Bauwelt

Eine Zukunft für unsere Vergangenheit!

Fünfzig Jahre Europäisches Denkmalschutzjahr

Text: Bodenschatz, Harald, Berlin

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    Die lange verfemte und dem Abriss überantwortete „Mietskasernenstadt“ im Zentrum neuer Aufmerksamkeit – Titel der Programm­broschüre des Symposiums 4 des Europarats
    Foto: Europarat, Programm Symposium 4 (außen)

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    Die lange verfemte und dem Abriss überantwortete „Mietskasernenstadt“ im Zentrum neuer Aufmerksamkeit – Titel der Programm­broschüre des Symposiums 4 des Europarats

    Foto: Europarat, Programm Symposium 4 (außen)

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    Berlin-Kreuzberg ...
    Foto: Sammlung Harald Bodenschatz

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    Berlin-Kreuzberg ...

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    ... und das Zentrum von Bologna waren vor fünfzig Jahre Brennpunkte einer neuen, behutsamen Stadtentwicklung.
    Foto: Sammlung Harald Bodenschatz

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    ... und das Zentrum von Bologna waren vor fünfzig Jahre Brennpunkte einer neuen, behutsamen Stadtentwicklung.

    Foto: Sammlung Harald Bodenschatz

Eine Zukunft für unsere Vergangenheit!

