Neue Straßen in Blau-Grün
Die Abkehr von der autogerechten Stadt ist möglich, zeigen Städte wie Paris und Kopenhagen. Der Umbau der Stadt aber braucht Zeit: Paris verfolgt seit 24 Jahren das Ziel, den Autoverkehr zu reduzieren und neue Lebens- und Luftqualität zu gewinnen, Kopenhagen ist seit 13 Jahren auf dem Weg dahin. Die dort bereits realisierten Umbaumaßnahmen können auch hierzulande ein neues Denken des öffentlichen Raums anregen und Projekte anstoßen. Hamburg zeigt, dass es geht.
Text: de Rudder, Steffen, Weimar
Neue Straßen in Blau-Grün
Die Abkehr von der autogerechten Stadt ist möglich, zeigen Städte wie Paris und Kopenhagen. Der Umbau der Stadt aber braucht Zeit: Paris verfolgt seit 24 Jahren das Ziel, den Autoverkehr zu reduzieren und neue Lebens- und Luftqualität zu gewinnen, Kopenhagen ist seit 13 Jahren auf dem Weg dahin. Die dort bereits realisierten Umbaumaßnahmen können auch hierzulande ein neues Denken des öffentlichen Raums anregen und Projekte anstoßen. Hamburg zeigt, dass es geht.
Text: de Rudder, Steffen, Weimar
Es bedarf eigentlich keiner Erinnerung, dass sich die schlechten Nachrichten gerade häufen, es muss aber trotzdem erwähnt werden, um den Rahmen abzustecken, in dem Planerinnen und Planer heute agieren. Die Ausgangslage ist ganz einfach: Die Klimakrise eskaliert, aber wir, als Fachleu-te fürs Planen und Bauen, können etwas dagegen tun, weil sich unsere Tätigkeit auf einige der übelsten Emittenten richtet: Häuser und Städte.
Das ist die gute Nachricht – wir können etwas tun. Klimaforscher, ohne die wir von der Klimakrise keine Ahnung hätten, sind selbst in der Krise, weil sie nicht fassen können, dass keiner auf sie hört. Sie sind zuständig für die schlechten Nachrichten. Wir dagegen können Vorschläge machen, wie das Problem zu lösen wäre.
Viele Kollegen und Kolleginnen tun das auch, mit gebauten Beispielen, und das ist die zweite gute Nachricht: Es geht. In unseren Nachbarländern erleben wir einen Boom der Straßenumbauten, und es sind nicht mehr nur die üblichen Verdächtigen aus Dänemark oder Holland, die mit neuen Projekten glänzen. Überall entstehen neue Straßenräume, entsiegelt, begrünt, zum Radfahren, zum zu Fuß gehen und zum Aufenthalt. Diese Straßen sind gebaute Fallstudien des nachhaltigen Stadtumbaus, sie zeigen, was geht und dass es geht.
Das derzeitige Wunderkind der klimagerechten Transformation ist Paris, weil hier in atemberaubendem Tempo gleich eine ganze Stadt umgebaut wird. Und es sind nicht die spektakulären Großprojekte, die am überzeugendsten sind – es ist die Masse der umgebauten Alltagsstraßen. Meist handelt es sich um die typischen Pariser Straßen, eher schmal, immer versiegelt und restlos zugeparkt. Aus ihnen machen die Planungsämter der Arrondissments wahre Wunderwerke der nachhaltigen Stadterneuerung: umfassend entsiegelt und begrünt, von Parkplätzen befreit, mit viel Platz zum Gehen und Radfahren. Meist sind dies die „rues aux écoles“, die Schulstraßen, mit denen das große Umbauprogramm im Jahr 2020 begonnen hat. Dahinter steckt die alte Idee der 15-Minuten-Stadt, als deren Zentren die rund 1200 Pariser Schulen fungieren und die damit zu Ausgangspunkten der „piétonnisation“ werden. Bis 2026 sollen dreihundert Schulstraßen umgebaut werden, die Zahl ist im Sommer 2025 fast erreicht, der 110- Millionen-Euro-Etat allerdings auch schon ausgeschöpft.
Das Programm ist clever gemacht, politisch wie gestalterisch. Der Umbau beginnt mit Bürgerforen, setzt sich fort mit temporären Absperrungen und endet nach relativ kurzer Bauzeit mit einem Produkt, gegen das niemand etwas haben kann: Wer wäre nicht dafür, dass Schulkindern vor Unfällen geschützt werden? Zwar gibt es auch Protest gegen die Umbauten, besonders gegen die Abschaffung von Parkplätzen, so wie jüngst in Montmartre, wo 700 Stellplätze verschwinden sollen und Anwohnende Plakate aus den Fenstern hängen: „Montmartre in Wut/Nein zu den nutzlosen Straßenarbeiten.“ Einen Teil der Maßnahmen hat das Planungsamt zurückgenommen, aber grundsätzlich ist klar: Der Stadtumbau ist unumkehrbar.
