundenweise zu unterbrechen, weil das zu aufwendig durchzuführen und zu kontrollieren sei. Es wäre besser, dieses Verbot gleich auf Dauer zu erlassen und den Verkehr auf andere Straßen umzulenken, weil das für die Verkehrsteilnehmer logischer sei.
Bertrand Delanoës Nachfolgerin Anne Hidalgo nahm das Thema in ihr Programm für die Kommunalwahl 2014 auf, aber als sie dann zur Bürgermeisterin gewählt war, hatten die generelle Einschränkung des Autoverkehrs in Paris, die drastische Reduzierung der Höchstgeschwindigkeit und die Schaffung von verkehrsberuhigten Straßen und von Fußgängerzonen Vorrang vor den Schulen. „Mit ihren Maßnahmen gegen den Autoverkehr hat sich Anne Hidalgo viele Feinde gemacht, sie hat aber auch viele Pariser davon überzeugt, dass weniger Autos die Voraussetzung sind, um die Luft sauberer zu machen und durch weniger Lärm die Atmosphäre zu entspannen“, meint Pauline Joubert. „Der konsequente Kurs von Bertrand Delanoë und Anne Hidalgo auf den massiven Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs und auf die Verbesserung seiner Qualität hat sich ausgezahlt. Heute wird er deutlich mehr genutzt als früher.“ Die Befürchtung der Einzelhändler, dass die Verkehrsberuhigung Kunden vertreiben würde, sei unbegründet gewesen. Die neuen Fußgängerzonen, durch die die Geschäftsstraßen zu Flaniermeilen wurden, hätten im Gegenteil mehr Kaufbummler mit sich gebracht.
„Opfer dieser Entwicklung waren dagegen die Tiefgaragen-Firmen, zumal deren Tarife mit den Jahren abschreckend gestiegen waren“, gibt Pauline Joubert zu bedenken. „Wir als Stadtverwaltungen versuchen, ihnen zu helfen, indem wir anregen, einen Teil der Kapazitäten der Tiefgaragen umzuwidmen in Garagen für Fahrräder oder in Citylogistik-Umschlagestationen, wo Päckchen und Pakete des Versandhandels vom Lkw auf Lastenfahrräder umgeladen werden, um den letzen Kilometer bis zum Endkunden umweltverträglich zurückzulegen. Insgesamt bleibt heute jeder dritte Platz in den öffentlichen oder kommerziellen Tiefgaragen sowie in den Untergeschossen der Wohnhäuser ungenutzt.“ Als Konsequenz wurde die in den 1960er Jahren erlassene Vorschrift abgeschafft, für jede neu gebaute Wohnung auch einen Tiefgaragenplatz vorzusehen.
Ein Programm für „Schulstraßen“, also Straßen vor Schulen ganz ohne Autoverkehr, wurde erst 2020 mit Beginn der zweiten Amtszeit von Bürgermeisterin Anne Hidalgo auf den Weg gebracht, berichtet Hiba Debouk, Architektin und Landschaftsgestalterin bei der Firma AREP. Dieses Planungsbüro der Staatsbahn SNCF ist auf den Neubau und die Modernisierung von Bahnhöfen, aber auch auf die umweltgerechte Umgestaltung der Vorplätze und der Umgebung von Bahnhöfen spezialisiert. Wegen der dabei gesammelten Erfahrungen wurde sie von der Pariser Stadtverwaltung mit der Umgestaltung der Straßen vor Schulen beauftragt. „Inzwischen wurden bereits dreihundert Straßen in Angriff genommen, davon hundert, die erst einmal nur für den Autoverkehr gesperrt wurden und wo die Kinder sich die Straße zum Spielen zurückerobern konnten, während gründlichere Umbauten später erfolgen sollen“, präzisiert Debouk. „Die restlichen zweihundert wurden bereits komplett umgebaut und begrünt.“ Dafür wurden mit einem Budget von 66 Millionen Euro Straßen und Bürgersteige durch die Beseitigung der Bordsteine auf gleiches Niveau gebracht sowie Asphalt- und Betonflächen durch Sand oder Kies ersetzt. „Das ist fußgerechter und für Regenwasser durchlässig, so dass für die Bewässerung der Pflanzen die öffentliche Wasserversorgung wenig belastet wird“, präzisiert sie. „Möglichst viel Platz wurde für Grünflächen, Bäume und Sträucher genutzt, um die Luft zu verbessern, Schatten zu bilden und hitzedämmend zu wirken. Dabei wurden besonders wärmeresistente Pflanzenarten gewählt, die mit wassersparender Tropf-Bewässerung auskommen.“
Hiba Debouk verweist darauf, dass Bürgermeisterin Anne Hidalgo im März 2025 eine Bürgerbefragung durchführen ließ, um zu entscheiden, ob das Schulstraßen-Programm fortgeführt und um weitere zweihundert Straßen ergänzt werden soll. Dafür hat sie von der übergroßen Mehrheit der Einwohner die Zustimmung erhalten.
Inzwischen wird statt von Schulstraßen immer öfter von Kinderstraßen gesprochen, weil man in die kindgerechte Umwandlung auch Straßenabschnitte vor Schwimmhallen, Bibliotheken oder Spiel- und Sportplätzen einbeziehen will. Hiba Debouk hebt auch die parallele Umgestaltung der Pariser Schulhöfe hervor, von denen einige jetzt an Wochenenden und mittwochs (einem schulfreien Tag) sowohl für Kinder aus der Nachbarschaft als auch für Erwachsene geöffnet sind. „So entstehen neue Räume der Begegnung und der sozialen Mischung der Kinder als auch der Erwachsenen der verschiedensten Altersgruppen und Herkunft.“
Pauline Joubert ist sicher, dass selbst wenn bei der nächsten Kommunalwahl im März 2026 ein rechter Politiker den seit 2001 durch Sozialisten besetzten Posten des Pariser Bürgermeisters erobern sollte, dieser kaum die Maßnahmen zur Verbesserung der Luft und zur Reaktion auf den Klimawandel und damit auch die „Schulstraßen“ rückgängig machen werde. „Die meisten Pariser sind inzwischen von ihrem Nutzen überzeugt.“







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