Bauwelt

Milano, jenseits des Lockdowns

Ein Jahr später: Wie hat sich die europäische Metropole, die als erste hart von der Pandemie getroffen wurde, wieder erholt? Architektur und Design machen die Identität von Mailand aus, wie fanden beide Branchen wieder Kontinuität und Hoffnung?

Text: Acerboni, Francesca, Mailand

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    Kontrastreiches Mailand? Im Hintergrund der Ausstellungsturm der Fondazione Prada.
    Foto: Niko Goettsche

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    Kontrastreiches Mailand? Im Hintergrund der Ausstellungsturm der Fondazione Prada.

    Foto: Niko Goettsche

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    Foto: Salone del Mobile Milano

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    Foto: Salone del Mobile Milano

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    Mit über zwei Millionen Quadratmetern Ausstellungsfläche gehört die Fiera Mi­lano zu den größten Messegeländen der Welt. Die acht Gebäudeteile realisierte Studio Fuksas 2006, der stoffähnliche Baldachin, erstreckt sich über die gesamte Länge der Fiera.
    Foto: Matteo Cirenei

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    Mit über zwei Millionen Quadratmetern Ausstellungsfläche gehört die Fiera Mi­lano zu den größten Messegeländen der Welt. Die acht Gebäudeteile realisierte Studio Fuksas 2006, der stoffähnliche Baldachin, erstreckt sich über die gesamte Länge der Fiera.

    Foto: Matteo Cirenei

Milano, jenseits des Lockdowns

Ein Jahr später: Wie hat sich die europäische Metropole, die als erste hart von der Pandemie getroffen wurde, wieder erholt? Architektur und Design machen die Identität von Mailand aus, wie fanden beide Branchen wieder Kontinuität und Hoffnung?

Text: Acerboni, Francesca, Mailand

„Wenn Sie ein Zelt aufstellen müssen, vielleicht angesichts eines Sandsturms, werden Sie alles tun, um die eisigen Stunden der Nacht zu ertragen und Sie werden den Komfort eines warmen Schlafsacks und einer Thermoskanne Tee suchen. So lernte ich, mir eine Insel zu bauen. Eine Insel, die ich mir in jeder beliebigen Welt bauen könnte” Nanda Vigo, Designerin und Künstlerin.
Von 2020 bis heute ist in Italien eine Generation von Giganten verstorben: der Architekt Vittorio Gregotti, der Designer Enzo Mari – während der Arbeit an einer Ausstellung für die Triennale di Milano – und die Kunstkritikerin Lea Vergine, seine Lebensgefährtin; Nanda Vigo, visionäre Designerin, Künstlerin der Avantgarde der 1960er Jahre; der Kunstkritiker Germano Celant, Vater der „Arte povera“; und andere Vertreter der Designszene: Enrico Astori, Gründer der Designerfirma Driade; Manlio Armellini, Herz und Seele des Salone del Mobile; der Architekt Jacopo Gardella, der das kulturelle Erbe seines Vaters Ignazio weiterentwickelt und der Designer und Publizist Marco Romanelli. Dank dieser außergewöhnlichen Persönlichkeiten und vieler anderer, die sich entschieden haben in Mailand zu leben und zu arbeiten, konnte sich in der Stadt diese einzigartige Mischung aus kulturellem Nährboden und unternehmerischer Kraft entwickeln, die stets nach vorne blickt: auf Innovationen und internationalen Austausch.
Nach Monaten ohne jegliche kulturellen Aktivitäten in der Stadt musste auch eine der berühmtesten Messen der Welt um ein Jahr verschoben werden: die Salone del Mobile, ein Inkubator von Ideen und ein kommerzieller Motor seit mehr als einem halben Jahrhundert und ein Treffpunkt für die wichtigsten Akteure der Designbranche. Im September wird die 60. Ausgabe des Salone wieder stattfinden, mit einem erneuerten Programm und erweitertem Sicherheits- und Hygienekonzept.
„Die Rolle des Designers wird sich grundlegend verändern und weiterentwickeln, man wird sowohl Verhaltensweisen entwerfen als auch Produkte“, sagt die spanische Designerin Patricia Urquiola, die in Mailand lebt und arbeitet, „im Produktdesign wird es immer wichtiger werden, die Kreislauffähigkeit mitzudenken. Es wird erforderlich, sich mehr auf die Bedeutung und den Gebrauch von Objekten zu konzentrieren als auf ihren Besitz und darauf, wie wir Räume organisieren, die zunehmend hybrid werden.“ Neue Lebens- und insbesondere Arbeitsformen − vom Homeoffice bis zur Unternehmenszentrale −müssen neu organisiert werden, um sich den veränderten Bedürfnissen anzupassen: „Die Herausforderung wird sein, sie absolut sicher und kompatibel zu machen, wobei die emotionale Seite dank Materialien und Farben im Vordergrund steht.“ Nachhaltigkeit, Bindung und neuartige Stil- und Materialforschung ermöglichen Nischenmarken wie Colé Italia, qualitativ hochwertige Ergebnisse bei der Herstellung zeitgenössischer Möbel im Sinne der Tradition zu erzielen. (Altagamma Auszeichnung 2020 – „Giovani Imprese – Believing in the Future”).