Dafür gibt es mindestens drei Gründe: Erstens besitzen weniger als ein Fünftel der Menschen in den Innenstadtbezirken ein Auto, in der hochverdichteten Stadt sind viele Bedarfe des Alltags fußläufig erreichbar. 2010, vor Beginn der Maßnahmen, lag der Fußverkehrsanteil schon bei fast vierzig Prozent, jetzt ist er auf 54 Prozent gestiegen – die Mehrheit profitiert von der piétonnisation.
Zweitens zeigte sich die Bürgermeisterin Anne Hidalgo im traditionell zen-tralstaatlich organisierten Frankreich bei der Durchsetzung der Verkehrswende resolut. Die Menschen in Paris sind nach zwei Amtszeiten von ihr genervt – ihrem Regierungsstil, den Baustellen, dem Lärm und dem Krach. Mit einer Art Überrumplungstaktik aber hat sie die Stadt in kurzer Zeit umgebaut. Ehe die Menschen überhaupt protestieren konnten, waren die begrünten Straßen schon da und konnten ihre Überzeugungskraft entfalten.
Drittens läuft der Prozess des Stadtumbaus schon länger, als allgemein wahrgenommen. 2001 kam mit Bertrand Delanoë der erste sozialistische Bürgermeister an die Macht. Sein glanzvolles „Grand Projet“ war die Erfindung von Vélib, des bis dahin größten Fahrradverleihsystems der Welt. Unter Delanoë wurde Anne Hidalgo zweite Bürgermeisterin, die Konzepte zum Rückbau des Autoverkehrs stammen aus dieser Zusammenarbeit. Stadtumbauprozesse sind Projekte „langer Dauer“; Paris ist seit 24 Jahren dabei.
Bis Paris kam, war Kopenhagen der Pilgerort der nachhaltigen Mobilität. In den 2010er Jahren haben spektakuläre Fahrradbrücken die Aufmerksamkeit auf das dänische Fahrradwunder gelenkt, und keine Brücke ist
so oft veröffentlicht worden wie die Cykelslangen von Dissing+Weitling aus dem Jahr 2014. Sie steht für eine Strategie, die Errungenschaften im Kampf für mehr Radverkehr deutlich herauszustellen und mit guter Architektur Zeichen zu schaffen, die weithin sichtbar und sinnlich erfahrbar sind.
so oft veröffentlicht worden wie die Cykelslangen von Dissing+Weitling aus dem Jahr 2014. Sie steht für eine Strategie, die Errungenschaften im Kampf für mehr Radverkehr deutlich herauszustellen und mit guter Architektur Zeichen zu schaffen, die weithin sichtbar und sinnlich erfahrbar sind.
Weniger spektakulär, aber mindestens genau so interessant sind die grünen Straßen und Plätze, die nach einem verheerenden Unwetter im Jahr 2011 entstanden sind. Nur ein Jahr später beschloss der Stadtrat einen umfangreichen Aktionsplan gegen künftige Katastrophen, den sogenannten Skybrudsplan, Wolkenbruchsplan. Statt aber hunderte von Millionen nur in Kanalarbeiten und unterirdische Bassins zu stecken, nutzte die Stadt die Chance, um den öffentlichen Raum aufzuwerten und die Schwammstadt auch oberirdisch sichtbar zu machen. In kurzer Zeit ist eine Vielfalt neuer Stadträume entstanden, die so in europäischen Großstädten noch nicht zu sehen waren. Eines der herausragenden Beispiele ist der 2019 abgeschlossene Straßenzug Sankt Kjelds Plads und Bryggervangen im Stadtteil Østerbro, entworfen von SLA Landskabsarkitekter. In Abstimmung mit den Anwohnenden und den Zielen des Skybrudsplan reduzierte SLA die Fahrspuren, konvertierte zwei Dittel der Asphaltflächen in wildes Grün und etablierte ein durchdachtes Konzept der Regenwassernutzung und -rückhaltung. Auf dem Platz und der 700 Meter langen Straße pflanzten die Landschaftsbauer 600 Bäume, 36.000 Stauden, setzten Farne, Schilf und Gräser. Das Ergebnis ist eine Art Mini-Dschungel, der in der steinernen Stadt wirkt wie ein grüner Überraschungseffekt. Im Sommer ist die kühlende Wirkung direkt spürbar, es blüht in allen Farben, und wer stehen bleibt, kann Vögel beobachten und Insekten – ein paar Ecken weiter ist wieder alles heiß und asphaltiert, und gleich wird klar, welche Qualität diese grünen Straßen in der Stadt entfalten können.
