Von Skelett und Haut, Kern und Hülse
Was verbindet Pflanzkübel, avantgardistische Architektur und die Verwandlung Wiens zur Großstadt? Eine stille, aber radikale Bauinnovation: der Eisenbeton. Eine Schau erzählt, wie das unsichtbare Gerüst hinter Wiens Prachtbauten zum Motor der Moderne wurde.
Text: Brückner, Arnold, Berlin
Von Skelett und Haut, Kern und Hülse
Was verbindet Pflanzkübel, avantgardistische Architektur und die Verwandlung Wiens zur Großstadt? Eine stille, aber radikale Bauinnovation: der Eisenbeton. Eine Schau erzählt, wie das unsichtbare Gerüst hinter Wiens Prachtbauten zum Motor der Moderne wurde.
Text: Brückner, Arnold, Berlin
Otto Kapfinger beginnt seine Führung im Wien Museum mit einer Anekdote: Schockiert sei er im Herbst 2016 gewesen, als er bei einem Gang durch die Stadt zufällig auf ein im Umbau befindliches Warenhaus stieß. Die entfernte Fassade des 100 Jahre alten Baus erlaubte ihm einen Blick auf das nackte Eisenbetongerüst. Dabei schienen die oberhalb liegenden Wohngeschosse unangetastet zu schweben. In diesem Moment ahnte Kapfinger, dass ein Schub in der Bautechnik im Wien der vorletzten Jahrhundertwende zu neuen Raumfiguren verhalf, die bislang nicht systematisch erforscht wurden. Da deren Leistungen unter der Oberfläche liegen, werde er ihnen mit formkritischen Analysen nicht gerecht werden. Folglich postulierte er „From Appearance To Performance“ als Leitmotiv für das Team des nun folgenden Forschungsprojekts dessen Ergebnisse in der Ausstellung „Anatomie einer Metropole – Bauen mit Eisenbeton in Wien 1890–1914“ vorgestellt werden.
Als Urvater des modernen Betonbaus gilt mit Joseph Monier ausgerechnet ein Gärtner. Der Franzose war auf der Suche nach einem dauerhaften Holzersatz für transportable Pflanzbehälter, als er Drahtgewebe mit einer Mischung aus Sand, Schlacke, Ziegelbruch und Wasser ummantelte und den Eisenbeton erfand.
Bald fanden sich experimentierfreudige Unternehmer, wie der Württemberger Gustav Adolf Wayss, der das neue Material bis nach Russland und Übersee bringen sollte. Vermutlich waren es die großen Infrastruktur- und Stadterweiterungsprojekte, die ihn Ende des 19. Jahrhunderts nach Wien führten, wo er sich niederließ. Mit seinen Versuchsbauten für die Südbahn-Gesellschaft und die Wienflusrüberwölbung demonstrierte er nie dagewesene Spannweiten und schon bald wurde in der ganzen Stadt nach seinen Methoden gearbeitet.
Wiens Ausbau zur Metropole brachte reichlich Aufträge und so wagten sich immer mehr Unternehmer an die neue Bauweise. Weil auf den Großbaustellen die Firmen kooperieren mussten, um die riesigen Bauvolumen überhaupt zu bewältigen, entstand ein Klima der Kooperation und Innovation. Der nächste entscheidende Schritt gelang dem jungen Eduard Ast, der im Jahr 1900 Wiens ersten Eisenbetonskelettbau errichtete. Für die Druckerei löste er die bislang nötigen tragenden Wände in Stützen auf. Mit flachen Monierdecken entstand ein monolithisches Gerüst, dass hohe Lasten tragen konnte, feuerfest war und frei ausgebaut werden konnte. Es war eine Revolution, die Wellen schlug und Ast sofort ins Zentrum der Avantgarde rückte. Nur vier Jahre danach war er Ingenieur und Baumeister dreier ikonischer Bauten: Otto Wagners Postsparkasse, Josef Plečniks Zacherlhaus und Josef Hoffmanns Sanatorium Westend. Beim Umbau der Residenzstadt zur Metropole spielte der Eisenbeton seine Stärke vollends aus.
Wo Straßen verbreitert und Parzellen verkleinert wurden, war der Baugrund knapp und teuer. Beton brachte einen enormen Flächenzuwachs gegenüber den alten Mauern aus Ziegel. Innerhalb der wenigen Jahre bis zum Ersten Weltkrieg entstand eine große Zahl hybrider Gebäude von höchster Qualität und größter Flexibilität, die sich bis heute großer Beliebtheit erfreuen. Die Aktivitäten von Tag und Nacht wurden in komplexen Figuren gestapelt: Theater, Kinos und Cabarets überspannt von brückenartigen Rahmenträgern im lichtlosen Souterrain, darüber Cafés und Geschäfte mit wenigen Stützen und riesigen Fenstern, gefolgt von frei unterteilbaren Büros und großzügigen Wohnungen. Am Dach Ateliers und Säle für Tanz und Sport. Die Auftraggeber waren wagemutige Unternehmer, die weitblickend an die nächsten Generationen dachten. Die Metropole hatte ihr Material gefunden. Im Zusammenspiel von Ingenieur und Architekt auf Augenhöhe entstand eine Dialektik von Skelett und Haut, Kern und Hülse, die im Looshaus am Michaelerplatz ihren Höhepunkt fand. Die Gesellschaft, die sich diese Hüllen baute, war aber schon mit dem Kriegsende 1918 ihrer materiellen Grundlage beraubt. Vom Kulturbruch 1938, der die meisten Protagonisten unmittelbar betraf, hat sich Wien bis heute nicht vollständig erholt.
Kapfinger und sein Team erzählen die Geschichte des Wiener Eisenbetonbaus spannend in einem monumentalen Band, der selbst ein Meisterwerk ist. Die Ausstellung im Wien Museum, kuratiert von Andreas Nierhaus und Eva-Maria Orosz, besticht durch die großmaßstäblichen Strukturmodelle, die Studierende der TU Wien unter Leitung von Felix Siegrids schufen. Um dem Thema, dessen Lösungsansätze bis zu den ökologischen Fragen unserer Zeit reichen, gerecht zu werden, hätte man sich mehr Raum gewünscht.







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