Der automobile Mensch
Ein Leben ohne Auto? Das hieße ja: Einkaufen in nächster Nähe, zu Fuß oder mit dem Rad, öffentlich in die Arbeit fahren, am Ende sogar Urlaub mit der Bahn! Und ob da die Wirtschaft noch funktioniert? Über gedankliche Schallschutzwände auf unserem Highway in den Ökokollaps – und vorhandene Auswege, die wir nicht sehen wollen
Text: Seiß, Reinhard , Wien
Der automobile Mensch
Ein Leben ohne Auto? Das hieße ja: Einkaufen in nächster Nähe, zu Fuß oder mit dem Rad, öffentlich in die Arbeit fahren, am Ende sogar Urlaub mit der Bahn! Und ob da die Wirtschaft noch funktioniert? Über gedankliche Schallschutzwände auf unserem Highway in den Ökokollaps – und vorhandene Auswege, die wir nicht sehen wollen
Text: Seiß, Reinhard , Wien
In fünf Jahren sollten wir so weit sein. Zumindest hat die Politik das versprochen: Bis dahin erreichen wir die ersten Klimaziele. Wobei, je näher das Jahr 2030 rückt, umso größer werden die Zweifel daran. Viele haben zuletzt ihre alten Ölheizungen ausgetauscht. Der Verkehr aber wächst und wächst und wächst. Seit den 1990ern gibt es das politische Ziel, dass er weniger werden muss. Fast ein Drittel unserer CO2-Emissionen stammt aus dem Auspuff der Autos – und da reden wir noch gar nicht von Smog und Feinstaub oder davon, was neue Straßen in Natur und Landschaft anrichten. Auch nicht davon, dass es die Einkaufszentren und Supermärk-te auf der grünen Wiese nur dort gibt, weil wir alle mit dem Auto hinfah-ren – genauso wie die scheußlichen Gewerbegebiete. Und dass auch ihretwegen so viele Innenstädte leer stehen. Und jetzt sagen Sie bloß nicht, dass Elektroautos all diese Probleme lösen.
Wenn es nur so wäre, dass wir beim Verkehr keine Fortschritte machten – die Verkehrspolitik der letzten Jahrzehnte ist sogar ein Rückschritt, in- und außerhalb Deutschlands. Österreich zum Beispiel hat im Jahr 2002 eine „Nachhaltigkeitsstrategie“ beschlossen; seither wurde das Straßennetz um 800 Kilometer ausgebaut, während das Schienennetz um 700 Kilometer geschrumpft ist. Auf vielen Strecken wurde der Bahnverkehr eingestellt, wogegen der Autobahnbau munter weitergeht.
Freilich darf man nicht alles auf die Politik schieben. Auch Wirtschaft undGesellschaft helfen kräftig mit: Früher war ein Pkw eine Tonne schwer. Heute fahren wir mit zwei Tonnen durch die Gegend, oft weniger als ein, zwei Kilometer weit. Damit wir die Kinder in die Schule bringen, oder die Croissants für das Sonntagsfrühstück holen – und ins Fitness Center fahren, um uns wieder einmal zu bewegen. In Sachen Energieeffizienz schneidet der heutige Gebrauch – oder Missbrauch – des Autos deutlich schlechter ab als jede Ölheizung aus den 70er Jahren.
Gleichzeitig ist fraglich, ob wir das Klima tatsächlich durch Effizienzsteigerung und andere technische Verbesserungen retten werden. Zumindest im Verkehr erscheint das problematisch. Denn „verbessern“ lässt sich nur das, was prinzipiell gut läuft. Solange wir aber ins Auto steigen, obwohl wir – ganz bequem – die Bahn, das Fahrrad oder unsere Füße nutzen könnten, so lange läuft im Verkehr etwas prinzipiell falsch. Und etwas Falsches kann man nicht perfektionieren, man muss es ändern.
Es stimmt schon: Der öffentliche Verkehr ist in weiten Teilen Deutschlands ebenso wie Österreichs eine Katastrophe. Aber das muss ja nicht sein. Genauso, wie es nicht sein müsste, dass Radfahren vielerorts lebensgefährlich ist – oder die Wege für Fußgänger oft nur Restflächen im Straßenraum sind. Noch dazu, da das alles nicht einfach so passiert, sondern das Ergebnis von Gesetzen, Planungen und Investitionen ist – zugunsten des Autos. Die Politik könnte auch zugunsten von Mensch und Umwelt entscheiden und damit die selbstgesteckten Ziele erfüllen. Und das für einen Bruchteil des Geldes, das jetzt in den Individualverkehr fließt.