Sankt Kjelds Plads steht für einen neuen Typus von Stadtraum, der in Europa seit Mitte der 2010er Jahre aufgekommen ist. SLA spricht von city nature, andere Büros prägten Begriffe wie „Dritte Natur“ oder „Infranatur“. Gemeint ist, Natur in die Städte zu holen, aber nicht als Rosenbeet, manikürte Rasenfläche oder gestutzte Hecke, sondern als wucherndes Grün, das nach der Eigengesetzlichkeit von Biotopen und mit der genauen Kenntnis klimaverträglicher Bepflanzung Flora und Fauna mit der Stadt zusammenbringt. Der abstrakte Begriff der „blau-grünen Infrastruktur“ findet hier funktionale Gestalt und ästhetischen Ausdruck. Seit der Flutkatastrophe ist in wenigen Jahren eine lebendige Szene neuer Büros entstanden, die durch die Vielzahl der umgebauten Stadträume die erforder-liche Expertise erworben haben und in der Zusammenarbeit von Landschafts-, Verkehrs- und Stadtplanung sowie Tiefbau und Wasserwirtschafterprobt sind. Mit jeder Flut und jedem Hitzesommer steigt die weltweite Nachfrage nach eben dieser Expertise, so hat SLA gerade 104 Nachbarschaftsparks in Abu Dhabi zu grünen Oasen umgebaut.
Bis vor wenigen Jahren blieb Deutschland der weiße Fleck auf der Landkarte der neuen Straßenräume. Bis letzten Sommer plötzlich eine von Grund auf umgebaute, entsiegelte und begrünte Straße auftauchte, wie sie hier noch nicht zu sehen war. Ausgerechnet Hamburg, mit der alten Ost-West-Straße eine der härtesten Autostädte der Bundesrepublik, ist ein Lehrstück des klimagerechten Umbaus verkehrsbelasteter Stadtstraßen gelungen. Die Louise-Schröder-Straße in Altona verkörperte als dreispurige Rennstrecke mit beidseitigen Parkstreifen das ganze Grauen der auto-gerechten Stadt. Nach dem Umbau ist eine einzige Spur geblieben, nun flankiert von breiten Grünstreifen und ebenso breiten Radwegen, beglei-tet von komfortablen Gehwegen. Grünflächen als offene Oberflächenentwässerung, Regenwasserspeicher, Bäume, Blühwiesen, im Frühling sprießen weiße Tulpen – auf 600 Metern hat Hamburg hier das ganze Programm des blaugrünen Straßenbaus abgefeiert. Wie konnte das passieren? Es gab eine ganze Schar begünstigender Faktoren, zwei ragen im speziellen Fall heraus: erstens das Objekt selbst, zweitens das politische Umfeld.
Die Louise-Schröder-Straße war als Pilotprojekt perfekt geeignet, weil sie nie im Zentrum des Interesses stand und daher als Zankapfel nicht geeignet war. Einst als Zubringer für eine nicht realisierte Stadtautobahn gebaut, wurden die drei Spuren im Einrichtungsverkehr nie gebraucht. Rechts und links der Straße liegen zwei kleine Parks und ein Friedhof, auch der Parkdruck ist also gering. Pick your battles – die Straße war klug gewählt. Der Umbau fand in einem begünstigenden Umfeld statt: Seit drei Wahlperioden gibt es im Stadtstaat eine stabile rot-grüne Mehrheit, die Leugnung oder die Verharmlosung des Klimawandels finden zurzeit keine Mehrheit. Die für Straßen zuständige Stelle heißt in Hamburg „Behörde für Verkehr und Mobilitätswende“, und der amtierende Verkehrssenator befindet sich in seiner zweiten Amtszeit.
