Stadt der Kinder- und Jugendmillion
Die Stadt Wien betreibt eine proaktive kinder- und jugendfreundliche Stadtplanung. Mit immens vielen Spielplätzen, aber auch mit der partizipatorischen Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen in Stadt- und Freiraumplanungsprozesse. Für die Umsetzung der besten Ideen gibt die Stadt sogar eine Million Euro pro Jahr.
Text: Czaja, Wojciech, Wien
Stadt der Kinder- und Jugendmillion
Die Stadt Wien betreibt eine proaktive kinder- und jugendfreundliche Stadtplanung. Mit immens vielen Spielplätzen, aber auch mit der partizipatorischen Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen in Stadt- und Freiraumplanungsprozesse. Für die Umsetzung der besten Ideen gibt die Stadt sogar eine Million Euro pro Jahr.
Text: Czaja, Wojciech, Wien
Bis in die 1990er Jahre hinein war Wien die älteste Großstadt der Welt. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung war über 60 Jahre alt. Als Kind hatte man es damals nicht gerade leicht. Man war auf der sozialen Blacklist, wurde von alten Leuten oft angepöbelt und in die Schranken gewiesen, und in der Erinnerung des Autors gab es kaum Orte in der Stadt, die die Jüngsten und Kleinsten mit offenen Armen empfangen hätten – mal abgesehen von Kinderspielplätzen und der damals stark wachsenden Fastfood-Kette McDonald’s, die mit ihren Ronald-Geburtstagspartys mangels Alternativen hoch im Kurs stand.
„In den Nachkriegsjahrzehnten war Wien wirklich nicht besonders kinderfreundlich“, blickt Julia Girardi-Hoog zurück. Sie ist Architektursoziologin und seit 2023 Gender-Planning-Beauftragte in der Stadtbaudirektion Wien. „Es gab zwar auch damals schon ein großes Angebot an Montessori- und Waldorf-Pädagogik, aber generell standen die Vorzeichen auf Bildung und Disziplinierung. Wien war eben eine durchregulierte Top-down-Stadt. Nach einer Freiheit und Bottom-up-Kreativität, wie sie damals in Berlin herrschte, hat man in Wien vergeblich gesucht.“ Vielleicht habe das damit zu tun, dass Wien auch damals schon etwas gemütlicher und etwas wohlhabender war und sich weniger im politischen Umbruch befand als die neue deutsche Bundeshauptstadt kurz nach der Wende. „Dennoch ist diese überraschend starke Entwicklungsdelle in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur schwer nachvollziehbar“, meint Girardi-Hoog „Schließlich war Wien vor rund 100 Jahren ohne jeden Zweifel die kinderfreundlichste Metropole der Welt! Das Rote Wien bestand aus gut ausgestatten Gemeindebauten mit Spielplätzen, Kunstwerken, Theaterbühnen, Werkstätten und Kindertagesstätten. Vor allem aber wurde damals – weltweit einzigartig in dieser Form – in öffentlichen Parks und in großen Wohnhausanlagen eine ganze Reihe an Kinderfreibädern errichtet.“
Im Roten Wien gab es vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs rund 25 Kinderfreibäder, verteilt auf fast alle Bezirke. Einige davon sind bis heute in Betrieb. Der Eintritt bis zu einem Alter von 14 Jahren ist nach wie vor kostenlos, erwachsene Begleitpersonen zahlen 3,90 Euro. Die Initiative geht auf den Mediziner und Sozialpolitiker Julius Tandler zurück, der sich für die Gesundheit und das physische wie auch psychische Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen engagierte und der 1923 sogar das erste Familienzentrum der Gemeinde Wien gründete – mitsamt Kinderübernahmestelle zu vorübergehenden Unterbringung und Weitervermittlung von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen.
