Bauwelt

Öko versus System

Stadtanarchie und Missentwicklung an Wasserflächen in Dhaka

Text: Shafi, Salma A., Dhaka

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Öko versus System

Stadtanarchie und Missentwicklung an Wasserflächen in Dhaka

Text: Shafi, Salma A., Dhaka

Im rasant wachsenden Dhaka tobt ein Kampf um die letzten verbliebenen Freiflächen. Kanäle und Flüsse, landwirtschaftliches Umland, Feucht- und Randgebiete sind durch illegale Landnahme bedroht. Wer dabei jedoch nur an Slums oder Squatter-Siedlungen denkt, liegt falsch. Auch immer mehr Stadtviertel für Wohlhabende, Gewerbegebiete und Industrieanlagen entstehen ungenehmigt – Ausdruck einer neoliberalen Entwicklung, die ungebremst fortschreitet. Ein Blick auf die Auswirkungen von 40 Jahren Raubbau am Ökosystem und den Landmissbrauch in einer Mega-Stadt
Im Zentrum Dhakas liegen viele Grundstücke brach oder sind illegal von Squattern besetzt. Die meisten gehören staatlichen Behörden. Diese gelangten größtenteils nach der Teilung Britisch-Indiens in Indien und Pakistan, im Jahr 1947, in den Besitz der Flächen. Damals mussten Grundstücke, die im Zuge der gewaltigen Aus- und Umsiedelungen verlassen wurden, der öffentlichen Hand übergeben werden. Zu jener Zeit war die Stadt noch dünn besiedelt und Land scheinbar im Überfluss vorhanden. Vor allem die Grundstücke entlang von Gewässern, Kanälen und Bewässerungsgräben, die für die Wasserregulierung und auch als Verkehrsverbindung eine wesentliche Rolle spielten, kamen in öffentlichen Besitz. Nach dem Unabhängigkeitskrieg von 1971, in dessen Folge aus Ost-Pakistan der Staat Bangladesch entstand, gingen viele solcher Parzellen aufgrund mangelnder Kontrolle und ausufernder Korruption in Privatbesitz über. Dazu kommt, dass immer mehr landlose Migranten aus dem verarmten Umland vor allem jene Grundstücke besetzten, die direkten Zugang zum Wasser hatten.
Beide Formen des Landmissbrauchs – zum einen, weil den Betroffenen keine andere Wahl blieb als die Landbesetzung, zum anderen, weil man als reicher Unternehmer vom Staat wenig zu befürchten hatte – haben zu einer Knappheit von staatseigenem Land für öffentliche Bauvorhaben geführt und das Ökosystem, vor allem entlang der Gewässer, zerstört. Während auf flussnahem Gelände und in Niederungsgebieten außerhalb der Stadt Picknickplätze und Gasthäuser für betuchtes Klientel bereitstehen, erstickt der Buriganga – der Fluss, der im Verlauf von Dhakas Geschichte das Wachstum der Stadt begleitet und angetrieben hat – an Industrieabfällen und versandet. Bis heute findet Dhakas arme Bevölkerung bezahlbares Bauland auf ausgetrockneten Kanalbetten und flussnahen Grundstücken, während Unternehmen weiterhin illegale Landaneignung, sogenanntes „Land-Grabbing“, betreiben, um günstig in den Besitz von neuem Bauland zu kommen.
Die Ursprünge des Problems
1956 wurde der Dhaka Improvement Trust (DIT) geschaffen, der den Auftrag hatte, Planungs- und Bauvorhaben zu steuern und zu überwachen. Er spielte eine entscheidende Rolle, als es darum ging, nach der Unabhängigkeit im Jahr 1971 den dringend benötigten sozialen (bzw. mit öffentlichen Geldern subventionierten) Wohnungsbau voranzutreiben, der unter anderem Wohnraum für muslimische Flüchtlinge aus Indien, vor allem aber auch für die Bediensteten der neuen Provinzregierung schaffen sollte. 1987 wurde der DIT durch eine neugeschaffene Behörde, RAJUK (Rajdhani Unnayan Kartripakkha) abgelöst. Als oberste Baubehörde der Hauptstadt zeichnet sie verantwortlich für die Umsetzung des Dhaka Metropolitan Development Plan (DMDP), des strategischen Entwicklungsplans für ein Gebiet von insgesamt 1530 Quadratkilometern, das den Großraum Dhaka umfasst.