Das Hamburger Beispiel zeigt, dass – unter günstigen Bedingungen und mit äußerstem Pragmatismus – auch in Deutschland vorbildliche Straßenumbauprojekte realisierbar sind. Vorbedingung für alle Umbauprojekte ist der Rückbau des Autoverkehrs. In Deutschland ist das immer noch ein Problem, die Gründe sind seit langem bekannt, und die Klage darüber mag niemand mehr hören. Jetzt ist es produktiver, die sich vollziehenden Veränderungen wahrzunehmen und die Bedingungen gelungener Projekte zu verstehen. In dreißig Jahren Schneckentempo haben sich nämlich die Bedingungen verändert: Der Druck der Klimakrise ist gestiegen, die öffentliche Meinung hat sich gedreht, eine jüngere Generation rückt in den Verwaltungen nach, die Vorbilder in Paris, Kopenhagen und Barcelona entfalten ihre Wirkung. Und tatsächlich, auch aus Deutschland gibt es gute Nachrichten: In Leipzig wurden zum ersten Mal mehr Wege zu Fuß als mit dem Auto zurückgelegt, 33 zu 31 Prozent. Wirklich überraschend aber ist, dass ausgerechnet Berlin noch bessere Zahlen liefert: 34 Prozent für den Fußverkehr und ein rekordverdächtig niedriger Wert von 22 Prozent für den Autoverkehr. Leider verfügt keine der beiden Städte über ein zeichenhaftes Modellprojekt, das die Erfolge illustrieren und Signalwirkung entfalten würde. Nicht so in Tübingen: Seit letztem Jahr schwingt sich eine vierhundert Meter lange Fahrradbrücke in großen Bögen über Gleise und Bundesstraße und schließt die Lücke im sogenannten Blauen Band, einer zentralen Radtrasse in der Mitte der Stadt. Die Brücke ist inspiriert von der Cycelslangen in Kopenhagen, sorgte bei ihrer Eröffnung für großes Aufsehen und belegt, welche Wirkung die gestalterische Qualität neuer Verkehrswege entfalten kann. Das Vorbild stammt von 2014, 2016 besuchte der Tübinger Bürgermeister Kopenhagen, 2024 wurde das Nachfolgeprojekt eröffnet.
Ob Straßen gut funktionieren oder eher nicht, ob sie schön sind oder hässlich, beeinflusst unser Wohlbefinden – dies muss nach Jane Jacobs und Jan Gehl nicht mehr bewiesen werden. Jetzt aber müssen wir die Straßen umbauen, der Klimawandel zwingt uns. Die Projekte aus anderen Ländern sind nie direkt übertragbar, darum zum Schluss drei Thesen zum Umbau von Straßen in Deutschland:
1. Klimagerechte Transformation wird auch unter Bedingungen von Austerität stattfinden müssen. Was mit den Milliarden aus dem „Sondervermögen für Infrastruktur und Klimaneutralität“ passiert, ist völlig ungewiss. 600 Meter Straße in Hamburg kosteten fünf Millionen, die Brücke in Tübingen 16 Millionen. Beide Bauten sind großartig, aber wir brauchen schnellere, einfachere Veränderungen und vor allem viel mehr. Paris und Barcelona bieten gute Referenzen: Die Schnellstraße an der Seine wurde einfach gesperrt, die piétonnisation funktioniert vorerst auch ohne Entsiegelung, das gleiche gilt für die berühmten Superilles von Barcelona.
2. Klimagerechte Transformation wird unter den Bedingungen des rechten Populismus stattfinden müssen. Amerika ist das abschreckende Beispiel, in Deutschland rücken die Kräfte der Mitte unter dem Druck des Populismus in Richtung Klimaleugnung und -verharmlosung. Trotzdem zeigen Umfragen, dass Menschen weltweit sich mehr Aktivität für den Klimaschutz wünschen. Als Planerinnen und Planer müssen wir die blau-grüne Transformation darum selbst in die Hand nehmen. Referenzen sind Bürgerprojekte wie das „tegelwippen“, der holländische Entsiegelungswettbewerb, die Wuppertalbewegung, die gegen alle Widerstände den Bau der Nordbahntrasse durchsetzte oder die Swimmable Cities Alliance, die sich für die Regeneration städtischer Flüsse und ihre Nutzung als Badegewässer einsetzt.
3. Klimagerechte Transformation muss durch Schönheit überzeugen. Beim Umbau von Straßen, bei der Gestaltung von Verkehrsbauten, der Ausgestaltung von Grünflächen braucht es eine funktionelle Ästhetik der Nachhaltigkeit. Jedes Projekt bietet die Chance, Nutzerinnen und Nutzer von der klimagerechten Transformation zu überzeugen. Überzeugung gelingt durch Anschauung, durch gute Benutzbarkeit und sinnliche Ansprache. Eine verkehrsberuhigte Straße sollten nicht aussehen wie ein Hindernisparcours, sondern wie eine rue jardin.







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