Eine Straße, tausend Gesichter
Die „Hauptstraße“ gibt es überall. André Lützen ist ihr quer durch Deutschland nachgegangen – seine Fotografien, derzeit im Altonaer Museum zu sehen, formen ein ungewöhnliches Porträt der Gegenwart. Was zunächst unscheinbar oder trist erscheint, offenbart sich beim genaueren Hinsehen als Bild eines Landes zwischen Leere und Dichte, Nähe und Abstand.
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Eine Straße, tausend Gesichter
Die „Hauptstraße“ gibt es überall. André Lützen ist ihr quer durch Deutschland nachgegangen – seine Fotografien, derzeit im Altonaer Museum zu sehen, formen ein ungewöhnliches Porträt der Gegenwart. Was zunächst unscheinbar oder trist erscheint, offenbart sich beim genaueren Hinsehen als Bild eines Landes zwischen Leere und Dichte, Nähe und Abstand.
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Die Hauptstraße gibt es hierzulande in 6451-facher Ausführung. Rund 300 hat der Hamburger Fotograf André Lützen 2022/23 in ganz Deutschland aufgesucht und fotografiert, 61 seiner Bilder sind derzeit im Altonaer Museum in Hamburg ausgestellt. Wer einen Blick auf jene Orte abseits des großen Geschehens werfen will, sollte einen Besuch nicht versäumen – die Fotos ergänzen sich zu einem genauen Porträt des Durchnittsdeutschlands der Gegenwart. Tatsächlich findet sich die „Hauptstraße“ meist eher in kleineren Orten: in Orferode oder Erfurt-Rhoda, in Amsdorf oder in Homburg-Einöd. Nomen est Omen: Die Tristezza ist greifbar. Im Zuge des Siegeszugs des Autos und der Konzentration des Handels in Gewerbegebieten hat sich die „Hauptstraße“ in vielen dieser Orte zum Wohngebiet verwandelt, und das drückt sich in vielen baulichen Abwehrmaßnahmen unerwünschter Einblicknahme aus: in heruntergelassenen Rolläden, in Zäunen und menschhohen Hecken. Ist doch mal ein Blick in den privaten Freiraum möglich, findet sich das übliche Arrangement aus Grill, Plastikstühlen, vielleicht ein paar billigen Spielgeräten für den Nachwuchs. Gibt es doch mal ein Ladenlokal, wie in den größeren Orten, bereichern Imbissbude oder Spielhalle die Nachbarschaft. Kaum aber finden sich Orte für gemeinschaftliches Leben: Kein Brunnen, keine Bank, kein Boule-Platz; das Kriegerdenkmal steht eingewachsen irgendwo, scheint aber nicht mehr ein Bezugspunkt zu sein. „Was könnte hier passiert sein?“, fragt sich Lützen vor so mancher Situation. Kaum möglich ist es, regionale Unterschiede auszumachen: Ob die fotografierte „Hauptstraße“ nun in Ost oder West liegt, im Norden oder Süden des Landes, lässt sich weder anhand des Bildes selbst noch durch die Abfolge der Fotos in der Ausstellung identifizieren (ist dank der genauen Ortsangabe unter den Bildern samt Postleitzahl aber mühelos möglich). Die Bilder, in zwei Reihen in seriellem Rechteck-Format gehängt, unterbrochen von einzelnen Großformaten, die das Publikum direkt in die Situation hineinstellen, verschmelzen zum Eindruck einer einzigen deutschen Hauptstraße. Dass es trotzdem kurzweilig und anregend ist, die Bilder zu betrachten, liegt an Lützens genauen Blick für Details und Skurrilität: etwa wenn im schleswig-holsteinischen Ort Wacken, alljährlich Schauplatz eines großen Heavy Metal-Open Air, das Dachfenster eines kleinbürgerlichen Einfamilienhauses mit einem Motörhead-Banner verhängt und das (Wohnzimmer-?) Fenster darunter natürlich mit Rolladen verschlossen ist. Die Dramaturgie folgt dem Kontrast von Leere und Dichte, von Nahblick und Abstand.
Doch kommt man dem Leben der Menschen hinter ihren Barrikaden auch in Lützens Ausstellung ganz nahe: In einem Kabinett hängen Filmstills aus Super 8-Filmen aus den 70er und 80er Jahren, die der Fotograf seit Jahren aus privaten Nachlässen, im Internet oder auf Flohmärkten kauft. Hier sind sie dokumentiert, die ungestellten Selbstdarstellungen bei Geburtstagsfeier, Hochzeit und Weihnachtsschmaus oder gar bei den Schießübungen im Schützenverein: eine Gesellschaft im Rückzug.







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