Fünfzig Jahre Europäisches Denkmalschutzjahr

Text: Bodenschatz, Harald, Berlin

Lange ist es her, aber wir sollten es nicht vergessen: das Europäische Denkmalschutzjahr. Denn es hat die Sichtweisen, die Gesetze und vor allem den Umgang mit den europäischen Städten verändert, aber auch unsere Berufe, unsere Ausbildungen und nicht zuletzt uns selbst, zumindest einige von uns. Dieser Wandel vollzog sich ohne einen Krieg, ohne einen politischen Systemwechsel wie etwa 1918 und 1945, als der moderne Städtebau um sich griff bzw. die autogerechte Stadt triumphierte. 1975 ging es darum, die historische Stadt erhaltend zu erneuern, ihre Mängel zu überwinden und so in die Zukunft zu führen. Die griffige und weit verbreitete Hauptlosung jener Zeit unterstrich diese Orientierung: A FUTURE FOR OUR PAST – EINE ZUKUNFT FÜR UNSERE VERGANGENHEIT. Das klingt heute nahezu selbstverständlich, war damals aber unerhört. Denn die historischen Zentren wie die Quartiere vor 1914 galten bis dahin ost-west-übergreifend als veraltet, menschenunwürdig und ohne Zukunft. Zahlreiche Abrisspläne der 1950er, 1960er und auch noch 1970er Jahre zeugen von dieser zerstörerischen Orientierung.
Der radikale Wandel betraf nicht nur einige wenige ausgewählte Städte oder Staaten, sondern war die Folge einer (west-)europäischen Kampagne, die 1975 51 Pilotprojekte in 17 Ländern umfasste, aber auch Länder auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs einband: zwar nicht die DDR, aber Ungarn, Polen und die Sowjetunion. In der Bundesrepublik Deutschland waren die Städte Alsfeld, West-Berlin, Rothenburg o. T., Trier und Xanten beteiligt. Hauptakteur war eine europäische Institution, der 1949 gegründete Europarat mit Sitz in Straßburg. Der damalige Generalsekretär des Europarates war der Berliner Georg Kahn-Ackermann (SPD). Doch dieses Projekt war keineswegs nur eine Veranstaltung „von oben“: Ungezählte zivilgesellschaftliche Initiativen nicht nur in den großen Städten, sondern auch in vielen kleineren Städten sicherten erst den großen Erfolg dieser Kampagne.
Die Aktivitäten des Europarates entfalteten sich nicht an einem bestimmten Tag, nicht einmal in einem bestimmten Jahr, sondern in einem mehrjährigen Prozess, der 1975 seinen Höhepunkt hatte. Erste Schritte waren bereits 1971 sichtbar, 1973 startete die Kampagne auf einer Konferenz in Zürich. Sie umfasste die Einrichtung von 25 Nationalkomitees, die Veranstaltung von Kongressen, die Durchführung von Pilotprojekten und die Verbreitung von Publikationen. Dazu kamen Kooperationen mit anderen Institutionen, etwa mit der Unesco. Konferenzen des Europarats fanden in Edinburgh (1974), Bologna (1974), in Krems (1975), in Amsterdam (1975) und in Berlin (1976) statt. Im Jahr 1975 wurde auch die Europäische Denkmalschutz-Charta des Europarats verkündet. Sie schloss mit folgenden Worten: „Das architektonische Erbe ist gemeinsamer Besitz unseres Kontinents.“
Den Höhepunkt des Kampagnenjahres 1975 bildete der Kongress in Amsterdam, der in ein Manifest mündete, die „Deklaration von Amsterdam“. Darin hieß es gleich zu Beginn: „Das schützenswerte bauliche Erbe schließt nicht nur Einzelgebäude von überragender Qualität und deren Umgebung ein, sondern alle Stadt- und Dorfgebiete von historischer oder kultureller Bedeutung.“ Und weiter: „In Städtebau und Raumplanung darf die Erhaltung des baulichen Erbes kein Randgebiet sein, sondern muß zu einem der zentralen Anliegen werden.“ Zugleich wurde die soziale Dimension betont: „Die Erneuerung historischer Baugebiete sollte so geplant und ausgeführt werden, daß wo dies möglich ist, kein größerer Umbruch in der Sozialstruktur eintritt. Die Vorteile solcher mit öffentlichen Mitteln unterstützter Maßnahmen sollten allen Gesellschaftsschichten gleichmäßig zugute kommen.“ Bemerkenswert war schließlich die Zukunftsperspektive, denn das bauliche Erbe wurde als Prozess betrachtet: „Es müssen alle Anstrengungen unternommen werden, um sicherzustellen, daß auch die zeitgenössische Architektur neue Werte schafft, denn die Neubauten von heute sind das bauliche Erbe von morgen.“
Es ging also nicht allein um Denkmalschutz im engeren Sinne, nicht nur um die Erhaltung einzelner Gebäude und deren Dimensionen, Proportionen, Dächer, Fassaden, Konstruktionen und Baumaterialien, sondern auch um den Stadtgrundriss und vor allem um Straßen und Plätze. „Lebensraum“ statt „Verkehrsraum“! Aufgerufen wurden wirtschaftliche, soziale und kulturelle Fragen, auch Fragen des Verkehrs und der Umwelt. Es ging um den Städtebau von heute und morgen, um ein neues Verständnis der menschenwürdigen Stadt: Die Stadtplanung, so die Hoffnung, „sucht den geschlossenen Raum, den menschlichen Maßstab, das Ineinandergreifen verschiedener Betätigungen und die soziale und kulturelle Lebendigkeit, die für das Bild alter Städte charakteristisch sind, wieder zu entdecken. Aber nicht nur das – man beginnt sich auch darüber klar zu werden, daß die Erhaltung alter Gebäude zu einem sinnvolleren Umgang mit den vorhandenen Mitteln und zur Bekämpfung unsinniger Verschwendung beiträgt und damit einem Hauptanliegen unserer heutigen Gesellschaft entspricht.“ Die Ressourcenfrage war bereits ein Thema, wenngleich noch im Hintergrund.