Welche Identität hat Mailand? Und welche strebt sie an?

Das kürzlich erschienene Buch „Modell Mailand? Eine Forschung über einige große urbane Transformationen der letzten Zeit“ (Maggioli editore, 2020), des Planers Alberto Bortolotti, befasst sich mit der post-industriellen Stadt, die eine starke Ausrichtung auf Dienstleistungen und die Sharing Economy hat – von Co-Housing zu Shared Mobility, vom Auto zum Roller −, mit dem Kontrast zwischen dem historischen Zentrum mit den bedeutenden Kirchen, Palazzis und den Gärten des 19. Jahrhunderts, und der Skylines, die neue Viertel wie Porta Nuova, City Life, Cascina Merlata prägen. Mailand erlebt seit über einem Jahrzehnt einen enormen Wandel, der durch die EXPO 2015 noch verstärkt wurde.
Die großen städtebaulichen Veränderungen haben nie aufgehört; Mailand beteiligte sich auch an der internationalen Ausschreibung „C40-Reinventing Cities“, zusammen mit 18 anderen Großstädten wie Madrid, Paris, Chicago, Dubai, Montreal, Singapur, Rio de Janeiro, um Umwelt- und Stadterneuerungsprojekte an sieben Brennpunkten der Stadt umzusetzen.
Zu den laufenden Projekten gehört auch die Umnutzung von Bahnhöfen: einer der großräumigsten Stadterneuerungspläne in Europa, der Mailand in den nächsten zwanzig Jahren mit der nachhaltigen Sanierung von über einer Million Quadratmetern auf den verlassenen Gleisflächen von sieben großen Bahnhöfen. Sie sollen zu neuen lebendigen Zentren der Stadt werden. Der Umsteigebahnhof Porta Romana wird zum Olympischen Dorf für die Winterspiele Mailand-Cor­ti­­-na 2026, die Nachnutzung ist für studentisches Wohnen bestimmt. Die Büros Stefano Boeri und Diller Scofidio + Renfro konnten gerade den Wettbewerb für Pirelli 39 für sich entscheiden, das an Porta Nuova angrenzende Gebiet: Das Projekt sieht die Wiederherstellung zweier bestehender Gebäude vor: des Turms und des Brückengebäudes an der Via Melchiorre Gioia, zusammen mit dem Bau eines neuen Turms. Der Brückenbau soll in einen botanischen Knotenpunkt (eine Art High-Line, die mit dem Park Biblioteca degli Alberi von Petra Baisse verbunden ist) umgewandelt werden und das Pirelli-Hochhaus von Gio Ponti und Pier Luigi Nervi soll an Nachhaltigkeitsstandards gemäß den EU-Leitlinien angepasst werden. Kann das Mailands angemessene Antwort auf die ökologische Herausforderung sein?
Paolo Mazzoleni, Architekt und Präsident der Architektenkammer von Mailand, beschäftigt sich eingehend mit der aktuellen Entwicklung der Stadt: „Mit der Pandemie sind 2020 die Grenzen des Entwicklungsmodells, das das Wachstum der letzten Jahre aufrechterhalten hat, mit schonungsloser Härte zutage getreten: das Missverhältnis zwischen Einkommen und Lebens­haltungskosten, das Ungleichgewicht zwischen Vierteln, die Monofunktionalität einiger Stadtteile. In Mailand wie auch anderswo haben die Pandemie und ihre Auswirkungen auf unser Verhalten gezeigt, wie wertvoll öffentliche Räume sind, wie entscheidend die Qualität der Häuser, in denen wir wohnen, wie komplex die Umgebung ist, in der wir arbeiten.“ Es entsteht eine Stadt, die sich die Plätze von den Autos zurückholt. Das taktische Stadtplanungsprojekt der Gemeinde „Piazze aperte“ strebt danach bürgernah zu sein, nachhaltige Mobilität zu etablieren und lebenswertere Stadtparks und zugängliche ländliche Gebiete nur wenige Kilometer vom Zentrum entfernt zu erschließen: Der Landwirtschaftspark Süd-Mailand mit seinen Abteien und Bauernhäusern ist ein Beispiel dafür. „Große und neue Anstrengungen werden notwendig bei der Integration der Metropolregion − sowohl funktional als auch sinnlich −, damit das Bild einer kleinen, dichten und geschichtsträchtigen Stadt aufhört, ein Kritikpunkt zu sein, sondern endlich zu einer Ressource wird“, so Mazzoleni weiter.
Das aktuelle Buch von Pierfrancesco Sacerdoti „Via Dante in Mailand. Eine Straße und ihre Architektur in der europäischen Stadt des 19. Jahrhunderts“ (Gangemi, 2020) analysiert in historisch-kritischer Form die Achse der Via Dante als urbanes Ensemble in der Beziehung zwischen Architektur und öffentlichem Raum, der Typologie und der Straße als Ordnungsprinzip der Stadt. Ein Thema, das viele italienische Städte gemeinsam haben und ein allgegenwärtiger – wenn auch oft vergessener – Leseschlüssel ist, der interessante Perspektiven für die Entwicklung Mailands und ganz allgemein für europäische Städte eröffnen kann.

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