Bauwelt

Die Fassade

Verkleidung und Illusion, Verbrechen und Zitat

Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin

Die Fassade

Verkleidung und Illusion, Verbrechen und Zitat

Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin

Es beginnt mit einem deja-lu: Die Fassade – „Ein Unwort …, denn wenn man es im Positiven in den Mund nimmt, wird man diffamiert, wenn man es negativ konnotiert, diffamiert man den Begriff.“ Das hat so ähnlich schon Fritz Neumeyer vor 30 Jahren im Katalogbuch zu Hans Kollhoffs Ausstellung tektonischer Fassaden in der Galerie Max Hetzler geschrieben, und bei Neumeyer hat Jan Büchsenschuß, der Autor der hier auf dem Tisch liegenden Schrift, auch promoviert. Ich habe keine Ahnung, wer heute noch jemanden diffamiert, der diesen Begriff verwendet, die Welt hat sich seit 1994 weitergedreht, aber wer weiß, vielleicht köchelt die damalige Berliner Debatte ja noch in Wolfenbüttel vor sich hin, wo Büchsenschuß an der Hochschule Ostfalia Stadtplanung lehrt. Sein Büchlein ist denn auch aus seinen Vorlesungen hervorgegangen, aber auch für Menschen, die nicht mehr studieren, bietet es eine kurzweilige Lektüre. Büchsenschuß gelingt es nämlich, auf nur 90 Seiten einen Überblick über 600 Jahre theoretischer Auseinandersetzung mit der Fassade zu geben: von Alberti und Palladio (mit Rückschau auf Vitruv) über Boullée und Ledoux zu Karl Philipp Moritz und Johann Wolfgang von Goethe, zu Sempers Bekleidungstheorie und hin zur Moderne mit dem Endpunkt von Mies’ Haut-und-Knochen-Architektur und schließlich zu Venturis „Enten“ und dekorierten Schuppen. In Theorien ausgedrückt: Konstruktionsästhetik, Funktionsästhetik, Kohärenzästhetik, Autonomieästhetik, Raumillusion und poetische Fiktion. Oder in graphischen Gebäudeanalysen, die dem Text beigestellt sind: Palazzo Rucellai, Il Redentore, Alte Münze, Bauakademie, Berolinahaus, Casa Aurora.
Doch keine Angst, der Autor jagt seine Leserschaft nicht durch meterdicken Theorieschlick, im Gegenteil, sein Husarenritt durch die Bau- bzw. Fassadengeschichte ist äußerst kurzweilig – und immer wieder mit pointierten Formulierungen garniert. Über Loos’ Feststellung etwa, „wer sein Leben lang alles Mögliche bekritzelt habe und nicht im Gefängnis geendet sei, sei eben nur ein paar Jahre vor seinem ersten Mord gestorben“, staunt Büchsenschuß: „Wie sehr steht das der Theorie von Karl Philipp Moritz entgegen, dass der Mensch erst mit seiner Fähigkeit zur Ornamentierung den Sprung vom tierischen Dasein zum Menschen geschafft habe. Vitruvs Anthropometrik, Albertis Schmuck, Moritz’ Kohärenzsymbolik der Ornamente, Goethes poetische Fiktion der Baukunst, Hübschs Rundbogenstil, Böttichers Kunstform und Sempers Bekleidungstheorie – alles Degenerierte und Verbrecher. Diese Behauptung muss man erst einmal aufstellen.“
Für Büchsenschuß ist die Beschäftigung mit dem Thema aber weniger historisch-intellektuelles Vergnügen als vielmehr der Aufbruch in eine heutige Tabuzone unserer Zunft, die es neu zu besetzen gilt, gerade vor dem Hintergrund, dass kommende Generationen von Architekturschaffenden in sehr viel stärkerem Maße als die ihnen vorangegangenen im Bestand entwerfen werden – den zu lesen und zu verstehen sie unbedingt in der Lage sein sollten. Die Fassadenentwürfe seiner Studierenden, die der Autor dem Buch als illustrativen Mittelteil eingefügt hat, zeigen dies in aller Deutlichkeit.
Fakten
Autor / Herausgeber Jan Büchsenschuß
Verlag Urbanophil, Berlin 2023
aus Bauwelt 23.2025
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