Doch unseren Volksvertretern liegt der Autoverkehr offenbar am Herzen. Mehr als zum Beispiel Bildung oder Kultur, ja, sogar mehr als die Versorgung von Kranken und Alten. Sonst wäre es nicht möglich, dass unsere Steuern schon lange nicht mehr reichen, um genügend in soziale Struk-turen zu investieren, während gleichzeitig Unsummen in den Bau von Straßen fließen. Der gilt der Politik schlichtweg als notwendig – ohne jede sachliche Abwägung von Kosten und Nutzen, und schon gar nicht von Nutzen und Schäden. Wobei „notwendig“ eigentlich bedeutet, dass eine „Not“ zum Besseren „gewendet“ werden muss. Glauben unsere Entscheidungsträger wirklich immer noch, der Autoverkehr stecke in einer größeren Notlage als das Klima?
Alles für das Wachstum
Wenn es keine politischen Argumente mehr für neue Straßen gibt, so gibt es immer noch ein letztes, unumstößliches, nämlich: „die Wirtschaft“. „Wachstum braucht Mobilität!“, heißt es dann, und: „Mobilität braucht Wege!“ Wissen Sie, wie das Wirtschaftswachstum berechnet wird? Prinzipiell ist alles, wofür Geld hin- oder herließt, Teil unseres Wachstums. Jeder neugebaute Autobahnkilometer, jede noch so sinnlose Verkehrsüberwachungsanlage, jede Leerfahrt eines Lkw. Und: sogar jeder Verkehrsunfall. Wenn Sie Ihren Wagen gegen einen Baum fahren, ist das Wirtschaftswachstum. Weil der Abschleppwagen und die Kfz-Werkstatt und der Autoersatzteilhersteller ebenso wie der Autoersatzteillieferant, aber auch das Krankenhaus, in das man Sie bringt, und die Reha-Klinik, in der man Sie danach betreut, durch Ihren Unfall verdienen. Ist es nicht absurd, dass so ein Verständnis von Wachstum seit Jahrzehnten das politische Handeln bestimmt? Dass die Schäden des Autoverkehrs – an Mensch und Umwelt – und alle damit verbundenen Kosten in eine Gesamtrechnung einfließen, die uns am Ende sagt: Gott sei Dank, es geht uns dieses Jahr um 0,5 Prozent besser als im Vorjahr! Der alte Spruch „Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut“ stimmt schon lange nicht mehr. Vielmehr muss es heißen: „Geht’s dem Klima schlecht, geht’s uns allen schlecht.“
Das Tragische ist: Es gibt sie längst, die Alternativen zum besinnungslosen Straßenbauen und Autofahren. Doch nur, weil man woanders ohne oder mit deutlich weniger Autos auskommt, muss das nicht auch bei uns gehen – und auf dem Land schon gar nicht. Um zumindest eine Idee zu bekommen, wie so etwas ausschauen könnte, empfiehlt sich ein Besuch der ostfriesischen Inseln, etwa von Langeoog. Von der Nordseeküste aus braucht man mit der Fähre eine halbe Stunde hinüber. Am Hafen wartet dann schon der Zug. Der befördert Handwerker vom Festland, Pend-ler und Touristen genauso wie die tägliche Post und verschiedenste Güter, die man auf der Insel braucht.
Sieben Minuten dauert die Fahrt in den Ort Langeoog. Dort schaut es auf den ersten Blick nicht anders aus als in jedem norddeutschen Dorf. Spätestens am Bahnhof fällt aber auf, dass da doch etwas ungewöhnlich ist: Der Parkplatz ist voll mit Rädern und Radanhängern, aber es ist kein einziges Auto zu sehen, auf der gesamten Insel. Sogar der öffentliche Verkehr muss hier auf Motoren verzichten: Er wird von Pferdekutschen übernommen – wobei die kaum einer braucht. In Langeoog kommt man zu Fuß und mit dem Rad überall hin, weil es auf der Insel keine Zersiedlung gibt, und alles nah beieinander ist.Hier ist vieles selbstverständlich, was anderswo undenkbar wäre: ein Mann um die sechzig, der mit einem Lastenrad unterwegs ist. Im Allgäu würde jeder glauben, dass der den Führerschein abgeben musste. Oder Handwerker, die kein Firmenauto haben: Im Ruhrgebiet wäre das ein Grund zu kündigen. In Langeoog dagegen nimmt der Arbeiter den Werkzeugkoffer mit aufs Rad. Sogar die Polizei muss in die Pedale treten – was völlig ausreicht, weil die Bankräuber hier auch nicht schneller sind.
