Bauwelt

Albert Kahns Industriearchitektur

Form Follows Performance

Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig

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Albert Kahns Industriearchitektur

Form Follows Performance

Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig

Was der Automobilbau-Pionier Henry Ford (1863–1947) für die arbeitsteilige Organisa­tion der Industrieproduktion, war der Architekt Albert Kahn (1869–1942) für deren prototypische Bauformen. Im Hunsrück als Sohn eines Rabbiners geboren, in Luxemburg aufgewachsen, erhielt der 1880 mit seiner Familie nach Detroit ausgewander­te Kahn keine formale Ausbildung als Architekt oder Ingenieur. Er lernte, damals nicht ganz unüblich, als Faktotum in einem lokalen Architekturbüro, anschließend als anfänglich unbezahlter Zeichner in der renommierten Firma Mason and Rice. Hier fasste er schnell Fuß. Ein Reisestipen­dium, 1890 durch Europa, erweiterte kulturellen Horizont wie zeichnerische Kunstfertigkeit gleichermaßen, bald danach war Kahn Chefentwerfer der Firma. Nicht „verbildet“ durch die Zugehörigkeit zu einer akademischen „Schule“, konnte Kahn auf seine individuellen Qualifikationen setzen: gedankliche Offenheit, Interesse an systematischen und ökonomischen Lösungen sowie seine Prägung durch die omnipräsente Industrie Detroits. 1896 gründete er dort sein eigenes Architekturbüro, um 1902 stieß sein Bruder Julius hinzu, den Kahn in seinem Ingenieurstu­dium auch finanziell unterstützt hatte. In diesem Zeitraum akquirierte Kahn auch seinen ersten industriellen Auftraggeber, die Packard Motor Car Company. Neun frühe Bauten fielen konventionell aus, mit der „Plant Number Ten“ gelang 1905 ein neuer Typus: ein reduziertes Skelett aus Stahlbeton mit geschosshoher, konstruktiv getrenn­-ter Befensterung prägte den unprätentiösen, ursprünglich zweigeschossigen Bau.
Leider muss man sich solche biografischen Basics, die beitragen können, das Werk Kahns zu verstehen, andernorts erschließen, etwa in Grant Hildebrands Monografie von 1974. Denn der vorliegende Band geht gleich in medias res. Nach der Herleitung einer funktionalen Moderne durch Ahnherren wie Adolf Loos und besonders Otto Wagner, der bereits 1898 den Siegeszug einer für die „moderne Menschheit“ adäquaten Formgebung sah, widmet sich Mitherausgeber Jürgen Reichardt konstruktiven Aspekten im Werk Kahns. Da wären Innovationen im Stahlbetonbau um 1900, Julius Kahns Patente im Gewerk, Bauten der Albert Kahn Associates für Henry Ford ab 1909 sowie, ab 1914, die Abkehr vom Geschossbau zugunsten eingeschossiger, weitgespannter Hallenbauten für die Industrie, nun als Stahlkonstruktionen. Für diesen Bautyp entwickelte Kahn schier unendliche Varianten des Querschnitts, die für jede Fertigungsaufgabe das optimale Volumen, den optimalen Tageslichteinfall sowie die (natürliche) Ventilation, auch im Brandfall, sicherstellen sollten. Auftraggeber waren die bekannten Automobilhersteller, aber auch Flugzeugwerke und die Rüstungsindustrie. Während der Weltwirtschaftskrise exportierte Kahn sein Wissen in die UdSSR, Sta­-lins erster Fünfjahresplan ermöglichte die Planung von 521 Fabriken, 4000 russische Baufachkräfte wurden geschult. Zu Beginn der 1940er Jahre war das Büro auf 600 Mitarbeiter angewachsen. Kahn verstarb im Dezember 1942, ein Jahr nach dem Kriegseintritt der USA, „with his boots on“, so Hildebrand, Alexander Wesnin kondolierte telegrafisch aus Moskau. Ein komplettes Werkverzeichnis würde wohl allein über 1000 weltweite Industriebauten umfassen, dazu Verwaltungs-, Kultur- und auch Wohnbauten, letztere Baugattungen als historistische Anachronismen.
Kern des Buches ist die konstruktionshistorische Analyse von acht exemplarischen Hallenbauten mittels bauzeitlicher Fotografie und Plänen, großmaßstäblicher Modelle und 3D-Rekon­struktionen der Tragwerke, erarbeitet durch Studierende der Münster school of architecture. Ge­rade in den historischen Fotografien wird eine „atmosphärische Gewalt“ deutlich, die Mitherausgeber Thorsten Bürklin in seiner architekturgeschichtlichen Einordnung zum Gedanken veranlasst, Kahns Werke in eine ästhetische Nähe zum europäischen Futurismus zu stellen. Allerdings entbehren sie ja jeglicher kritischer Theorie, sie sind perfekte „Leistungsformen“ für die effizi­ente kapitalistische Produktion, wurden als Rüstungsfabriken, gemäß Bürklin, aber auch erhabenes „Sinnbild des Kampfes für eine freie Welt“.
Last but not least thematisiert Claire Zimmermann, Professorin der Universität Michigan, in einem emphatischen Essay die weitgehende Negierung des Werkes Kahn durch die Architekturgeschichtsschreibung. Nicht nur der Kontrast zwischen dem Historismus der nicht-industriellen Bauten und dem Funktionalismus seiner Industriebauten mag polarisiert haben, auch die bedingungslose Indienststellung für die Rüstungsproduktion während des Zweiten Weltkriegs ließ dem Œuvre nicht die Weihen der „Baukultur“ zuteil werden. Zimmermann sieht es, vielleicht das Stichwort für Bürklins Pathos, als Teil des Kampfes der USA gegen den Faschismus – eine Herausforderung, die in dem verschobenen Mächteverhältnis des Kalten Krieges nicht ansatzweise eine Entsprechung fand. Zimmermann ist Autorin einer weiteren neuen Pub­likation „Building the World Capitalist System: Albert Kahn Associates Detroit, 1900–1961“.
Fakten
Autor / Herausgeber Hg. von Thorsten Bürklin und Jürgen Reichardt
Verlag Birkhäuser Verlag, Basel 2019
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aus Bauwelt 21.2020
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