Dieser Strategie- und Strukturplan, der 1995 mit Geldern des Staates und des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen UNDP sowie des Zentrums der Vereinten Nationen für Wohn- und Siedlungswesen UNCHS (UN-Habitat) erstellt wurde, hatte eine Laufzeit von zwanzig Jahren (1995–2015). Der detaillierte Raumordnungsplan sollte von RAJUK selbst ausgearbeitet werden. Er wurde aber erst 2009 vorgelegt – sechs Jahre vor Ablauf des Umsetzungszeitraums! Von Anfang an öffneten ungeklärte Eigentumsverhältnisse und unklare Bebauungsvorschriften der Korruption, an der sich nicht nur RAJUK-Beamte beteiligten, Tür und Tor.
So geht, auch aufgrund nachlässiger Grundbuchführung des Landministeriums, täglich Land im Staatsbesitz, sogenanntes Khas-Land, verloren. Selbst Beamte des Ministeriums und Mitarbeiter des Assistant Commissioner of Land (ein Büro, das den Auftrag hat, die erforderlichen Untersuchungen durchzuführen) sollen sich illegal Khas-Land angeeignet haben. Ihr Insider-Wissen über die genaue Lage und den Status der Grundstücke verwandelt sich in eine perfekte Einnahmequelle. Vor allem Projektentwickler ziehen daraus Nutzen.
Dhakas Umland erstreckt sich entlang der Flüsse nach Westen und Osten und liegt weniger als einen halben Meter oberhalb des Meeresspiegels. Es war durch Feuchtgebiete, sogenannte „Wetlands“ gekennzeichnet, wie sie heute noch bei Kolkata zu finden sind (siehe Seite 42). Diese Wetlands waren durch natürliche Kanäle miteinander verbunden. Nach dem Monsun bildeten sich hier riesige Seenlandschaften. Der strategische Plan empfahl, derlei Gebiete als Schutzmaßnahme für Überschwemmungen zu bewahren, in den neuen Wohnvierteln für hohe und mittlere Einkommensgruppen ebenso wie auf Grundstücken, die sich im Besitz des Militärs und der Polizei befanden.
Nachdem die Projektentwickler die meisten attraktiven Innenstadtlagen in Besitz genommen haben, richtet sich der Investitionsdruck zunehmend mehr auf jene Freiräume in den Feuchtbiotopen. Wie aus einer Untersuchung aus dem Jahr 2004 hervorgeht, findet man mittlerweile ein Großteil dieser ländlichen Freiräume im Portfolio von etwa dreißig großen Projektentwicklungsgesellschaften. In Einzelgrundstücke aufgeteilt, werden sie zum Bau von Wohnanlagen für hohe und mittlere Einkommensschichten verkauft.
Wohnungsbau und Zugang zu Wasser – die Lücken einer ungerechten Stadtentwicklung
Bis heute gibt es keine offiziellen Daten zu Dhakas Landnutzungsmustern. Eine Landnutzungskarte, die 1996 erstellt wurde und nur allgemeine Aussagen zulässt, weist 265 Qua­dratkilometer der insgesamt 306 Quadratkilometer der Dhaka Metropolitan Area (DMA) für die Wohnnutzung aus. In Gegenden für höhere Einkommensschichten wohnen zwischen 100 und 300 Personen auf einem Hektar, in Gebieten für niedrigere Einkommensgruppen sind es zwischen 1500 und 4000 Personen.
Die Wohnviertel der hohen Einkommensschichten sind deutlich strukturiert und wurden meist von den städtischen Baubehörden geplant. Im Zuge der fortschreitenden Verstädterung wurden dabei viele Teiche und Auengebiete sowie Randgebiete von Seen und Kanälen zugeschüttet. Nur wenige Ufergebiete blieben erhalten und wurden landschaftlich gestaltet. Zur Ableitung von Regenwasser und manchmal auch von Abwasser werden zunehmend die Seen genutzt, die sich als Reste der ehemaligen Kanäle gebildet haben. Abschnitte einiger dieser Seen sind zur Fischzucht verpachtet, und auch das Bootfahren ist erlaubt, obgleich davon nur wenige Gebrauch machen.
Die Wohngebiete der mittleren Einkommensschichten sind über die alten und neuen Teile der Stadt verteilt und meist nach einem städtebaulichen Konzept bebaut. Sie werden, obwohl nicht so vorgesehen, auch für Gewerbe, Industrie und Handel genutzt. Auch hier sind fast alle Teiche und Auengebiete zugeschüttet worden. Die wenigen noch verbliebenen werden häufig von Bewohnern oder Squattern vereinnahmt. Das bedeutet oft eine Verschlechterung der Umweltqualität, weil das Gebiet nicht instandgehalten und durch wildes Müllabladen zunehmend mehr verschmutzt wird.
