Bauwelt

Die normale Straße. Ein bislang unterschätztes Potenzial der städtischen Transformation

Welche Lehren lassen sich aus der Corona-Pandemie für die Stadtplanung ziehen? Unser Autor, Stadtbaumeister von Brüssel, sieht weniger neue Ideen aufziehen, als vielmehr einen Prozess der Bewusstwerdung angestoßen. Bereits mit einfachen Maßnahmen bei der Gestaltung „gewöhnlicher Straßen“ ließe sich die Qualität von Nachbarschaften deutlich verbessern.

Text: Borret, Kristiaan, Brüssel

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    Für eine Umverteilung des Straßenraums zu Gunsten „weicher“ Verkehrsarten, ist eine gute Organisation der geteilten Flächen essentiell.
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    Kürzere Fußgängerquerungen an Kreuzungen, das Anlegen von Fahrradwegen und die Reduktion von Straßenprofilen sind hilfreiche Maßnahmen bei der Gestaltung der Straße.
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    Die gewöhnliche Straße liefert auch einen Beitrag zur klimarobusten Stadt.
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    Ein Baum an jeder Straßenecke hat lokal einen besseren Abkühlungseffekt als ein Park am anderen Ende der Stadt.
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    Ein Baum an jeder Straßenecke hat lokal einen besseren Abkühlungseffekt als ein Park am anderen Ende der Stadt.

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    Parkplätze mit Kopfsteinpflaster und Fugen lassen das Regenwasser besser versickern.
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    Parkplätze mit Kopfsteinpflaster und Fugen lassen das Regenwasser besser versickern.

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Die normale Straße. Ein bislang unterschätztes Potenzial der städtischen Transformation

Welche Lehren lassen sich aus der Corona-Pandemie für die Stadtplanung ziehen? Unser Autor, Stadtbaumeister von Brüssel, sieht weniger neue Ideen aufziehen, als vielmehr einen Prozess der Bewusstwerdung angestoßen. Bereits mit einfachen Maßnahmen bei der Gestaltung „gewöhnlicher Straßen“ ließe sich die Qualität von Nachbarschaften deutlich verbessern.