Modell Bologna – Modell (West-)Berlin

Zwei Städte rückten im Rahmen der großen Kampagne besonders ins Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit: Bologna und Berlin. Bologna stand für den Umgang mit einem „historischen Zentrum“, mit einer vorindustriellen Stadt, Berlin für den Umgang mit den Quartieren des späten 19. Jahrhunderts einer durch die Industrie geprägten Großstadt.
Vor fünfzig Jahren war die Altstadt von Bologna, das „centro storico“, ein Wallfahrtsort: Denkmalpfleger, Architekten, Stadtplaner, Sozialwissenschaftler, Politisierte und Politiker aus aller Welt pilgerten in die vom Partito Comunista Italiano regierte Hauptstadt der Emilia Romagna. Es waren vor allem vier Dimensionen der Bologneser Planungspolitik, die die Fachwelt faszinierten: erstens die erhaltende Erneuerung des gesamten historischen Zentrums, zweitens das Konzept der Stadt als Netz von öffent­lichen Dienstleistungen, drittens die soziale Perspektive der Wohnraumsanierung, die im Konzept der Wohnung als öffentliche Dienstleistung ihren programmatischen Ausdruck fand, und viertens das Projekt einer kommunalen Dezentralisierung, die baulich in der neuen Nutzung großer historischer Klosterkomplexe sichtbar wurde. Das Modell Bologna verdeutlichte die Wiederentdeckung der Werte und Potenziale der historischen Stadt, und zwar in einem Sinne, der über die Frage der städtebaulichen Form deutlich hinausging, diese aber als Kern hatte.
In (West-)Berlin ging es um etwas ganz anderes, um die Quartiere der Kaiserzeit, die sog. Mietskasernenstadt, die seit 1963 unter Einsatz erheblicher öffentlicher Mittel Stück für Stück abgerissen wurde. Diese Kahlschlagsanierung traf nach 1968 auf heftigen Widerstand. Bürgerinitiativen wehrten sich gegen den Abriss von billigem Wohnraum, und auch viele Fachleute setzten sich für eine erhaltende Erneuerung der Stadt des späten 19. Jahrhunderts ein. In diese kritische Zeit fiel die Kampagne des Europarats. (West-)Berlin beteiligte sich an dieser Kampagne, mit fünf Quartieren aus der Kaiserzeit in Charlottenburg, Kreuzberg und Schöneberg, für die erhebliche Teilabrisse vorgesehen waren. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand der sogenannte Block 118 des Sanierungsgebiets Charlottenburg-Klausenerplatz, der erneuert wurde, ohne – wie bisher – die meisten Gebäude abzureißen. Diese Art des Umgangs, die später den Namen „behutsame Stadterneuerung“ erhielt, wurde in harten Ausein­andersetzungen gegen die herrschende Politik und Verwaltung durchgesetzt, in einem Bündnis von Bürgerinitiativen vor Ort, Teilen der Fachwelt und zahlreichen politischen Gruppen. Der führende Architekt dieser erhaltenden Erneuerung war Hardt-Waltherr Hämer, später, in den 1980er Jahren, einer der beiden Direktoren der Internationalen Bauausstellung.
Auf dem den europäischen Großstädten Barcelona, Berlin, Budapest, Paris, Stockholm und Wien gewidmeten Symposium des Europarats 1976 in Berlin fasste Generalsekretär Georg-Kahn Ackermann die neue Sicht auf die „Mietskasernenstadt“ zusammen: „Das steinerne Berlin ist ebenso Geschöpf und Ursache gesellschaftlicher Mißstände wie es Trägerin von Qualitäten ist, die wir heute wieder zu entdecken beginnen. Seine Bewohner wollen es erhalten, weil es ihre Heimat ist; die Soziologen finden darin den Ort, der Identifikation erlaubt; die Planer sehen Modelle für den Stadtraum von morgen; dem wirtschaftlich Denkenden ist es eine Substanz, die nutzbar ist; der Besucher ist überrascht von der Vielfalt und schöpferischen Kraft, die diese Häuser und Stadtviertel zeigen. Der Politiker muß es daher als sein Mandat ansehen, sich für die Erhaltung dieses architektonischen Erbes einzusetzen.“
(West-)Berlins Besonderheit im Europäischen Denkmalschutzjahr war der Kampf für die Erhaltung der Stadt des späten 19. Jahrhunderts. Damit wurde das Thema der erhaltenden Erneuerung der historischen Stadt über die historischen Altstädte hinaus erweitert. Für (West-)Berlin war das ein Jahr der Wende, in dem ein bereits länger schwelender Konflikt kulminierte und eine internationale Dimension annahm. In Ost-Berlin gab es keine vergleichbaren sozialen Konflikte, wenngleich sich die fachliche Diskussion und Praxis ebenfalls in Richtung einer Neubewertung der historischen Zentren wie der Quartiere des späten 19. Jahrhunderts bewegte.

