Stadt des Spiels
Kinderleicht ist es zwar nicht, aber auch keine Hexerei, Städte zu lebenswerten Orten für Kinder zu machen. Ein möglicher Leitfaden.
Text: Gadient, Hansjörg, Chur/Berlin
Stadt des Spiels
Kinderleicht ist es zwar nicht, aber auch keine Hexerei, Städte zu lebenswerten Orten für Kinder zu machen. Ein möglicher Leitfaden.
Text: Gadient, Hansjörg, Chur/Berlin
Am besten beginnt man damit, Kinder selbst zu fragen. Sie haben viel zu sagen, denn sie nehmen ihre Umwelt sensibel wahr und haben klare Wünsche. Zudem haben sie gemäß der UNO-Kinderrechtkonvention das Recht, zu allem gehört zu werden, was sie betrifft. Bei einem Stadtspaziergang werden einem Kinder schnell auf Orte aufmerksam machen, die sie gerne nutzen oder solche, die sie meiden. Diese Sicht auf ihren Lebensraum müssen sich Erwachsene, die planen und bauen, zu eigen machen.
Elf- bis zwölfjährige Kinder sind heute oft nicht in der Lage, Fahrrad zu fahren, geschweige denn, sich sicher durch den Stadtverkehr zu bewegen. Die Ursachen sind erhebliche Defizite in der motorischen Entwicklung und fehlende Gelegenheiten zum Üben. Aus Sicherheitsüberlegungen werden sie von Eltern oder Erziehungsberechtigten ständig herumgefahren und beaufsichtigt. Allein verbringen sie ihre Zeit in Innenräumen. Diese „Verhäuslichung“ führt zu Übergewicht, Aufmerksamkeitsstörungen und Hyperaktivität. Zudem vereinzeln sie, und ihre sozialen Fähigkeiten entwickeln sich nicht altersgemäß. Unter der fehlenden Bewegung im Freien leiden die Wahrnehmungs- und Konzentrationsfähigkeit sowie die Resilienzentwicklung. Wo sichere Freiräume vorhanden sind, in denen sich Kinder unbeaufsichtigt und selbstbestimmt beschäftigen können, entwickeln sie sich psychisch und physisch deutlich besser. Sie schließen Freundschaften, erlernen ein gesundes Risikoverhalten und schulen ihre intellektuellen und motorischen Fähigkeiten, wie man aus Studien weiß.
Stadt- und Freiraumplanung
Die größten Einflussmöglichkeiten auf die Qualität von kindergerechten Freiräumen hat die Stadt- und Freiraumplanung, weil sie dafür die räumlichen Grundlagen schafft. Im Idealfall wird die ganze Stadt als Spielraum aufgefasst und für Kinder sicher gemacht. Unerwartet bildhaft beschreibt das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung dieses Potenzial schon 2010: „Trotz hoher Verdichtungsgrade in Städten gibt es sie dennoch: die versteckten Ecken, Baulücken, Zwischenräume und Siedlungsränder, mitten in den Städten mit Baumhäusern, Erdhöhlen und Parcourstrecken für das BMX-Fahren. Die ungeordneten, wilden, mit Sukzessionsgrün bewachsenen Freiräume üben für Kinder und Jugendliche eine große Faszination aus und werden intensiv von ihnen genutzt.“
Die grundlegende Maßnahme ist die Freiraumversorgung. Flächen für Nah- und Nächsterholung müssen gesichert werden, um dort Angebote für Kinder schaffen zu können. Besonders in stark verdichteten Siedlungen ist dies zentral. Bei neu geplanten Wohngebieten eignet sich das von der Architektin und Ethnologin Gabriela Muri Koller entwickelte Konzept der „Spielraumvernetzung“. Es sieht vor, dass die Bauherren nicht auf ihrem eigenen Grundstück die obligaten kleinen Spielplätze anlegen, sondern in einen gemeinsamen Topf einzahlen. Mit diesen Geldern werden dann im neuen Siedlungsteil verschiedene, größere Spiel- und Sportflächen angelegt, die miteinander und mit den Wohnquartieren durch ein sicheres und verkehrsfreies Wegenetz verbunden sind. Nur für die jüngsten Kinder sind dann noch kleine Spielanlagen in direkter Nähe der Wohnungen nötig. Die älteren Kinder und Jugendlichen können sich selbst ihre bevorzugten Orte für Spiel und Begegnung suchen.
