Keine Zeit für Visionen?
Paul Böhm und der Verein „Neue Mitte Köln“ untersuchen, welches Potenzial in einer kompletten Neuordnung des Schienenverkehrs steckt. Warum reden da so wenige mit?
Text: Winterhager, Uta, Bonn
Keine Zeit für Visionen?
Paul Böhm und der Verein „Neue Mitte Köln“ untersuchen, welches Potenzial in einer kompletten Neuordnung des Schienenverkehrs steckt. Warum reden da so wenige mit?
Text: Winterhager, Uta, Bonn
Er habe sich geärgert, erinnert sich Paul Böhm, fragt man ihn nach dem Anlass für die „Neue Mitte Köln“. 2019 las der Architekt in der Zeitung von geplanten Milliardeninvestitionen der Deutschen Bahn in den Knotenpunkt Köln. Teuer und aufwendig, und technisch sei man hinterher immer noch nicht auf Stand! Vor allem werde aber das Grundproblem nicht tangiert: dass die Eisenbahninfrastruktur, die das Kölner Stadtgefüge seit 1839 maßgeblich geprägt und urbanes Wachstum ermöglicht hat, der Stadt nun schade. Funktionen, die nicht mehr bedarfsgerecht seien, besetzten wertvolle Flächen und verhinderten zukunftsfähige Entwicklung, zerschnitten, was zusammengehöre. Und nicht zuletzt sei die Bahn selbst in ihrem System höchst ineffizient. All das sind bekannte Probleme, nicht nur in Köln. Dort kommt aber hinzu, dass der Hauptbahnhof und der Dom direkt nebeneinander liegen und sich trotz vielfacher Ansätze zur Neuordnung des Stadtraums Himmel und Erde kräftig aneinander reiben. Immer wieder wird deutlich, wie wenig sich die Bahn um die Schnittstellen mit der Stadt schert. Nicht im Kleinen, wo bestehende Planungen, selbst abgespeckte Interims zur künstlerischen Gestaltung eines Tunnels, jahrzehntelang aufgehalten werden, und – wie es scheint – auch nicht im Großen.
Böhms Ärger ließ ihn mit einer fachlich versierten Gruppe, darunter der Verkehrsplaner Günter Harloff, aktiv werden. 2019 tauchten unter dem Titel „Neue Mitte Köln 2030“ Visualisierungen einer begrünten, zum Park ausgebauten Hohenzollernbrücke in den Medien auf. Picknicken, spielen, gärtnern, skaten, Rad fahren und spazieren, wo heute täglich 1220 Züge den Rhein überqueren. Die Idee erinnert an die High Line in Manhattan, der Schauplatz liegt hier jedoch in der Achse des Domchors. Dieses höchst unwahrscheinlich erscheinende Symbolbild steht auch heute noch für die Neue Mitte Köln. Böhm hatte sämtliche kleinen Schritte übersprungen, das Terrain des Machbaren verlassen und diese Vision entwickelt, die beim scheinbar Unmöglichsten ansetzte: der Neuordnung der gesamten Bahninfrastruktur in und um Köln. Der Schlüssel ist die Verlegung des Fernbahnhofs vom Dom ins rechtsrheinische Kalk. Der Neubau und seine Anbindung an das bestehende Schienennetz unter Umfahrung der Innenstadt bilden die erste von drei Phasen des Konzepts. In Phase II folgt der Bau eines Tunnels für den Bahnnahverkehr und den Ost-West-Fernverkehr, der unter dem Rhein und unter der Innenstadt hindurchgeführt wird. In Phase III werden zwei S-Bahnringe ergänzt, die innere und äußere Stadtteile an den neuen Fernbahnhof Kalk anbinden. Der Mehrwert für die Stadt erscheint mess- und zählbar: 20 Hektar neue Grünflächen, 5000 neue Bäume, je 17 Kilometer neue Fuß- und Radwege, 11.000 neue innerstädtische Wohnungen, 400.000 Quadratmeter für Gewerbe, Bildung und Kultur (größtenteils in den Hallen des historischen Hauptbahnhofs) und 30 Minuten weniger Zugfahrzeit durch Köln. Auf Planebene wirkt das alles schlüssig, aber doch so, als haben man die Bahn aus dem Stadtgefüge ausradiert, entstehende Fehlstellen mit Grün gefüllt und die Radialen mit einigen Zirkelschlägen am rechten Rand verknüpft. Das Konzept bietet Lösungen für Unlösbares wie die Wohnungsfrage und Mobilität, schafft Raum zum klimagerechten Stadtumbau. Kann man dazu Nein sagen?