Die Langeooger sehen ihre Autolosigkeit nicht als Verzicht, sondern als Teil ihrer Lebensqualität. Weil nicht alle ständig überall hinfahren können, ist es notwendig, dass möglichst viel vom täglichen Bedarf im Ort selbst abgedeckt wird. So gibt es auf der Insel die verschiedensten Handwerker und eine Vielfalt an Läden, die ihresgleichen sucht. Von der Buchhandlung über eine Boutique bis hin zur Kaffeerösterei. Dadurch hat sich Langeoog eine Eigenständigkeit und Unabhängigkeit bewahrt, die andere Gemeinden mit 1800 Einwohnern längst verloren haben.
Antriebslos trotz Motor?
„Mobilität“ hatte mit Verkehr ursprünglich gar nichts zu tun. Das Wort bedeutete Beweglichkeit, auch geistige, Anpassungsfähigkeit und Gewandtheit. Man wusste sich zu helfen, gerade auf dem Land, mit viel Kreativität. „Was man nicht im Kopf hat, muss man in den Beinen haben“, hieß es früher. Der Dumme hatte stets längere Wege. Und die kosteten Kraft, zumindest solange er zu Fuß unterwegs war. Mit der „Auto-Mobilität“ hat sich das geändert. Ohne Kraftanstrengung wechseln wir den Ort. Das gilt für den Arbeitsplatz genauso wie für den Einkauf. Der Dumme hat durchs Auto heute keinen Nachteil mehr. Dafür ist in der Gesellschaft die geistige Mobilität einer gewissen Debilität gewichen. Eine Abkehr vom heutigen „way of life“ oder des „way of drive“ ist für viele unvorstellbar: Nur, weil wir von heute auf morgen nicht aufs Auto verzichten können, sträuben wir uns, darüber nachzudenken, wie uns das übermorgen gelingen kann.
Nachgedacht wurde in Basel. Dort ist man mehrheitlich der Meinung, dass eine lebenswerte Stadt eine möglichst autofreie ist. 2010 hatten die Stimmbürger beschlossen, der Autoverkehr solle bis 2020 um zehn Prozent abnehmen. Und tatsächlich tat er das, während der Pkw-Verkehr im restlichen Land weiter gewachsen ist. Heute hat Basel von allen Schweizer Großstädten die wenigsten Autos pro Einwohner. Und so werden hier immer mehr Straßen dem Kfz-Verkehr entzogen, rückgebaut, umgestaltet – und den Menschen als Lebensraum zurückgegeben.
Wenig überraschend ist Basel auch die Fahrradhauptstadt der Schweiz. Selbst im Güterverkehr mischt das Rad inzwischen mit. Am Basler Güterbahnhof hat die „Kurierzentrale“ ihren Paketumschlagplatz, an die hundert Kuriere fahren auf Lastenrädern quer durch die Stadt, mit 160.000 Paketen im Jahr. 400.000 Kilometer kommen so zusammen – zehn Erdumrundungen, die sonst Lieferwagen übernehmen würden. Wobei man erst am Anfang steht: Lastenräder könnten mehr als die Hälfte aller innerstädtischen Transportfahrten bewältigen, noch ist es in Basel nicht einmal ein Prozent. Ein Viertel des Autoverkehrs in einer Stadt wie Basel entfällt heute bereits auf den Gütertransport – der Boom von Amazon & Co. bleibt eben nicht folgenlos. Zudem zeigen die klassischen Versandfirmen wenig Ambition zur Zusammenarbeit. So stehen oft vier verschiedene Lieferwagen zeitgleich vor ein und demselben Haus, jeder von ihnen halb leer. Basel möchte die Paketauslieferung am Güterbahnhof bündeln und dort vor allem aufs Rad verlagern. Der Radtransport ist dabei nicht aufs Stadtgebiet beschränkt. Die Kurierzentrale hat Partner in zehn Städten des Landes. Wenn ein Paket also ans andere Ende der Schweiz muss, bringt es ein Basler Radbote zum Zug, in Genf oder Lugano holt es ein weiterer Radbote ab und stellt es noch am selben Tag zu.
Seinen Pendlern bietet Basel mit der Straßenbahn einen passablen Ersatz fürs Auto. Viele der 13 Linien fahren weit über die 170.000-Einwohner-Stadt hinaus – in vier umliegende Kantone. Da Basel direkt an der Grenze zu Deutschland und Frankreich liegt, fährt die Tram sogar ins Ausland, bis ins Zentrum der deutschen Nachbarstadt Weil – vor allem bezahlt aus Schweizer Kassen. Wenn sich in Deutschland also jemand darüber aufregt, dass der Staat zu viel für Entwicklungshilfe ausgibt, erzählen Sie ihm doch, wie Weil zu seiner Straßenbahn gekommen ist.
