Bauwelt

Wie weiter mit dem „Armenhaus Bayerns“?

Text: Santifaller, Enrico, Frankfurt am Main

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Postkarte des von Victor Vasarely verkleideten Sprungturms im Selber Hallenbad
Privatarchiv

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Postkarte des von Victor Vasarely verkleideten Sprungturms im Selber Hallenbad

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Wie weiter mit dem „Armenhaus Bayerns“?

Text: Santifaller, Enrico, Frankfurt am Main

Innovative Architektur soll dem Stadtumbau der oberfränkischen Kleinstadt Selb positive Presse bringen. Trotz vieler gelungener punktueller Maßnahmen – dem Ort fehlt ein Konzept für die Innenstadt.
Der Oberbürgermeister lobt das „architektonische Meisterwerk“, der Regierungspräsident den Strukturfonds der EU, der das Bauwerk mit über zwei Millionen Euro förderte, und der Landrat appelliert: „Es geht aufwärts, wenn wir alle zusammenarbeiten.“ Nachdem das Gebäude gesegnet, Weihwasser versprengt und gemeinsam ein Vaterunser gesprochen war, wurde Mitte Januar das „Haus der Generationen“ in Selb seiner Bestimmung übergeben. Geplant von den beiden spanischen Architekturbüros Gutiérrez-­delaFuente und TallerDe2, beherbergt das Haus Jugendhostel und -zentrum. In letzterem sollen auch Programme für ältere Bürger angeboten werden. Wie schon bei dem mit dem Bauwelt-Preis 2013 ausgezeichneten Haus der Tagesmütter in Selb (Bauwelt 1–2.2013) gruppierten die Madrider Architekten unterschiedlich hohe, raumbildende Streifen um einen zentralen Innenhof. Ein knallbunter Solitär, umringt von bisweilen recht heruntergekommenen Häusern, und doch sensibel eingepasst – oder, wie es Selbs Bauamtsleiter Helmut Resch formulierte, „innovative Architektur auf europäischer Ebene“. In dieser Architekturliga hat die 15.000-Einwohner-Stadt schon einmal gespielt, in den seligen Sechzigern und Siebzigern. Philipp Rosenthal, einst SPD-MdB und Chef des gleichnamigen Porzellanherstellers, eröffnete damals ein neues Geschäftsfeld mit Keramikkreationen von Künstlern und bescherte seinem Heimatort nebenbei moderne Architektur.
Morandini, Hundertwasser, Gropius
Die Spiegelglas-Fassade am Rosenthal-Verwaltungsgebäude stammt vom Designer Marcello Morandini, das Fabrikgebäude daneben bekam einen regenbogenfarbenen Anstrich vom Künstler Otto Piene, selbst Friedensreich Hundertwasser durfte eine Fassade mit einem Mosaik aus speziell hierfür hergestellten Keramikplatten schmücken. Und der französische Grafiker Victor Vasarely verkleidete den Sprungturm im Selber Schwimmbad mit gleichem Material. Sogar Walter Gropius plante unter dem Stichwort „Humanisierung der Arbeitswelt“ ein ganzes Werk für den Unternehmer Rosenthal, im Zentrum ein Glashaus, in dem zwischen Baumpflanzen rosarote Flamingos stolzierten. Die sind mittlerweile ausgeflogen. Lang ist’s her. Von den einst über 5000 Arbeitsplätzen im Porzellan-Unternehmen gibt es heute nicht mal mehr 1000, die Fabriken stehen leer oder wurden zu Factory-Outlets umgewandelt. Die Firma Rosenthal ist inzwischen Teil des italienischen Sambonet-Paderno-Konzerns. Die Bevölkerung der Kreisstadt ging seit 1970 um 35 Prozent zurück, bis 2029 werden es voraussichtlich weitere 20 Prozent sein. Die Süddeutsche nannte Selb einst das „Armenhaus Bayerns“. Ein Spiegel-Artikel zitierte Horst Seehofers Diktum von „der bayerischen Heimat als Vorstufe zum Paradies“ und suggerierte dabei, dass in Selb und dem nordöstlichen Oberfranken eher die Vorhölle zu finden sei. Die große Depression erfasste die Stadt schließlich zur Jahrtausendwende.