Seit der ersten Vorstellung der Vision Neue Mitte Köln sind sechs Jahre vergangen. Böhm und ein Dutzend Mitstreiterinnen und Mitstreiter haben 2021 einen gemeinnützigen Verein gegründet und mit Crowdfunding 1,4 Millionen Euro gesammelt (darunter Großspenden der Sparkasse KölnBonn und der Stadtwerke). Das Wuppertal Institut hat Anfang 2024 in Form einer Vorstudie einen Kriterienkatalog zur Evaluation von Umsetzbarkeit und Wirkung erarbeitet. Beide Aspekte werden nun in einer mehrstufigen Studie der Ingenieurbüros ARUP mit Jan Gehl und Arcadis geprüft und präzisiert. Und immer noch ist es in Köln erstaunlich still, eine öffentliche Diskussion über die Neue Mitte Köln ist nie in Gang gekommen. Das ist ungewöhnlich, denn das Projekt ist bekannt, lokale Medien berichten über die Fortschritte. Was aber sagen die Schlüsselakteurinnen?
Der Mobilitäts-Dachverband go.Rheinland habe sich bei einer ersten Vorstellung beeindruckt gezeigt, blocke aber ab, man „werde alles tun, um das Konzept zu verhindern“, erinnert sich Böhm. Auch der Vorstand der Bahn zeigte sich höflich angetan, lehnte trotz der Aussicht auf 80 Hektar vermarktbarer Flächen aber ab, weil die Umsetzung den Kölnerinnen und Kölnern nicht zuzumuten sei. Bei denen fragte Böhm direkt nach und sammelte in einer Petition 6007 Unterschriften. Damit war das Quorum erfüllt, und der Verein beantragte beim Stadtentwicklungsausschuss Unterstützung der Machbarkeitsstudie. Die Stadt bezog eine „neutrale“ Haltung. Die lokale Architekturszene schweigt offiziell ziemlich laut. Inoffiziell gibt es viele hochgezogene Augenbrauen. Habe man sich nicht gerade erst damit arrangiert, dass Stadtplanung heute im Reparieren und Planen um den Bestand herum besteht? Eben kündigte die Bahn in Köln an, in den kommenden Jahren zwei innerstädtische Brücken zu sanieren. Es wird gesperrte Straßen und Strecken geben, die viele betreffen, die Stadt muss 95 Millionen Euro vorstrecken. Und Grundlegendes wird sich nicht ändern.
Städtebauliche Masterpläne, die in großem Umfang in die Substanz eingreifen, wecken den Anschein undemokratischer Machtdemonstration, oft sind oder waren sie das auch. Die Neue Mitte Köln aber agiert bottom-up, nicht politischer Wille ist ihr Motor, sondern zivilgesellschaftliches Engagement. Stadt und Bahn, die täglich mit der Bewältigung des Status Quo ringen, fehlen die Kapazitäten, um sich auf dieses Planspiel einzulassen. Der Freiraum, den diese städtebauliche Vision bietet, hätte aber einen weit größeren Wert, wenn mehr Köpfe darin Ideen testen, mehr Hände ihn bespielen würden. Und gerade weil das Szenario so fern jeder Realität ist, könnte es wirklich interessant werden.






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