Bauwelt

Die Stadt der Eisenbahn wird zum Europaviertel

Stadt- und Messeplanung in Frankfurt am Main als Prozess

Text: Reiß-Schmidt, Stephan, München

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Die Stadt der Eisenbahn wird zum Europaviertel

Stadt- und Messeplanung in Frankfurt am Main als Prozess

Text: Reiß-Schmidt, Stephan, München

Obsolete Areale des Eisenbahnverkehrs boten in den letzten Jahrzehnten in zahlreichen europäischen Städten die Chance zur Entwicklung neuer, meist zentrumsnaher Stadtviertel – und ein lukratives Spielfeld für die Immobilienwirtschaft. In Deutschland waren im Rahmen der Bahnreform ab Mitte der 1990er Jahre die aus damaliger Sicht nicht mehr betriebsnotwendigen Bahnflächen auf privatwirtschaftlich geführte (und einige Jahre später vollständig privatisierte) Tochterunternehmen der Bahn übertragen worden. Eine „erlösoptimierte Immobilienentwicklung“ sollte Geld in die klammen Kassen der DB AG und ihres Eigentümers Bund spülen und damit auch den damals geplanten Börsengang vorbereiten. Die aus heutiger Sicht für eine gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung entscheidende Ressource öffentlichen Bodeneigentums stand damit für die Bahnflächenkonversion in den meisten Fällen nicht mehr zur Verfügung. So auch in Frankfurt am Main, wo in mehreren Schritten die zwischen Messegelände und Gallusviertel gelegenen Flächen des Hauptgüter- und Rangierbahnhofs für eine Innenstadterweiterung nach Westen verfügbar wurden. Auf über 150 Hektar wurde hier in den vergangenen 25 Jahren auf der Grundlage eines Rahmenplans von AS&P - Albert Speer und Partner das dichte und nutzungsgemischte Europaviertel entwickelt. Vorgeschichte, Prozess und Ergebnis werden in dem von Dieter von Lüpke, bis 2014 Leiter des Stadtplanungsamts, und Georg Speck, Eisenbahningenieur und langjähriges Mitglied des Frankfurter Städtebaubeirats, sorgfältig edierten, opulenten Band „Die Stadt der Eisenbahn wird zum Europaviertel“ dokumentiert.
Wie alle städtebaulichen Großprojekte stand auch das Europaviertel unter ständiger Beobachtung von Lokalpresse und Architekturkritik. Monotonie, Monumentalität und fehlende Lebendigkeit wurden ebenso beklagt wie langwierige Abläufe und verschlungene Entscheidungswege. Ein Blick in den Maschinenraum der Stadtentwicklung durch zahlreiche an Planung und Realisierung beteiligte Akteure wie in diesem Buch lässt eine differenziertere Sicht erwarten. Bei geringer zeitlicher und persönlicher Distanz der Autoren zu ihrem Gegenstand ist dies allerdings auch nicht ohne Risiko. Mit einer wohlüberlegten Struktur und wechselnden Perspektiven ist es den Herausgebern allerdings gelungen, detaillierte Sachkenntnis mit kritischer Distanz und Fakten mit Reflexion zu verbinden – ein seltener Glücksfall.
In zwei Beiträgen mit zahlreichen Bild- und Plandokumenten wird zunächst die Vorgeschichte lebendig: die 150 Jahre zurückreichende, wechselvolle Entstehung der „Stadt der Eisenbahn“ und die schrittweise Erweiterung und Verdichtung der Messe zu einem architektonisch herausragenden Ensemble, ausgehend von der 1909 eröffneten Festhalle des Münchner Architekten Friedrich von Thiersch. Auf dieser Basis dokumentiert Dieter von Lüpke den Weg zum Europaviertel zunächst mit einer nüchternen Chronologie. Der Planungsprozess begann 1997 mit dem (später gescheiterten) Projekt eines „Urban Entertainment Centers“ an der Schnittstelle zu Messe und Innenstadt. Wie oft bei städtebaulichen Großprojekten gerät auch hier eine vermeintlich lineare Planung unter den Einfluss volatiler Finanz- und