Dichte, Multifunktionalität und Brachen
Der Zwang zur hohen baulichen Verdichtung ist für die Freiräume von Kindern problematisch. Der starke Druck verschiedener Akteure auf den Raum lässt ihnen kaum noch Nutzungsmöglichkeiten. Dem kann begegnet werden, indem direkt an hoch verdichtete Baustrukturen angrenzende, großzügige und unbeaufsichtigt nutzbare Freiflächen geplant werden. Sinnvoll sind zudem Nutzungsüberlagerungen auf allen Flächen, die für Kinder sicher sind. Zum Beispiel können Quartierstraßen durchgehend zu Begegnungszonen werden, ökologische Ausgleichsflächen eignen sich, ohne Schaden zu nehmen, auch als Naturbegegnungsräume. Solche wenig geregelten Orte eignen sich besonders für das Veränderungsspiel; hier können Kinder Matschgruben anlegen oder Asthütten bauen. Ihr starkes Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit und Gestaltung findet in Städten sonst kaum Entfaltungsmöglichkeiten. Wo immer möglich sollten dafür Brachen temporär oder dauerhaft für Kinderspiel zur Verfügung gestellt werden. Dies können zum Beispiel Zwischennutzungen von Abbruchliegenschaften sein oder Flächen, die dauerhaft für wechselnde Projekte zur Verfügung gehalten werden.
Verkehrsplanung
Kinder können Verkehrssituationen erst relativ spät einschätzen, zeigt die Entwicklungspsychologie. Sie können beispielsweise im Alter von elf Jahren noch immer nicht mit Sicherheit orten, woher ein Fahrgeräusch kommt. Erst mit etwa neun Jahren ist ihre Einschätzung von Distanz und Geschwindigkeit mehr oder weniger korrekt. Und erst in diesem Entwicklungsalter funktionieren die im Straßenverkehr sehr wichtigen Funktionen von selektiver und geteilter Aufmerksamkeit. Einfach gesagt, erst jetzt können Kinder sich einigermaßen konzentriert im Verkehr bewegen. Wegen der Sicherheitsaspekte spielt die Verkehrsplanung daher eine zentrale Rolle bei der Schaffung von kindergerechten Freiräumen.
Erwachsene lassen Kinder nirgends frei spielen, wo der motorisierte Verkehr eine Gefahrenquelle ist. Deshalb müssen verkehrsorientierte Straßen und Spielräume getrennt werden. Untergeordnete Straßen sollten nie mit mehr als 30 Kilometer pro Stunde befahren werden dürfen, besser sind Begegnungszonen mit maximal Tempo 20 und Vortrittsregelungen, die ein gemeinsames, konfliktfreies Nebeneinander ermöglichen. Essenziell ist, dass die Übergänge zwischen verschiedenen Verkehrsregimes deutlich gekennzeichnet sind, sodass sowohl Fahrzeuglenkende als auch Kinder leicht erkennen, wo sie beginnen und enden.
„Sehen und gesehen werden“ ist das wichtigste Prinzip bei der Gestaltung. Ein durchschnittlich großes Kind hat mit neun Jahren eine Augenhöhe von 120 Zentimetern. Erst jetzt sieht es über die Motorhaube eines SUVs – und wird gesehen. In Begegnungsräumen und Sichtdreiecken dürfen daher keine sichtbehindernden Elemente stehen. Statt abgestellten Autos, Pflanztrögen, Barrikaden und ähnlichen Objekten sollten Poller oder Pfeiler als bremsende Elemente und Absperrungen genutzt werden. Und letztlich ist für jede Siedlung ein sicheres, dichtes Netz für den Langsamverkehr essenziell.
