Architektur der Gegenwart
1970 bis heute
Text: Brensing, Christian, Berlin
Architektur der Gegenwart
1970 bis heute
Text: Brensing, Christian, Berlin
In Zeiten, wo ein Patrik Schumacher, Geschäftsführer von Zaha Hadid Architects, der Zunft jede inhaltliche und intellektuelle Substanz abspricht, versucht Philip Ursprung, Professor für Kunst- und Architekturgeschichte an der ETH Zürich, zumindest eine Ehrenrettung. Das schmale Bändchen von gerade Mal 128 Seiten enthält Stationen seines Lebens für und mit der Architektur. Statt „Architektur der Gegenwart“ hätte das Büchlein besser „Meine Sicht auf die Architektur“ oder „Bekenntnisse eines Architekturliebhabers“ heißen sollen.
Ursprungs Auseinandersetzung mit der Baukunst beginnt als Teenager, als er vor dem Centre Pompidou steht: „Es wurde mein Eingangstor zur Architektur, und ich überlegte, ob ich nicht eines Tages Architekt werden könnte.“ Der Rest ist bekanntlich Geschichte, und Ursprung nimmt uns mit auf seine in der ersten Person Singular – allerdings nicht chronologisch – erzählten Entdeckungsreisen um die Welt. Der zeitliche Fokus liegt für den 1963 geborenen Autor auf seiner eigenen Lebensepoche. Der Ton ist der eines von der Materie seines Sujets emotional und intellektuell in den Bann geschlagenen Betrachters; sein feuilletonistischer Plauderton nimmt uns mit. Zwischendurch blitzt wirkliche Begeisterung für seine durchlebten Architekturabenteuer auf – für einen Architekturtheoretiker eine überraschende Haltung, der mehr an der netten Vermittlung als der inhaltlichen Verarbeitung gelegen scheint.
Das Leitthema findet sich gleich im Eingangskapitel: die Suche nach der verlorenen Architektur. Oder, philosophisch gesprochen, „die fruchtbare Leerstelle, die ein weites Spektrum von Beobachtungen, Reflexionen und kritischen Verhandlungen zur Frage eröffnet, was Architektur ist und was sie sein könnte.“ Um die architektonische Leere und den damit einhergehenden Bedeutungsverlust von Bauwerken kreisen fortwährend die Gedanken des Autors. Folglich findet man quasi in jedem Kapitel einen entsprechenden Hinweis auf dieses Grundübel unserer Zeit: „Woher rührte dieses Gefühl des Vakuums?“ Aber wie nur diese Leere fassen, sie begreiflich machen und mit der dadurch hervorgerufenen Enttäuschung umgehen? Ursprung wählt dafür eine Technik, die er „performative Geschichtsschreibung“ nennt. Ein für den Autor intellektuelles Terrain vague, eine theoretischaltungstechnische Absolution, mit und durch die schlichtweg alles und nichts möglich ist: „Mein Standpunkt ist eklektisch, nicht systematisch, und er ist nur einer von vielen möglichen Standpunkten. Mein Narrativ, meine Erzählung, zeugt von meinen eigenen Interessen und Grenzen.“ Mit anderen Worten, eine zutiefst subjektive und solipsistische Rechtfertigung persönlicher Empfindungen, wie geschaffen für Zeiten, über die Ursprung lakonisch urteilt: „Es gibt keine übergreifende Architekturtheorie.“
Wie offenbart nun Ursprung seinen Lesern die endemische Leere der heutigen Architektur? Nehmen wir als Beispiel das Kapitel II, „Das lange Ende der Wohlfahrtsstaaten“. Alle Kapitel sind mit sogenannten „Eingangspunkten versehen, die mittels eines Bauprojekts den Einstieg in die Thematik darstellen. Das Thema Großwohnungsbau ist für Ursprung wie geschaffen, um auf diesem Terrain ein exemplarisches Rückzugsgefecht der Architektur am Beispiel der Londoner Robin Hood Gardens von Alison und Peter Smithson einzuläuten. Bonjour tristesse könnte man sagen an einem Ort, wo ein „Meisterwerk des New Brutalism“ auf die ethno-soziologischen Befindlichkeiten der britischen Hauptstadt nebst ihres hochpreisigen Immobilienmarktes trifft. Die Chancen für ein Überleben der Architektur sind damit gleich Null. Gleiches gilt für alle weiteren im Kapitel aufgeführten Projektbeispiele, z. B. Rossis Mailänder Stadtviertel Gallaratese oder Bofills Pariser Espaces d’Abraxas.
Aber Ursprung entlässt uns nicht ohne Hoffnungsschimmer. Als Alternative auf die grassierende Leere wird die minimal-invasive Architektur eines Diébédo Francis Kéré, von Gion Caminada oder Elisa Silva gepriesen. Nach Ursprung sind wir hier in der fruchtbaren wie vorbildlichen Peripherie gelandet, wo die ungeschminkte Losung lautet: Weniger ist Mehr. Bei diesen Gebäuden ist es Ursprungs Verdienst, breit gestaffelt die unterschiedlichen Spielarten von Architektur gegenüberzustellen; die „monumentale Leere“ einer Tate Modern wird kontrastiert z. B. mit dem „Social Condenser“ der Kulturfabrik SESC Fábrica da Pompéia in São Paulo oder gar die symptomatische Banalität vieler Eigenheime mit der Sprengkraft der Potsdamer „Antivilla“ von Brandlhuber+ Emde, Burlon.
Und so schließt Philip Ursprungs sehr persönlich gehaltene Geschichte der Architektur seiner Lebenszeit mit dem eindeutigen Verwurf des Slogans „Hört auf zu bauen“. Stattdessen setzt er auf die Qualitäten eines Perpetuum Mobile, wo dem Planen und Bauen eine fast kindliche Sorglosigkeit anheimgestellt wird. Sie kulminiert in dem Schlusssatz, denn so „müssen wir uns um die Zukunft der Architektur keine Sorge machen“. Ein fast unheimlicher Ausblick.







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