Text: Borret, Kristiaan, Brüssel

Auf der Bühne der Stadterneuerung kommt die Hauptrolle in der Regel den großmaßstäblichen öffentlichen Freiflächen zu. Wenn große Plätze, Parks oder Verkehrsknotenpunkte für eine Neustrukturierung gecastet werden, handelt es sich häufig um imposante Projekte, mit denen eine bedeutsame innerstädtische Transformation einhergeht. Das war auch eine der Lehren, die aus Barcelonas erfolgreichem Stadtumbau Ende des 20. Jahrhunderts gezogen werden konnte: Wer einen öffentlichen Raum ändert, übt Einfluss über ihn hinaus aus, verändert die Qualität der umgebenden Bebauung, der Nachbarschaft, der gesamten Stadt. In Barcelona ist das seinerzeit auf unterschiedlichen Maßstabsebenen gelungen – von kleinen Quartiersplätzen, die heruntergekommenen Stadtteilen Schwung verliehen, bis hin zur vollständigen Erneuerung der Hafenpromenade Moll de la Fusta, mit der Barcelonas Verbindung zum Mittelmeer symbolträchtig wieder hergestellt wurde.
Dieses mutige Vorgehen der grundlegenden Neugestaltung der öffentlichen Räume wurde zum Klassiker unter den „Stadterneuerungsrezepten“. Das Modell beflügelte die Vorstellungskraft vieler und nimmt in Architektur und Politik gleichermaßen einen oberen Platz auf den Wunschlisten ein: Ein großmaßstäblicher Platz oder Park übertrumpft alles andere.
Corona hat diese Stadthierarchie unvermittelt zu Fall gebracht. In den vergangenen beiden Jahren wurde die Bedeutung neu angelegter spektakulärer öffentlicher Freiflächen mit urbaner Ausstrahlung im alltäglichen Leben des gemeinen Stadtbewohners marginalisiert, vielmehr rückte die Verfügbarkeit von Außenraum im eigenen Wohnumfeld in den Mittelpunkt des Interesses. Was bringt mir ein großer Platz am anderen Ende der Stadt, wenn ich mich bloß innerhalb eines bestimmten Radius von meiner Wohnung bewegen darf? Was sollte ich dort suchen, wo doch das Zusammentreffen vieler Menschen in den letzten, von Inzidenzen geprägten Monaten unerwünscht war?
Die Bewusstwerdung, diese Wende zeichnet sich auch in Brüssel ab. Ein Großteil unserer Einsichten über die Lebensqualität der Stadt, die zurzeit intensiv diskutiert werden, ist alles andere als neu. Sie sind nur während der Corona-Periode prägnant in den Fokus gerückt. Natürlich wussten wir auch schon davor, dass eine Wohnung mit einer schönen Terrasse odereinem großzügigen Balkon eine höhere Wohnqualität hat, als eine ohne Außenraumbezug. Ebenso war bekannt, dass ein kleinteiliges Angebot von Grünflächen sowie von Einrichtungen und Geschäften des täglichen Bedarfs die Resilienz eines Quartiers stärkt. Der gegenwärtige Hype, den die sogenannte 15-Minuten-Stadt erfährt, ist zu begrüßen, letztendlich haben wir es hier jedoch keineswegs mit einer revolutionären Idee zu tun. Durch Corona haben wir die Mankos lediglich am eigenen Leib erfahren dürfen, das hat uns geholfen, den Wert solcher Stadtmodelle besser einschätzen zu können. Im Großen und Ganzen hat uns die Coronakrise wahrscheinlich nur wenig neue „Erfindungen“ gebracht, sondern eher unsere Bewusstwerdung erheblich vorangetrieben.
Für Brüssel ist diese beschleunigte Bewusstwerdung besonders begrüßenswert. Diese äußerst autogerechte Stadt wurde im 20. Jahrhundert infrastrukturell mittels Tunneln, Viadukten und Stadtautobahnen „modernisiert“. Die Dominanz des Autos deckt sich mit der gegenwärtigen Regierungspolitik, bei der die öffentliche Hand den individuellen Autobesitz als Teil der Entlohnung im Unternehmenssektor finanziell fördert und somit zusätzlich stimuliert. Die Folge ist ein hohes Verkehrsaufkommen zwischen Wohn- und Arbeitsort, wobei sich der Pendelverkehr in Brüssel aufgrund des besonders hohen Anteils von Arbeitsplätzen im Dienstleistungssektor viel stärker bemerkbar macht, als in anderen Städten. Werktags bewegen sich durchschnittlich 190.000 auswärtige Autos in Brüssel, hinzukommen rund 175.000 Autos von Berufstätigen, die innerhalb der Stadt mit dem eigenen PKW zur Arbeit fahren. Während des coronabedingten Lockdowns kam das enorme Verkehrsaufkommen dann von einem Tag auf den anderen zum Erliegen, die Fahrbahnen standen leer.