Die Schweiz setzt auf die Schiene
Übertroffen wird die Basler Straßenbahn noch durch die in Zürich. Dort fährt eine Sperrmüll-Tram jeden zweiten Tag in ein anderes Stadtteilzentrum und sammelt kaputte Sofas, alte Fenster oder Metallschrott. Elektroschrott wiederum nimmt die „E-Tram“ an. An ihren Haltestellen können die Menschen aus der Umgebung Haushaltsgeräte, Bürogeräte oder Unterhaltungselektronik entsorgen. Die einzige Bedingung ist: Sie müssen zu Fuß kommen. Die Stadt will damit zeigen, was auf der Schiene alles möglich ist. Und dass es zumindest in Ballungsräumen keine Notwendigkeit für ein eigenes Auto gibt. Vorausgesetzt, der öffentliche Verkehr funktioniert.
Mitten in Zürich, direkt an der Limmat, steht die größte Getreidemühle der Schweiz. Die Nähe zur Wasserkraft, zu Arbeitskräften und zur Eisenbahn waren lange Zeit die wichtigsten Standortfaktoren für so einen Betrieb. Heute geht das auch auf der grünen Wiese, mit Anschluss an die Autobahn. Besagte Mühle ist trotzdem ihrem alten Standort treu geblieben, und auch dem gewohnten Transportweg: der Schiene. Morgens und abends verkehren täglich zwei, drei oder auch mehr Züge mit fünf bis sechs Güterwaggons zwischen der Mühle und der nächsten Bahnstrecke – mitten auf der Straße, quer durch die gründerzeitlich geprägte Stadt.
Diese hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. So fährt der Güterzug heute, in Schrittgeschwindigkeit, vorbei an modernen Bürogebäuden, Kulturstätten und Boutiquen, an Szenelokalen und Straßencafés, mit oft nur wenigen Zentimetern Abstand zu den Gästen. Stören tut das niemanden. Im Gegenteil. Es ist beinahe eine Attraktion des Viertels geworden. Im Straßenraum kommen Radfahrer und Fußgänger, Autofahrer und die Tram genauso gut mit dem Zug aus. Vielleicht ist ihnen bewusst, was es hieße, wenn die 200.000 Tonnen Getreide, die übers Jahr angeliefert werden, auf Lastwagen durch den Stadtteil rollen würden.
Die Mühle nutzt die Bahn übrigens nicht aus ökologischer Überzeugung, sondern aus wirtschaftlichen Gründen. So eine Lkw-Fahrt ist in der Schweiz nämlich gar nicht so billig, weil die Straßenbenutzungsgebühr hier angemessener ist als in der EU. Und weil man die Fahrer nicht so ausbeuten darf. Dazu kommt ein Nachtfahrverbot für sämtliche Lkw, auf allen Straßen des Landes. Was in Deutschland oder Österreich einen Aufschrei der Frächter und Weltuntergangsszenarien der Wirtschaftskammern auslösen würde, ist in der unternehmerfreundlichen Schweiz völlig normal. Wer Transporte über Nacht abwickeln will, kann das ja auf der Schiene tun. Und das nutzen in der Schweiz sogar die großen Supermarktketten, selbst für ihre täglichen Frischwarenlieferungen. Zum Vergleich: In Österreich verfrachten Rewe, Spar, Aldi und Lidl exakt gar nichts mit Güterzügen. Weil ihnen das die Politik nahelegt. Lieber finanziert sie für deren Verteilzentren neue Autobahnabfahrten, statt sie für Österreichs Nachhaltigkeitsstrategie in die Pflicht zu nehmen. Ja, hierzulande werden sogar Baumstämme und Neuwagen auf Lastwagen quer durch die Republik gekarrt, weil es mit der Bahn einfach „zu umständlich“ und „zu teuer“ wäre.
In der Schweiz dagegen gibt es nichts, was der ÖPNV nicht leisten könnte – und das selbst in den entlegensten Regionen. Selbst Gefangenentransporte wickelte man bis vor kurzem noch mit der Bahn ab. Der so-genannte „Jail Train“ wurde Anfang dieses Jahres eingestellt, allerdings aus fahrzeugtechnischen Gründen. Mehr als 100 Jahre lang verkehrte der Gefängniszug zwischen Genf, Lausanne, Bern, Basel und Zürich – und verband damit regelmäßig die wichtigsten Städte im Land, auch für die schweren Jungs. Nur damit Sie Bescheid wissen, wenn in der Politik wieder einmal von der Alternativlosigkeit des Autoverkehrs die Rede ist.







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