„An diese Tradition des Roten Wiens, in dem die bürgerliche Arbeiterfamilie ganz generell, vor allem aber auch das Kind und die jugendliche, adoleszente Person in den Mittelpunkt gestellt und mit höchsten Respekt behandelt wurde, knüpfen wir als kinderfreundliche Großstadt heute wieder an“, so Girardi-Hoog. Mit dem Fokus auf Gender-Planning, einer eigens eingerichteten Stabsstelle durch die damalige Gender-Beauftrage Eva Kail und Pionierwohnbauten wie etwa der Frauen-Werk-Stadt in Wien-Floridsdorf (1995 bis 1997) ist es gelungen, das Thema in die breite Masse und vor allem auch in die Medien zu bringen.
„Ich traue mich zu sagen: Seit damals geht es mit der Inklusion, Gender-Sensibilisierung und Kinder- und Jugendfreundlichkeit in dieser Stadt steil bergauf“, so Girardi-Hoog. Mit 1760 öffentlichen Spielplätzen (Statistik Wien, Stand 2024) – vom Kleinkinderspielplatz über Ballspielkäfige bis hin zu Skaterparks, Motorik-Parcours und generationenübergreifenden Wald- und Wasserspielanlagen – weist Wien eine außerordentlich hohe Dichte an urbanen, öffentlich zugänglichen Sport- und Entertainment-Anlagen auf. Viele davon sind barrierefrei gestaltet und können auch mit Rollstuhl und Assistenz genutzt werden. Zum Vergleich: Berlin verfügt bei doppelter Bevölkerungsanzahl und mehr als doppelter Gemeindefläche über rund 1900 Spielplätze.
Endlich keine Angst vor Ertrinken
Doch das Leben ist kein Spielplatz. Fragt sich also: Wie sieht Wien, das sich das ehrgeizige Ziel gesetzt hat, die kinderfreundlichste Großstadt der Welt werden zu wollen, abseits von Rutsche, Schaukel, Kletterturm aus? Tatsächlich wurden auch hier erhebliche Maßnahmen unternommen, um auf stadtplanerischer wie auch kuratorisch-programmatischer Ebene Kinder und Jugendliche aller Altersstufen mitzudenken. Das Angebot reicht von Brunnen, Nebelduschen und Wasserspielen, die über viele Jahre aus Haftungs- und Sicherheitsgründen fast völlig aus der Stadt verschwunden sind (Stichwort: Ausrutschen und Ertrinken), bis hin zu Sitz- und Liegemöglichkeiten in unterschiedlichen Größen und Höhen, verteilt auf Plätze, Straßenräume und Parkanlagen.
Bei den großen Schulcampus-Anlagen in den Stadterweiterungsgebieten Nordbahnhof, Sonnwendviertel und Seestadt Aspern hat die Stadt Wien beispielsweise das Mobilitätsverhalten der jungen Bürger*innen unter die Lupe genommen – und herausgefunden, dass gerade in den großen Flächenbezirken mit zum Teil langen Distanzen zwischen Wohnort und Schule überdurchschnittlich viele Kids mit dem E-Scooter unterwegs sind. Eigene Parkplätze auf dem Schulvorplatz mit Einstell- und Absperrmöglichkeit sind hier bereits Teil der Standard-Ausstattung. Oder auch die Mehrfachnutzung der Schulfreiflächen: An den Nachmittagen und Wochenenden sowie in den Schulferien werden die Tore und Absperrzäune geöffnet und ermöglichen auf diese Weise die öffentliche Nutzung der Schulgärten und Schulsportplätze.
Eine Bühne nur für Mädchen
Ein besonders ambitioniertes und kontrovers diskutiertes Projekt findet sich am Reumannplatz in Wien-Favoriten. Der nach dem sozialdemokratischen Bürgermeister Jakob Reumann (1853–1925) benannte Platz ist Zentrum eines sehr migrationsreichen Teils von Wien, eine Art Kreuzberg und Neukölln im Taschenformat, und wurde lange Zeit vor allem von männlichen Jugendlichen genutzt. Die Lokale Agenda 21 hat sich zum Ziel gesetzt, dies zu ändern und startete einen Partizipationsprozess, in den gezielt Kinder, Jugendliche und Frauen aller Altersgruppen integriert wurden. Die Ergebnisse davon bildeten die Basis für ein umfassendes Umbauprojekt, das vom Wiener Büro Tilia Landschaftsplanung begleitet und umgesetzt wurde.