Vielseitige Wirkungen

Bologna war kein Einzelfall, sondern der Gipfelpunkt einer neuen Bewertung und Behandlung von historischen Zentren in ganz Europa. Erst seit dem Denkmalschutzjahr waren „Altstädte“ kein Entsorgungsfall mehr. In der Bundesrepublik Deutschland wurden damals insbesondere die Projekte für Bamberg, Lübeck und Regensburg breit beachtet. Jenseits des Eisernen Vorhangs erhielt die denkmalgerechte Sanierung von Krakau große Aufmerksamkeit auch im „Westen“. In Italien entstand eine breite Bewegung zur erhaltenden Erneuerung des reichen Erbes an Altstädten.
In Deutschland war bereits 1971 ein wichtiges neues Gesetz geschaffen worden: das Städtebauförderungsgesetz. Aber erst im Zuge des Wandels um 1975 diente es vorrangig der erhaltenden Erneuerung. Es begründete so eine international einzigartige, oft nicht angemessen gewürdigte Tradition einer breit angelegten und immer wieder neuen Anforderungen angepassten „Städtebauförderung“. Nunmehr wurden auch die Quartiere des späten 19. Jahrhunderts neu bewertet und die Projekte der Kahlschlagsanierung aufgegeben. In diesen Jahren entstanden zudem auf Länder­ebene – endlich – die ersten Denkmalschutzgesetze: Baden-Württemberg (1971), Schleswig-Holstein (1972), Bayern und Hamburg (1973) sowie Hessen 1974. Ein Umbruch oder besser: ein Dammbruch zugunsten des historischen Stadtbestands.
Zu den ungeplanten Wirkungen des Denkmalschutzjahres gehören schließlich die Neuorientierungen der damals aktiven Fachleute, auch von mir selbst. So lenkte der 1974 von Astrid Debold-Kritter und Peter Debold in Bauwelt 33 veröffentlichte Artikel über die Planungspolitik für das historische Zentrum in Bologna meine fachlichen Interessen in Richtung Bologna bzw. Stadterneuerung. Dies manifestierte sich auch in meiner Lehre an der TU Berlin seit 1978. Aber ich wurde damals auch „praktisch“. 1980 gründeten mein Kollege Johannes Geisenhof und ich ein Planungsbüro, das zahlreiche Altorterneuerungen in kleinen Städten, Kommunen und Dörfern in Mittelfranken vorbereitete und begleitete. Und nach 1990 auch in der ehemaligen DDR, vor allem in Brandenburg an der Havel. Insofern bin ich und verstehe ich mich auch als Teil der „Generation behutsame Stadterneuerung“.
Das freilich ist eine Verpflichtung, sich immer wieder neu zu fragen, wie die jeweils vorhandene Stadt angesichts neuer Herausforderungen erhaltend erneuert und verbessert werden kann. Denn schon die behutsame Stadterneuerung war kein Weg zurück in die Kaiserzeit, sondern eine zukunftsorientierte Reurbanisierung der überkommenen Stadt. 1975 wurde daher nicht nur der Denkmalschutz gestärkt, sondern eine erste „Bauwende“ errungen. Mit Protesten, Kampagnen, Kongressen, Publikationen, Projekten. Kooperativ und interprofessionell, gesamteuropäisch, nicht im Streit untereinander. Mit einer klaren gestalterischen, sozialen und ökologischen Perspektive für Bauten und öffentliche Räume, für Architektur und Städtebau. Ein Ansporn für heute!

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