Bauwelt

Jenseits des Rasters – Architektur und Informationstechnologie | Anwendung einer digitalen Architektonik

Text: Weckherlin, Gernot, Berlin

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Jenseits des Rasters – Architektur und Informationstechnologie | Anwendung einer digitalen Architektonik

Text: Weckherlin, Gernot, Berlin

Nicht weniger als eine „zukunftsweisende Werkschau experimenteller Arbeiten und prototypischer Projekte“, gar ein „Neudenken von architektonischen Elementen“ jenseits vordigitaler Paradigmen des Rasters, der Präzision und der Effizienz verspricht dieses Buch in der flotten Fortschrittsrhetorik univer­sitärer Forschungseinrichtungen. Das Werk des im Jahr 2000 an die ETH Zürich berufenen Architekten und Computerwissenschaftlers Ludger Hovestadt ist trotz der wenig ansprechenden Grafik eine interessante Lektüre, bietet es doch einen Rückblick auf die letzten zehn Jahre und die Wandlungen der digitalen Techniken, die sich in dieser Zeit in der entwerferischen Praxis vollzogen haben.
Diese hat den Horizont des rein virtuellen Modellierens mehr oder weniger origineller Formen am Rechner längst hinter sich gelassen. Es geht dem Autor nicht darum, Vorstellungen von einem Gebäude gleichsam in den Rechner hineinzubringen – stattdessen wird eine Übersicht zahlreicher Experimente der letzten Jahre dokumentiert, die sich zumeist mit algorithmischen Spielregeln beschäftigen, welche die Logik und Methode des Entstehungsprozesses eines Stuhls, eines Gebäudes oder gar eines ganzen Stadtteils bestimmen.
Was damit gemeint ist, wird am wohl bekann­testen Beispiel der gezeigten Werke, der Dachkonstruktion des Pekinger Olympiastadions von Herzog & de Meuron, deutlich. Während die Architekten ein eindrückliches Bild einer freien Trägerstruktur aus dem Photoshop-Tuschkasten zauberten, das aber nur die Vorderseite des Bauwerks darstellte, sahen sich die Konstrukteure gezwungen, eine baubare drei­dimensionale Struktur mit ihren statischen wie konstruktionstechnisch bedingten Forderungen, wie etwa die maximale Trägerlänge, zu schaffen. Dieser Wechsel der Sichtweise hin zu den allen digitalen Entwurfsprozessen zugrunde liegenden algorithmi­schen „Tiefenstrukturen“ ist der Kern dieses Paradigmenwechsel. So reichen die dokumentierten Projekte von jenen schon bekannten städtebaulichen Programmierungen à la „Kaisersrot“, einer Software, die auf der Ebene eines Bebauungsplans, der zunächst aus einem beweglichen Zellhaufen aus individuellen Wunschgrundstücken und anderen entwurfsrelevanten Parametern qua Partikelsimulation eine städtebauliche Idealplanvariante erzeugt, bis hin zu Experimenten, die auf eine Schließung der Kette zwischen digitalem Entwurf und der sich daraus entwickelnden digitalen Konstruktion und Herstellung der jeweiligen Bauteile in Holz, Blech oder anderem Material gerichtet sind. Während die städtebaulichen Programmierungen Einzelwünsche stärker berücksichtigen sollen, als dies mit einer bis dato üblichen Planung möglich war, versprechen die neuen Planungswerkzeuge die Realisierbarkeit bisher zu vertretbaren Kosten nicht herstellbarer Konstruktionen und zuletzt eine vollständige Durchdringung des Entwurfsprozesses bis hin zur Steuerung der Zuschnittwerkzeuge etwa im Holzbaubetrieb. Dass sich hier eine tief greifende Veränderung der Arbeitswei­sen abzeichnet, wird auch in den lesenswerten, zwischen die Projektdokumentation eingeschobenen
Essays deutlich, die einen Einblick in die vielschichti­gen Arbeitsfelder aktueller Architekturinformatik bieten. Einzig wer in diesem Buch Details der Programmierarbeit selbst sucht, wird enttäuscht werden.
Woran es darüber hinaus liegen mag, dass einen bei nüchterner Betrachtung der digital geölten urbanistischen „Konsensmaschine“ (Hovestadt) ein leises Unbehagen gegenüber solchen Experimenten beschleicht, dass man sich hier seltsam an Ludwig Hilberseimers „rein theoretischen, ohne jede Gestaltungsabsicht“ angekündigten Planungsversuch von 1927 erinnert sehen könnte – darüber lohnt es sich nachzudenken. So wie jener einst seine schemati­sche Hochhausstadt beschrieb, taucht heute Vergleich­bares als ein undogmatischer, digitaler Neofunktionalismus unter anderen Vorzeichen wieder auf; aus meist ökonomisch motivierten Randparametern wie maximaler Bebauungsdichte entstehen stets neu anpassbare virtuelle Modelle zu Planungen, die sich, freilich subtiler als im funktionalistischen Schema, an jede algorithmisierbare lokale Bedingung im Detail wie im Großen anpassen. In der analogen Welt kann man so inzwischen eine neue digitale Fassadenornamentik bewundern, die heute fast zwanghaft die verpönte, simple, prädigitale Rasterung als Ausdruck der früher kulturell vorherrschenden Logik der industriellen Produktion zu vermeiden sucht. Die im Städtebau wie im einzelnen Bauwerk dank der Parametrisierung sich öffnenden Möglichkeitsräume auszufüllen ist dabei ein jenseits des technischen Expertentums auszuhandelndes offenes Problem der digitalen Kultur. Doch dafür verantwortlich sind weder allein die Werkzeuge noch die sie programmie­renden Informatiker, sondern vor allem diejenigen, die sich ihrer bedienen – auch das wird in diesem Buch deutlich.
Fakten
Autor / Herausgeber Ludger Hovestadt
Verlag Birkhäuser Verlag, Basel Berlin Boston 2009
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aus Bauwelt 29.2010

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