Die Antwort hierauf manifestierte sich, wie in vielen anderen europäischen Städten, in verschiedene Formen des taktischen Urbanismus: schnelle, temporäre Interventionen, mit denen der Straßenraum neuverteilt wurde, jetzt, da die Vorrangstellung des Autos kurzzeitig aufgehoben war. So wurde eine Fahrbahn der ikonische Rue de la Loi, über die sich im Zentrum des Verwaltungsviertels der Europäischen Union werktags jeden Morgen tausende Autos in die Stadt schieben, zu einem Fahrradweg für beide Richtungen. Auch in anderen Teilen der Stadt wurden im Sommer 2020 verschiedene Hauptstraßen temporär für den Autoverkehr stillgelegt, um so für die Anwohner zusätzlichen Außenraum zum Spazierengehen zu schaffen. Nun, nach dem Winter, zeigt sich, dass die temporären Nutzungsänderungen an vielen Orten schon wieder rückgängig gemacht wurden und mit der Post-Corona-Ära in Sicht, stellt sich die Frage, was der Stadtgesellschaft dauerhaft von diesen Eingriffen bleiben wird.
Genau deswegen ist es so wichtig, die Coronakrise nicht als Ausnahmesituation zu betrachten, sondern vielmehr als „Bewusstwerdungskatalysator“ der Stadtbevölkerung, die erkannt hat, wie die Stadt ohne Autodominanz aussehen kann. In Brüssel gibt es schon seit Längerem Bürgerbewegungen, die sich für eine bessere Gestaltung und Nutzung des öffentlichen Raums engagieren. Beispielsweise das zweisprachige Kollektiv junger Eltern „Filter Café Filtré“, dessen Anliegen eine gesunde Luftqualität ist und das während des morgendlichen Berufsverkehrs Straßen blockiert, in denen sich eine Schule befindet. In verschiedenen Stadtbezirken haben sich Bürgerausschüsse gegründet, deren Zielsetzung das Erreichen von Null Verkehrstoten pro Jahr ist, und deren Name sich jeweils aus der entsprechenden Postleitzahl und Null zusammensetzt, z.B. 1030/0. Zudem gibt es auch in Brüssel eine Gruppe der weltweiten Bewegung „Critical Mass“, bei der Radfahrer sich zu gemeinsamen Fahrten durch die Stadt zusammentun, unter dem Motto „we are not blocking the traffic, we are traffic“.
Da in Brüssel lediglich 45 Prozent der Haushalte über ein eigenes Auto verfügen (im Vergleich zu 85 Prozent im restlichen Teil von Belgien), sollte die Mehrheit der Bevölkerung eigentlich von selbst für eine gerechtere Nutzungsverteilung des öffentlichen Verkehrsraums sein. Dennoch ist der Widerstand hartnäckig und vereint überraschenderweise unterschiedlichste soziale Gruppen. So gibt es beispielsweise eine Vereinigung namens „Droit de Rouler et de Parquer“ („Das Recht zu fahren und zu parken“), hinter deren altmodisch anmutenden Namen sich eine mehr als selbstbewusste Haltung verbirgt. Hier finden altes suburbanes Großbürgertum, das darauf besteht, weiterhin zu den besten Patisserien fahren zu können, und junge Machos, für die das Auto weiterhin ein Statussymbol ist, im Kampf um die Straße zueinander. In diesem Kampf kommt es immer wieder einmal sogar zu Handgreiflichkeiten; ich muss gestehen, auch ich versetze gelegentlich der einen oder andere Karosserie einen Schlag. Obendrein spielt in Belgien die kulturelle Sprachgrenze eine Rolle, so behaupten die französischsprachigen Motorisierten mitunter, Fahrradfahren hinge nun einmal mit den „nördlichen“ Genen zusammen, und vergessen der Einfachheit halber dabei, dass das „öffentliche Leihfahrrad“ in Paris von dem Außenwerbungsunternehmen JCDecaux erfunden wurde.
In der unabhängigen Rolle des Stadtbaumeisters der Hauptstadtregion Brüssel konnten wir uns in der öffentlichen Debatte positionieren mit der Veröffentlichung eines Taschenbuchs mit zehn Entwurfsempfehlungen für die gewöhnliche Straße. Die gewöhnliche Straße ist eine lokale Straße an der überwiegend Wohnhäuser stehen, in der sich das tägliche Leben abspielt. Diese Art von Straße nimmt mehr als die Hälfte vom öffentlichen Raum Brüssels ein, ihr stadträumlicher Einfluss auf das urbane Leben ist daher nicht zu unterschätzen. In einem qualitativ anspruchsvollen stadtplanerischen Zukunftskonzept braucht es strategische Projekte für besondere Orte, ebenso braucht es jedoch ein ganzes Bündel kleiner Eingriffe überall im städtischen Gewebe, eine Art konsistente Multiplikation, die gerade wegen ihrer Wiederholung eine systematische Aufwertung zustande bringen kann.
