Bauwelt

Zum Hundertsten

Für seine skulpturalen, fast schon kristallinen Bauten aus Beton mit hängender „Gewebedecke“ ist er bekannt − und vor allem bei Gottesdienstbesuchern beliebt: Gottfried Böhm

Text: Santifaller, Enrico, Frankfurt am Main

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    Der Wallfahrtsdom in Ne­viges wurde kurz nach St. Ignatius in Frankfurt Westend realisiert. Beide Kirchen ähneln sich durch den Kontrast zwischen Beton und farbenprächtigen Kirchenfenstern, welcher eine einnehmende Atmosphäre im Kirchenraum erzeugt.
    Foto: Inge und Arved von der Ropp/Irene und Sigurd Greven Stiftung, ca. 1968; DAM

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    Der Wallfahrtsdom in Ne­viges wurde kurz nach St. Ignatius in Frankfurt Westend realisiert. Beide Kirchen ähneln sich durch den Kontrast zwischen Beton und farbenprächtigen Kirchenfenstern, welcher eine einnehmende Atmosphäre im Kirchenraum erzeugt.

    Foto: Inge und Arved von der Ropp/Irene und Sigurd Greven Stiftung, ca. 1968; DAM

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    Kohlezeichnung des Innenraums der Wallfahrtskirche.

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    Kohlezeichnung des Innenraums der Wallfahrtskirche.

Zum Hundertsten

Für seine skulpturalen, fast schon kristallinen Bauten aus Beton mit hängender „Gewebedecke“ ist er bekannt − und vor allem bei Gottesdienstbesuchern beliebt: Gottfried Böhm

Text: Santifaller, Enrico, Frankfurt am Main

„Blues“, sagte Mahalia Jackson einmal, „sind die Lieder der Verzweiflung, Gospel dagegen die Songs der Hoffnung“. An diese Bemerkung der tiefgläubigen US-Chanteuse lassen die schweren, fast düsteren, immer wieder von Dissonanzen durchsetzten Moll-Harmonien denken, die in St. Ignatius klingen. Das Kirchenschiff im Obergeschoss ist von Kerzen und einzelnen Punktstrahlern spärlich beleuchtet, die vielfach gefaltete Decke liegt im Dunkeln, vom kristallinen, reich gegliederten Raum ist kaum was zu sehen. „Moonlightmesse“ nennt sich diese Mischung aus Gottesdienst, Jazz und innerer Einkehr sonntagabends im Frankfurter Westend. In dem von Gottfried Böhm geplanten und 1964 geweihten Gotteshaus haben sich etwa 50 Gläubige versammelt − unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Nationalitäten. Pianist Andreas Hertel passt seine Eigenkompositionen dem Verlauf der Messe an, wechselt Tempi, wechselt Rhythmen, wobei Moll allmählich helleren Dur-Tönen weicht. Nach Kommunion, Friedensgruß und gemeinsamem Vaterunser lässt Hertel zum Finale einen Gospel erklingen – und bekommt Applaus.
Googelt man derzeit nach Gottfried Böhm, sind neben vielen Fachmedien eine ganze Reihe von Gemeinden zu finden, die sich anlässlich dessen 100. Geburtstags am 23. Januar mit dem Architekten ihrer Kirche auseinandersetzen; ihn nicht unbedingt feiern, aber Böhms Œuvre etwa vor dem Hintergrund der liturgischen Reform im vergangenen Jahrhundert erörtern. Renommierte Theologen, ob Liberale, ob Konservative, sprechen von den Evangelien als einer Provokation in der heutigen materialistischen Zeit. Sollte da nicht auch der Kirchenbau Provokation sein? Selbst Bernd Günther, Jesuit und Pater von St. Ignatius, spricht von einer Herausforderung, die Böhms Gotteshaus darstelle. Und er erzählt dann, dass seine Gemeinde dieses halb auf dem Gemeindesaal ruhende Gotteszelt als ihre Heimat wahrnehme. Sogar die Mitglieder, die aus Süddeutschland stammen und mit Barockkirchen aufgewachsen seien, sind begeistert, trotz des grau-braunen Waschbetons, der sich jeder geschmäcklerischen Gefälligkeit entziehe. Günther gerät ins Schwärmen. Ob stille Meditation oder gemeinsames Feiern mit 500 Personen: Dieser eigentlich so schlichte und doch vielgestaltige Kirchenraum biete so viele Möglichkeiten, lenke die Blicke der Gläubigen ganz subtil zum Altar, sei ideal sowohl für Gottes- wie auch Gebetsdienst. Als Zelebrant eines Gottesdienstes fühlt Günther sich vom Architekten, dem regelmäßigen Gottesdienstbesucher Gottfried Böhm, verstanden.
Auch auf der anderen Mainseite Frankfurts ehrt man den Hundertjährigen, der in der Nachbarstadt Offenbach geboren wurde. „Hat ihm nicht geschadet“, ließ Frankfurts Planungsdezernent Mike Josef süffisant zur Eröffnung der Ausstellung „Böhm 100 – Der Beton-Dom von Neviges“ im Deutschen Architekturmuseum wissen. Da sich das Haus 2005 Vater Dominikus Böhm und 2006 Gottfried in jeweils einer monografischen Schau gewidmet hatte, konzentrieren sich die Kuratoren Miriam Kremser und Oliver Elser auf das sakrale Hauptwerk des bis 2015 einzigen deutschen Pritzker-Preisträgers. Dokumentiert wird zum einen der zweistufige Wettbewerb, aus dem zunächst der Kölner Architekt Kurt Faber als Sieger hervorging. Böhms zweiter Vorschlag, eine Gesamtanlage mit der Kirche als Höhepunkt eines Pilgerweges zu errichten, fand die Zustimmung sowohl der Jury als auch des Kölner Erzbischofs, Johannes Kardinal Frings, der über die zweitgrößte Kirche seines Bistums das letzte Wort hatte. Die Schau präsentiert darüber hinaus Böhms Entwürfe für die farbenprächtigen Glasfenster, die den verschiedenen Kapellen in der Kirche ganz eigene Atmosphären geben, wirft einige Schlaglichter auf den Bauprozess und auf die derzeit laufende Betonsanierung vor allem des Dachs.
Die Schau zeigt (bis 26. April), und das ist das Spannende an ihr, dass Böhms Werk ebenso zeitverhaftet wie zeitlos ist. Bemerkenswert ist die Architektur der Ausstellung, die im Umgang des Auditoriums zu sehen ist und sich vor allem bei sonst von Architekten eher ungeliebten Fototapeten und großformatiger Collagen bedient. Auch die Rückwand des Auditoriums ist in ihrer vollen Höhe bis in die Laibungen mit vier Fotos beklebt, die insgesamt die Illusion einer Panoramaaufnahme des Innenraums herstellen. Damit verbindet das DAM die rigide Architektur von Oswald Mathias Ungers mit der skulpturalen Räumlichkeit eines Gottfried Böhm – großartig. Die Abstraktion beginnt zu leben und präsentiert sich als vielschichtiges, subtile Überraschungen bergendes Gebilde. Wohl als Experiment gedacht, ist dieses Verschmelzen der beiden Kölner Baumeister im fernen Frankfurt ein Geburtstagsgeschenk ganz eigener Qualität. Ob im Leben einer Pfarrgemeinde, ob fachliches Experiment, Böhms Architektur ist nach wie vor erfrischend, anregend, sinnlich – und provokant: Jeden Tag um fünf vor zwölf läutet im achteckigen Turm von St. Ignatius die „Armutsglocke“. Sie will am Rande des Bankenviertels an die Armut der Welt erinnern.

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