Die Armen leben hauptsächlich in Slums und Squatter-Siedlungen, die über die ganze Stadt verteilt sind. Dabei sind die Slums von dauerhafter Struktur, weil die Grundstückseigentümer in der Regel Privatpersonen sind, die ein Interesse daran haben, die armseligen Hütten zu vermieten. Die Squatter-Siedlungen hingegen befinden sich illegal auf staatlichem oder privatem Boden und haben eher Übergangscharakter. Im Jahr 2005 wurden 4950 solcher Siedlungen im Großraum Dhaka gezählt. Squatter-Siedlungen befinden sich vor allem entlang von Gewässern und Auengebieten, auf Sumpfland und innerhalb oder in der Nähe von Überschwemmungsgebieten. Die Behausungen werden nicht nur auf den Böschungen errichtet, sondern immer mehr auch auf Stelzen direkt über dem Wasser (siehe Seite 56). Das verschmutzte Wasser stellt ein ernstes Gesundheitsrisiko dar. Nicht nur die Kinder dieser Gemeinschaften leben mit Wasser, schwimmen und spielen darin. Auch Erwachsene benutzen es zum Wäschewaschen und Baden. Da Wasser ein integraler Bestandteil des ländlichen Lebens in Bangladesch ist, aus dem viele der armen Bewohner stammen, ist deren Beziehung zu diesem Element selbst unter den miserablen Umweltbedingungen des städtischen Umfelds immer noch sehr stark. So benutzen sie zum Beispiel die Wasserläufe während der Monsunzeit als Verkehrswege.
Ein unzureichender Wohnungsbestand
Bislang hat der Staat keinerlei Anstrengungen unternommen, ein landesweites Wohnungsbauprogramm umzusetzen, das in der jetzigen Situation Abhilfe schaffen könnte. Richtlinien, die nur auf dem Papier existieren, sehen vor, dass, entsprechend dem tatsächlichen Bedarf, kleine Wohneinheiten für die niedrigen Einkommensschichten in der Stadt zu bauen seien. Einzelheiten über derlei Projekte, die über ein Mietkaufsystem finanziert werden sollen, wurden nie veröffentlicht. Die Pläne sehen nur einen geringen Flächenanteil für den sozialen Wohnungsbau vor. Er liegt zwischen 1,2 und 7,5 Prozent.
Anders als in Kolkata haben in Dhaka kooperative Strukturen nie Fuß gefasst, daher ist Grundbesitz hier entweder privat oder öffentlich. In Bezug auf den Wohnungsmarkt ist die Koexistenz zweier Systeme – eines legalen und eines illegalen, wobei illegale Formen überwiegen (sechzig Prozent gegenüber vierzig Prozent) – typisch für Dhaka, wie es auch in vielen anderen Mega-Städten auf der Welt der Fall ist. Vor allem den ärmeren Bevölkerungsgruppen bleibt kaum etwas anderes übrig, als Wohnraum im informellen Sektor zu suchen. Nur sechs Prozent der Wohnungen, die für sie infrage kommen, werden vom Staat oder von Privateigentümern, die Grundstücke auf legaler Basis vermieten, bereitgestellt. Der Rest besteht aus Behausungen, die illegal errichtet wurden. Genauer gesagt, zwanzig Prozent sind von Privateigentümern ohne Genehmigung vermietet, achtzig Prozent wurden auf öffentlichem Land von Einzelpersonen oder Gruppen als Squatter-Siedlungen errichtet.
Im Laufe der Jahre sind einige dieser Siedlungen in den Besitz einflussreicher „Geschäftsleute“ übergegangen. Sie haben die Kontrolle über die Grundstücke übernommen und kassieren als „De-facto-Grundbesitzer“ ständig steigende Mieten von den Bewohnern. Mangel an bezahlbarem Wohnraum zwingt inzwischen auch mittlere Einkommensgruppen, sich Wohnraum immer mehr im informellen Sektor zu suchen. 2007 entfiel ein Drittel sämtlicher Wohneinheiten auf dieses Segment der Gesellschaft. Auch hier sind die Eigentümer private Hausbesitzer, die ohne offizielle Genehmigung Häuser bauen und vermieten.
Auf der Hinterbühne der Entwicklung – Beispiele der Renaturierung
Die informelle Bautätigkeit hat sich in Dhaka rasant ausgebreitet. Viel zu selten wird eine Baugenehmigung beantragt, und somit werden auch keine Planungsfreigaben erteilt. Außerdem hat RAJUK nicht nur die Vorlage eines detaillierten Flächennutzungsplans jenseits aller gestellten Fristen verzögert, es ist ihr auch nicht gelungen, die allgemeinen Planvorgaben umzusetzen und das städtische Wachstum nur annähernd in den Griff zu bekommen.