Teil des Projekts ist die partielle Umbenennung des Platzes in „Reumädchenplatz“ mit einer eigens für diese Nutzerinnengruppe errichteten Mädchenbühne, die die Wahrnehmung von Mädchen im öffentlichen Raum stärken soll. Die mit einer Pergola überdachte Bühne dient als Veranstaltungsfläche für Musik und Tanz und wird darüber hinaus von der Lokalen Agenda 21 und den angrenzenden Schulen und Gebietsbetreuungen kuratiert und mit einem umfassenden Kinder- und Jugendprogramm kulturell und sportlich bespielt. Fünf Jahre nach Fertigstellung funktioniert das Konzept noch immer.
„Was Wien in seiner Kinderfreundlichkeit auszeichnet“, sagt Julia Girardi-Hoog, „geht über das rein Bauliche und Architektonische aber noch weit hinaus. Das beinhaltet auch kostenlose Kinderbetreuung, die Wiener Kinder- und Jugendstrategie sowie ein umfangreiches Sommerprogramm wie etwa die Kinderuniversität oder die Summer City Camps, wo die Kids um 80 Euro pro Woche Crash-Kurse zu Graffiti, Videoschnitt oder gesundem Garteln, Kochen und Essen bekommen.“ Bei großen Stadt- und Freiraumplanungen werden Kinder und Jugendliche zudem immer wieder partizipativ miteinbezogen – etwa bei der Planung eines naturnahen Erlebnisspielplatzes in Hietzing oder bei einem Mehrfachnutzungsprojekt im Bezirk Leopoldstadt.
Größtes Highlight jedoch ist die sogenannte „Kinder- und Jugendmillion“, die seit 2021 (nahezu jährlich) vergeben wird. Im Rahmen eines Wettbewerbs können Kinder und Jugendliche zwischen 5 und 20 Jahren sowie Gruppen, Vereine, Schulen und Kindergärten stadtplanerische Konzepte einreichen, die mit Expert*innen und Bezirksvertreter*innen der Stadt Wien im Rahmen von Workshops ausgearbeitet und konkretisiert werden. In Form einer Online-Abstimmung werden schließlich jene Siegerprojekte gekürt, die die Stadt Wien mit den jungen Autor*innen umzusetzen hat. Zu den bisher realisierten Projekten zählen etwa Klettersteige, essbare Stadtbepflanzungen und Parkgestaltungen für Blinde und Rollstuhlfahrer*innen, aber auch queere Initiativen, Kooperationen mit Lehrlingszentren sowie ein Konzept namens „Flopsy“ für niederschwellige psychologische Hilfe in bestehenden Jugendzentren.
Auf dem Weg zur Superlative?
„Viele junge Leute finden diese Stadt zum Bereisen einfach cool. Und auch für die Wiener*innen selbst bietet die Stadt einen außergewöhnlich kinder- und jugendfreundlichen Dialog auf Augenhöhe,“ sagt Julia Girardi-Hoog. Wie kinderfreundlich ist Wien auf einer Skala von 0 bis 10? „Aus Verwaltungssicht würde ich sagen: Leider nicht 10, aber 9.“ Dringenden Nachholbedarf, so die Gender-Planning-Beauftragte, gebe es noch im Bereich kindgerechter und kinderfreundlicher Teilhabe am städtischen Verkehr.
2024 hat die Stadt Wien bei der UNICEF einen Zertifikationsprozess zur „Kinderfreundlichen Stadt“ gestartet. Und das ist noch lange nicht genug. Nicht weniger als die Superlative ist angestrebt: Wien will kinderfreundlichste Großstadt der Welt werden. Alles sehr toll, allerdings sind an dieser Stelle zwei kritische Fragen vonnöten. Erstens: Wozu überhaupt der internationale Wettbewerb? Und zweitens: Ist ein potenzieller Platz 1 wirklich gerechtfertigt, wenn Wien zwar vorbildliche Top-down-Stadtpolitik betreibt, aber informellen Bottom-up-Initiativen tendenziell den Rücken kehrt? Die UNICEF wird diese Frage demnächst beantworten.







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