Immobilienmärkte und wechselnder kommunalpolitischer Prioritäten. Dabei hält der Autor mit seiner persönlichen Bewertung von Licht- und Schattenseiten des neuen Stadtteils nicht hinter dem Berg: einerseits vielfältige Nutzungen mit hohem Wohnanteil, großzügige, mit den angrenzenden Stadtteilen gut vernetzte öffentliche Räume, die Sicherung der Messeentwicklung sowie die weitgehende Refinanzierung der Infrastruktur aus der Wertsteigerung der Grundstücke; andererseits etwa ein aus heutiger Sicht zu geringer Anteil geförderter bzw. preisgedämpfter Mietwohnungen, anhaltende Verzögerungen bei Stadtbahnanschluss und Grundschulversorgung sowie die unbefriedigende Anbindung der Europa-Allee an die Innenstadt.
In einem spannend zu lesenden Zeitzeugengespräch kommen beteiligte Akteure von Stadt, Messe, Immobilienunternehmen und Planungsbüros selbst zu Wort und vermitteln aus unterschiedlichen Perspektiven authentisch die politischen und wirtschaftlichen Produktionsbedingungen des Europaviertels. Mit großer Offenheit werden dabei auch Sackgassen und Schwachstellen der Planung reflektiert wie die nicht immer reibungslose Kooperation zahlreicher städtischer und privater Akteure – oder überraschende Störmanöver vom Spielfeldrand. Ohne Abstimmung mit Stadt und Eigentümern hatte die Deutsche Bank 1999 einen Masterplan von Helmut Jahn samt eines Finanzierungsangebotes aus dem Hut gezaubert. Er sah ein großes Einkaufszentrum, Sport- und Kulturbauten und etwas Wohnungsbau in einer Parklandschaft vor, allerdings ohne ausreichende Flächen für die Messeerweiterung. Es bedurfte kluger städtebaulicher Argumente und vor allem politischer Taktik, um dieses „Kidnapping im Städtebau“ (Berliner Zeitung) abzuwehren.
Verschiedene Autoren beleuchten die Stadterneuerung im Gallusviertel, das Hochhauskonzept und die verkehrlich und städtebaulich umstrittene Europa-Allee. In einem gemeinsamen Beitrag von Dieter von Lüpke und Elmar Schütz, der auf Seiten der Eigentümer maßgeblich an der Projektentwicklung beteiligt war, werden generelle Bedingungen für eine erfolgreiche Kooperation von Kommunen und privaten Unternehmen im Städtebau herausgearbeitet. Wenn – wie bei vielen Bahnflächenkonversionen – öffentlicher Boden privatisiert wird, muss die Balance zwischen Gemeinwohl und privater Immobilienentwicklung zumindest durch städtebauliche Verträge nach § 11 Baugesetzbuch gesichert werden. Beim Europaviertel oder den zentralen Bahnflächen in München wurden damit umfangreiche Leistungen der Privaten für bezahlbares Wohnen, soziale Infrastruktur und öffentliches Grün verbindlich vereinbart. Mit vier von Eibe Sönnecken fotografisch inszenierten und von Dieter von Lüpke kritisch kommentierten Spaziergängen wird schließlich die städtebauliche Realität des Europaviertels in den Blick genommen. Durch eine grafischen Zeitleiste des Prozesses mit wichtigen Meilensteinen und Schlüsselpersonen, eine übersichtliche Darstellung wesentlicher Eckdaten zu Nutzung, Baujahr und Urheberschaft der einzelnen Projekte sowie durch ein Glossar der Planungsterminologie ließe sich der Gebrauchswert des Bandes in einer zweiten Auflage noch erhöhen.
Fallstudien wie diese sollte es häufiger geben, denn der kritische Blick in den Maschinenraum der Stadtentwicklung trägt dazu bei, transformative Potenziale frühzeitig zu erkennen und zu heben.
Fakten
Autor / Herausgeber Dieter von Lüpke und Georg Speck (Hrsg.)
Verlag Verlag Waldemar Kramer, Wiesbaden 2022
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aus Bauwelt 13.2023
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