Obwohl unser Interesse an der gewöhnlichen Straße als zu unprätentiös wahrgenommen werden könnte, sind wir davon überzeugt, dass sie essentiell für die Stadt ist und damit wird auch sogleich deutlich, welchen Rückstand Brüssel bei der Einrichtung des öffentlichen Raums aufzuholen hat. Die Empfehlungen sind zukunftsorientiert und zugleich Realo-Politik, denn sie sind nicht so radikal, als dass sie das Auto vollständig aus der Stadt verbannen würden. Sie richten sich vielmehr auf die materielle Ausgestaltung des Straßenraums, denn die physisch-räumliche Erfahrung hilft uns in der Regel, unser Verhalten anzupassen. Anfang dieses Jahres wurde im gesamten Brüsseler Stadtgebiet – mit einer Ausdehnung von immerhin 161 Quadratkilometern – ein Tempolimit von 30 Stundenkilometern festgesetzt. Mit einem Straßenbild, das wenig zum schnellen Fah­ren einlädt, ist es wesentlich leichter zu erreichen, dass diese Höchstgeschwindigkeit eingehalten wird, als nur mit Hilfe von Verkehrsschildern.
Die Umverteilung des Straßenraums zu Gunsten „weicher“ Verkehrsarten, also denen ohne Verbrennungsmotor, bekommt bei den Entwurfsempfehlungen Vorrang. Beispielsweise das Anlegen von Fahrradwegen oder von gut organisierten geteilten Flächen, sogenannte Shared Spa­ces, sowie die Reduktion von Straßenprofilen; darüber hinaus geht es um Konzepte, wie erhöhte und direktere Fußgängerquerungen an Kreuzungen und die Nivellierung von Höhenunterschieden zur Steigerung des Radfahrkomforts (statt für jede Autoeinfahrt einer kleine Steigung anzulegen).
Zudem verfügt die gewöhnliche Straße über großes Potential, einen wesentlichen Beitrag zur Realisierung der klimarobusten Stadt zu leisten. Schließlich ist die Wirksamkeit von Maßnahmen gegen Hitzestress und für einen besseren städtischen Wasserhaushalt gerade bei einem dezentra­len und kleinteiligen Ansatz besonders hoch. Ein Baum an jeder Straßenecke hat lokal einen viel besseren Abkühlungseffekt als ein großer neuer Park am anderen Ende der Stadt. Das gleiche gilt für Parkplätze entlang der Straße, wenn man den Asphalt durch Kopfsteinpflaster mit breiten Split oder Kies verfüllten Fugen ersetzen würde, wäre nicht nur die Fahrbahn optisch schmaler, sondern würde das Regenwasser besser vom Boden aufgenommen werden und langsamer abfließen. Wir haben berechnet, dass wir in Brüssel mit dieser Maßnahme rund 264.199 kleine Wasserspei­cherbecken schaffen könnten mit einer Kapazität für das Versickern und Zurückhalten von 1,6 Millionen Kubikmetern Regenwasser. Kurzum, die umfängliche Wiederholung von punktuellen Interventionen kann einen spürbaren Effekt für das Gesamtsystem entfalten.
Unser Plädoyer für die gewöhnliche Straße hat zwar noch nicht zu einer Flut an realisierten Projekten geführt, denn lange Bearbeitungszeiten von Maßnahmen sind in Brüssel ein altbekanntes Problem. Die Regierung hat jedoch bereits beschlossen, ein neues Vademecum für die Genehmigungen der Projekte zur Gestaltung des öffentlichen Raums auszuarbeiten. Außerdem wird es einen Wettbewerb geben, um eine ganze Gruppe geeigneter Entwerferinnen und Entwerfer auszuwählen, die zum einen die Umsetzung von Stadterneuerungsprojekte vorantreiben und zum anderen die temporären Corona-Maßnahmen beschleunigen sollen. Last, not least haben wir uns sehr gefreut, als ein lokales Aktionskomitee unsere Faustregeln mit Kreide auf den Asphalt einer überdimensionierten Straßenkreuzung malte!
Corona hat uns den besonderen Wert des Gewöhnlichen in unserem Leben wieder stärker bewusst gemacht. Die gewöhnliche Straße vor un­serer Haustür ist ein Element dieser Bewusstwerdung – ihre Ausgestaltung verdient mehr Aufmerksamkeit im Rahmen der heutigen Stadtentwicklung. Neben dem bewussten Einsatz von großen strategischen Projekten, macht es Sinn, die Transformation der Stadt durch eine Vielzahl von kleinen, lokalen Projekten voranzutreiben.
Übersetzung aus dem Niederländischen: Ingrid Ostermann

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