Dass es durchaus anders geht, zeigte die Übergangsregierung, die 2007 nach Unruhen für fast zwei Jahre regierte. Damals wurde RAJUK als Behörde vom Staat unterstützt und konnte ihre Macht ausüben. Während der Amtszeit der Übergangsregierung kam es regelmäßig zum Abriss illegaler Bauten. Die Regierung ordnete auch an, dass das ehemalige Feuchtgebiet Hatirjheel der Stadt zurückgegeben werden sollte. Im Laufe der Jahre war es gänzlich mit städtischem Müll zugeschüttet und unter anderen vom Fünf-Sterne-Hotel Sonargaon und der mächtigen Bangladesh Garment Manufacturers and Exporters Association (BGMEA) besetzt worden. Es wird zur Zeit renaturiert, ohne dabei jedoch das Hotel oder die BGMEA-Gebäude anzutasten. In den neunziger Jahren wurde durch eine ähnliche Intervention der beliebte Dhanmondi Lake geschaffen und das gleichnamige Wohngebiet aufgewertet. Die Renaturierung von Hatirjheel könnte die alte Erfolgsgeschichte nicht nur wiederholen, sie hat auch einen starken symbolischen Wert. Sie zeigt, dass etwas Verlorenes zumindest teilweise wiederhergestellt werden kann.
Doch während die Renaturierungsarbeiten in vollem Gange sind und Vorschläge für die städtebauliche und landschaftliche Gestaltung der Ränder, inklusive einer Ringstraße, einer Versorgungsstraße und Brücken um und über das Gewässer vorgelegt werden, bleibt die Frage der Rehabilitierung von dort verdrängter Bewohner weitgehend unbeantwortet. Zwar ist klar, dass nach Beendigung der Arbeiten Menschen aus wohlhabenderen Gesellschaftsschichten in unmittelbarer Nähe der aufgewerteten Gebiete ein neues Zuhause finden werden. Aber die Zusagen für Entschädigung und Zuteilung von neuem Land sind unklar und wenig transparent. Viele der Armen sind bereits weggezogen, ohne irgendeine Unterstützung erhalten zu haben.
Was jetzt?
Auch bei ähnlich gelagerten Projekten wie der gerade begonnenen Wiederfreilegung von fünfzehn Kanälen, die von der Weltbank finanziert wird, stellt sich die Frage nach den sozialen Folgen. Kanäle wieder freizulegen ist an sich schon ein sehr kompliziertes und kostspieliges Unterfangen. Hier ist es besonders heikel, weil es den Abriss ungenehmigter Gebäude wie auch die Umsiedlung ihrer Bewohner bedeutet. Solche Beispiele zeigen, dass Stadtentwicklung in Dhaka ein komplexes Problem bleibt, fehlt es doch an einer armutsorientierten Einstellung und an entsprechenden politischen Richtlinien. Zusätzlicher Druck entsteht durch die Ausbreitung des Neoliberalismus in Bangladesch. Vor allem in den letzten zehn Jahren haben neue Investitionsmöglichkeiten die – in vielen Fällen missbräuchliche – Nutzung von öffentlichem und privatem Land gefördert. Überall in Dhaka entstehen Indus­trieanlagen und Mehrzweck-Komplexe als Joint-Ventures mit nationalen und multinationalen Investoren. Und Public Private Partnerships sind mittlerweilen auch für den Wohnungsbau ein bewährtes Format. Seit 2005 wurden etwa 3500 Wohnungen für Staatsangestellte nach diesem Modell gebaut, weitere 4500 sind bereits in verschiedenen Teilen der Stadt geplant. Es versteht sich beinahe von selbst, dass bei derlei Projekten der Wohnungsbau für die ärmeren Teile der Gesellschaft keinerlei Berücksichtigung findet.
Dhaka ist weit von der Vision des Dhaka Metropolitan Development Plan entfernt, dem eine Stadt vorschwebte, in der Wasserflächen für alle möglichen Zwecke benutzt werden – vom Hochwasserschutz bis zur Erholung. Durch ungenehmigte Nutzung, an der sich Personen aus allen Einkommensschichten beteiligt haben, wurden Gewässer verbaut, größtenteils unbrauchbar gemacht oder sogar ganz zerstört. Vor diesem Hintergrund ist es höchste Zeit für Politiker und Verwaltungen, Entscheidungen zu treffen – sie werden sich allerdings dem Spannungsfeld zwischen neoliberalen Interessen und den Vorgaben internationaler Geldgeber nicht entziehen können.

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