Städtebau
Bei Neubauvorhaben ist eine relativ niedrige bauliche Dichte ideal. Eine entsprechende Dissertation von Herbert Claus Leindecker schlägt Werte für die Geschossflächenzahl von 0,6 bis maximal 1,0 vor. Niedrigere Werte führen dazu, dass zu wenige Kinder in der Siedlung leben werden, zu hohe, dass die Freiflächen zu stark von konkurrierenden Nutzungsinteressen beansprucht werden. Optimale Wohnbauten für Familien mit kleineren Kindern weisen nicht mehr als drei Geschosse auf. Nur so ist es möglich, dass die Kinder selbstständig aus den obersten Wohnungen ins Freie gelangen. Auch Blick- und Rufkontakt aus den Wohnungen in die Freiräume sind so leicht möglich. Zudem wirken höhere Geschossigkeiten auf Kinder einschüchternd. Auch zu stark repetitive Baustrukturen und zu lange Baukörper sind nachteilig. Die Kinder sollten sich immer leicht orientieren können und den Zugang zum Haus, in dem sie wohnen, ohne Schwierigkeiten finden. Auch die Außenanlagen sollten nicht zu großräumig konzipiert, sondern mit Bäumen, Hecken und anderen Elementen gegliedert werden, denn Kinder nehmen Räume als viel größer wahr als Erwachsene. Wer einmal als erwachsene Person einen Ort oder einen Platz besucht hat, der als Kind groß erschienen war, wird sich wundern, wie klein er ist.
Architektur
Auch die Architektur im engeren Sinn kann einen Beitrag leisten, dass Kinder frei, unbeaufsichtigt und möglichst konfliktarm im Außenraum spielen können. Die Türen zu den Wohngebäuden müssen so eingerichtet sein, dass die Kinder sie selbst öffnen können, das heißt, sie sollten mit Motoren und einem einfachen Bedienungssystem versehen sein. Alle Bedienelemente wie zum Beispiel Klingelknöpfe müssen tief genug, unter einem Meter ab Boden, angebracht sein, so dass auch kleine Kinder sie erreichen. Wo Klingeln nicht so tief sein sollen, kann davor eine Stufe oder Bank den Kindern als Leiter dienen. Die Ausgänge im Erdgeschoss sollten immer auch auf der Seite des Spielbereiches liegen. Meist ist dies nicht der Fall, da die Zugangsseite Richtung Norden und die Spielbereiche Richtung Süden liegen. Die Kinder müssen dann jeweils ums ganze Haus herumlaufen. Die Eingangsbereiche sollten groß genug sein, damit Spielzeug, Fahrgeräte und ähnliches dort abgestellt werden können. Wenn diese Eingänge großzügig überdacht sind, werden sie zu nutzbaren Orten bei schlechtem Wetter. Auch Vordächer, gedeckte Durchgänge, Laubengänge oder Pavillons bieten den Kindern Schutz. Wenn die untersten Wohnungen nicht ebenerdig, sondern als Hochparterre angelegt sind, entstehen weniger Nutzungskonflikte mit den spielenden Kindern. Wo immer möglich, sollten Ruf- und Sichtbeziehungen zwischen den Wohnungen und den Spielräumen ermöglicht werden, zum Beispiel mit französischen Fenstern und durchblickbaren Balkonbrüstungen. So können Kinder in den Wohnungen mit den Spielgefährten im Außenraum Kontakt aufnehmen.
Landschaftsarchitektur
Meist bestimmen Fachleute der Landschaftsarchitektur über die Gestaltung der Frei- und Spielräume. Sie haben es in der Hand, die richtigen Weichen für Sicherheit, Funktionalität und eine ansprechende Atmosphäre zu sorgen. Die meist gewählten Gerätespielplätze bedienen aber nur ein kleines Segment der kindlichen Bedürfnisse: balancieren, klettern und schaukeln für jüngere Kinder. Diese Gerätespielplätze gehen auf Geräte zurück, die „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn erstmals 1811 auf einem Turnplatz in der Hasenheide in Berlin aufstellen ließ. Sie dienten in erster Linie der Leibesertüchtigung der männlichen Jugend, die für den Kriegsdienst bereit gemacht werden sollte. Diese besondere Form des Spiels spricht Ältere nicht mehr an. Es braucht beispielsweise offene unverstellte Flächen für Fang- und Gruppenspiele, Orte zum Verstecken und versiegelte Flächen für Fahrspiele aller Art. Wichtig sind Möglichkeiten für Veränderungs- und Gestaltungsspiele. Für die Kleinsten dient der Sandkasten diesem Bedürfnis noch sehr gut; sobald sie diesem entwachsen sind, gibt es kaum noch Angebote. Die meisten Veränderungen, die älteren Kindern dann einfallen, laufen unter Vandalismus. Es braucht also wild belassene und unbeaufsichtigte Bereiche, wo Kinder und Jugendliche bauen, matschen und gestalten können, ohne dass sich Erwachsene daran stören. Aus Sicherheits- und Unterhaltsgründen sind die ehemals beliebten Robinson- und Bauspielplätze leider kaum noch vorhanden.
