Bauwelt

Vittorio Gregotti

1927-2020

Text: Tranfa, Federico, Mailand

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    Der Mailänder Architekt, Architekturtheoretiker und langjährige Herausgeber der Zeitschrift Casabella ist in der Folge einer Corona-Infektion gestorben.

    Foto: Wikipedia

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    Der Mailänder Architekt, Architekturtheoretiker und langjährige Herausgeber der Zeitschrift Casabella ist in der Folge einer Corona-Infektion gestorben.

    Foto: Wikipedia

Vittorio Gregotti

1927-2020

Text: Tranfa, Federico, Mailand

Für einen Mailänder Architekten über fünfzig ist die Figur Vittorio Gregotti die eines strengen Vaters, mit dem man sich sein ganzes Leben lang auseinandergesetzt hat, nur um festzustellen, dass man ihm immer ähnlicher geworden ist. In meinen Erinnerungen als Student repräsentierte seine Zeitschrift Casabella die Orthodoxie des Denkens, Domus hingegen die Verführung durch das Neue. Leider sind wir alle durch die Ausgangssperre isoliert und können, getrennt von der Bibliothek, nur metaphorisch wieder in den alten, von Gregotti herausgegebenen Ausgaben der Zeitschrift blättern. Es überrascht dabei die Qualität und Dichte der Informationen. Eine Dichte, die dem damaligen Ansehen des Magazins und der Kompetenz der Mitarbeiter, mit denen er sich zu umgeben wusste, entsprach.
Geboren 1927 in Novara, studierte Gregotti bis 1952 Architektur an der Polytechnischen Universität Mailand. Als Assistent und Mitarbeiter von Ernesto Nathan Rogers – Mitbegründer und Seele des Büros BBPR – war er Beobachter und Pro­tagonist einer unwiederbringlichen Epoche der italienischen Architektur, dem moralischen und materiellen Wiederaufbau des Landes mit herausragenden Entwerfern. Gregotti arbeitete dann wie Aldo Rossi als Redakteur bei Casabella unter der Leitung von Rogers, und wie Rossi veröffentlichte er 1966 seine eigene, bemerkenswert differenzierte Architekturtheorie: Il territorio dell’ar­chitettura. Schon 1954 gründete er sein Büro in Novara und 1974 „Gregotti Associati“ in Mailand. Er wuchs in einer Familie von Textilfabrikanten auf, die er selbst in seinem Buch „Recinto di fab­brica“ beschrieb. Vittorio Gregotti gehört aufgrund seiner Herkunft zur aufgeklärten Bourgeoisie Norditaliens, die im Guten wie im Schlechten mit Pragmatismus und Effizienz die Unbestimmtheit der politischen Macht Italiens auszugleichen vermag. Ein natürlicher Hang zur Autorität hinderte ihn nicht, sich mit allen auseinanderzusetzen und zu sprechen, die er als innovative Denker erkannte. 1974−76 war Gregotti dann Direktor des Bereichs Bildende Kunst der Biennale Venedig und ab 1978 Professor am IUAV (Istituto Universitario di Architettura di Venezia), wo er eine tiefe Bindung zur Lagunenstadt entwickelte und 1980 ein weiteres Büro eröffnete. In den zehn Jahren zuvor war Gregotti mit den Projekten in Palermo (Stadtviertel ZEN, wissenschaftliche Institute Universität Palermo), Cefalù (sozialer Wohnungsbau) und Rende bei Cosenza (Universität Kalabrien) aktiv beteiligt an jenem wirtschaftspolitischen Prozess, der einherging mit der Industrialisierung Süditaliens, die diesen Teil des Landes von der Hegemonie Mittel- und Norditaliens befreien sollte. Ein durchschlagender Misserfolg, der jedoch dazu beitrug, eine tiefe Verbundenheit unter den Entwurfspartnern herzustellen. Dieser Beitrag Gregottis zur Verbreitung von Planungskultur ist von großer Bedeutung. Seinem Denken nach entspringt Architektur nicht einem individuellen Genie, sondern einer multidisziplinären Planung. Gregotti erkannte als einer der ersten in Álvaro Siza Vieira die Fähigkeit, die europäische Architektur zu erneuern, ohne ihre rationalistischen Ursprünge zu verraten. Vielleicht sah Gregotti in Siza eine Art alter ego; sicher fand Siza in Gregotti den idealen Gesprächspartner, um seine Arbeit außerhalb Portugals zu kommunizieren. Nach einer Abwesenheit von 19 Jahren kehrte Gregotti 1982 zu Casabella als Herausgeber zurück, eine Rolle, die er bis 1996 innehatte.
Obwohl sein Büro keine Autorenarchitektur produzierte, wusste er doch mit weitsichtiger Ausgewogenheit in schwierigen Kontexten auch im Ausland zu agieren. In Berlin nahm Gregotti Associati an der IBA teil, gewann 1981 den Wettbewerb zur Gestaltung des Lützowplatzes und realisierte anschließend 1984−86 die Torhäuser der Blockrandschließung Lützowstraße 43−51. In Barcelona gestaltete er 1986−90 das Olympiastadion Montjuic um. In Lissabon baute er zusammen mit Manuel Salgado 1988−92 das Kulturzentrum Belém. 1988 wurde Gregotti Associati Sieger der zweiten Phase des von der Stadt Mailand ausgelobten internationalen Wettbewerbs zur Umwandlung des Industriegebiets Pirelli zu einem Technologiezentrum, das bisher größte realisierte Stadterneuerungsprojekt Italiens. Eine Aufgabe, die Gregotti mit autokratischer, geradezu übermäßiger Bravour erfüllte. Auch dreißig Jahre später repräsentiert der Bezirk Bicocca das perfekte Zeugnis seiner architektonischen Denkweise mit strenger Disziplin. Vittorio Gregotti ist am 15. März in Mailand gestorben.

Übersetzung aus dem Italienischen: Iris Lüttgert

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