Seit Selb als Modellstadt in das Programm Stadtumbau-West aufgenommen wurde und das Münchner Büro Schulz Boedecker ein Integriertes Stadtentwicklungskonzept erarbeitete, geht es aufwärts – langsam und mit Rückschlägen. Helmut Resch, treibende Kraft des Stadtumbaus und in Personalunion Geschäftsführer der städtischen Wohnbaugesellschaft Selbwerk, vergleicht seinen Job – einer Porzellanstadt gemäß – mit einem Tellerjongleur: stets zwischen den Stäbchen umher­flitzend und die Teller am Kreiseln haltend. Viele Wohnun­-gen wurden abgerissen, der Restbestand qualifiziert und das Wohnumfeld etwa durch das Büro Peter Kuchenreuther, Marktredwitz, aufgebessert. Selb setzt auf soziale Infrastruktur – wobei wie einst Architektur für positive Presse sorgen und Imagegewinn bringen soll. Nicht zuletzt engagierte sich die Stadt bei Europan 9. In dessen Ergebnis setzten die besagten spanischen Architekten zwei Projekte um und gewannen ei­nen Wettbewerb für Wohnungsbau unmittelbar neben dem „Haus der Generationen“. Ein bereits fertiggestellter Europan-Beitrag sind die 32 Wohnungen des Kulmbacher Büros H2M. Das Bayreuther Büro RSP baute eine ordentliche Musikschule, und nach den Plänen der Münchner Architektin Anne Beer wurde im Stadtteil Plößberg ein wunderbares, leicht geschwungenes Gemeinschaftshaus in Holz errichtet. In Kürze trifft sich Bauamtsleiter Helmut Resch mit den Gewinnern von Europan 11, um Lösungen für die westliche Innenstadt zu suchen; da­für wurden vorab Anwohner befragt, welche Pläne sie für ihre oft herunter gekommenen Häuser hätten. Auch wirtschaftlich geht es in Selb bergauf. Die Arbeitslosigkeit liegt derzeit bei knapp 5 Prozent – das ist viel im bayerischen Vergleich, aber 2 Prozent weniger als im Bundesdurchschnitt. Die Monostruktur der Vergangenheit ist passé, ein Halbleiter-Produzent mit 800 Arbeitsplätzen ist heute führender Arbeitgeber im Ort.
Also alles eitel Sonnenschein in Selb? Nein, wie ein Blick in die Innenstadt zeigt. In der zentralen Ludwigstraße stehen viele Läden leer, Häuser sind abgewirtschaftet, der öffentliche Raum ist zum Davonlaufen. In Tirschenreuth dagegen, nur 50 Kilometer weiter südlich, und auch vom Niedergang der Porzellanindustrie gebeutelt, wurde 2008 nach Plänen des heimischen Büros Brückner & Brückner der Marktplatz umgestaltet. Mit einem Team, das an den Lehrstuhl für Wirtschaftsgeographie an der LMU München angebunden ist, erarbeiteten die Architekten ein Stadtentwicklungskonzept, das den Fokus auf den Altstadtbereich legt. Mit Erfolg: Der nach historischen Strukturen angelegte Marktplatz ist zur Seele und zu einem öffentlichen Veranstaltungsort der Kleinstadt geworden. Er hat eine hochwertige Pflasterung, breite Bürgersteige, eine von Baumkronen beschattete grüne Mitte und die Ladengeschäfte ringsum brummen. All das fehlt im Zentrum von Selb. Bei den vielen gelungenen punktuellen Maßnahmen wäre jetzt ein Masterplan für die Innenstadt nötig. Straßenräume müssen aufgewertet, der Verkehr entschlackt und vor allem die öffentliche Räume attraktiver werden. Einige in Selb haben das erkannt. Nach den Kommunalwahlen im März wird man weiter sehen. 

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