Von zentraler Bedeutung ist auch die Raumbildung. Kinderspielräume sollten reichhaltig gegliedert sein und verschiedene Atmosphären aufweisen, von offenen gemeinschaftlichen Räumen bis zu intimeren Rückzugsorten. Bäume müssen für Schatten im Sommer sorgen, Hecken und Mauern für Windschutz. Wasser in irgendeiner Form gehört in jeden Spielraum. Bei der Pflanzenwahl spielt die Giftigkeit keine Rolle: Bei der aktuellen Revision der einschlägigen DIN-Norm für Spielplätze wurden die letzten vier Giftpflanzen, die darin noch enthalten waren, entfernt – Vergiftungsfälle kamen nicht vor. Stattdessen sollte sich die Planung auf Pflanzen konzentrieren, die Kindern Spaß bringen: Kletterbäume, Naschpflanzen und Pflanzen, die Spiel- und Bastelmaterial liefern.
Spielräume müssen sicher sein. Wirklich gefährlich sind – außer dem motorisierten Verkehr – Absturzstellen und Gewässer. Sie müssen aber auch sicher erscheinen. Sonst lassen Erwachsene Kinder dort nicht frei spielen. Dabei dürfte das zentrale Anliegen von Kindern sein, das nach Lust und Laune sicher, unbeaufsichtigt und frei tun zu können.
Stadtumbau
Nun sind die Städte eben gebaut. Spätestens seit der Einführung des Autos gehört die Straße nicht mehr den Kindern oder überhaupt Menschen, die nicht hinterm Steuer sitzen. Aber Straßen lassen sich umbauen, und zwar oft erstaunlich effizient und mit wenig materiellem Aufwand.
Tempo- und Verkehrsdrosselungen aller Art sind mit wenigen Mitteln einfach umzusetzen. Eine leistungsfähige Methode ist die vor über dreißig Jahren in Barcelona entwickelte Strategie der Superblocks. Diese auch Kiez- oder Quartiersblocks genannten Teilbereiche halten den größten Teil des motorisierten Verkehrs am Rand auf. Im Inneren ist meist nur Anlieferung mit Schrittgeschwindigkeit erlaubt, und die freiwerdenden Flächen werden für Begrünung, Plätze und Spielorte genutzt. Untersuchungen in Barcelona haben gezeigt, dass der Verkehr nicht in andere Quartiere verdrängt wird, sondern sogar verschwindet. Dem Vorbild folgen unterdessen – mit reichlich Verspätung – sehr viele Städte in Europa mit großem Erfolg. Eine zweite Maßnahme ist die sorgfältige Bestandsanalyse, auf der basierend für einen Stadtteil ein Strauß von Einzelmaßnahmen durchgeführt wird. Dies kann von Verkehrsberuhigung über Um- und Rückbau ungenutzter Flächen bis zu temporären Nutzungen alles sein, was Kindern und Erwachsenen zu mehr Nutzbarkeit und Aufenthaltsqualität verhilft. In Deutschland ist die Methode als „Spielleitplanung“ bekannt und erprobt.
Umbau muss zuerst in den Köpfen geschehen, das heißt, es braucht in erster Instanz einen entsprechenden politischen Prozess, damit wirksame Maßnahmen ergriffen werden können. Die Maxime ist einfach: Städte müssen wieder zu Lebensräumen für Kinder und Erwachsene werden, die nicht in einem Auto sitzen.







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