Bauwelt

Innere Häuser

Ende 2025 offenbarte der neue Sozialbericht des Berliner Senats, dass 20 Prozent der Stadtbevölkerung armutsgefährdet sind. Kurz zuvor erregte an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch die Premiere des Diplomprojekts „Innere Häuser“ fachübergreifendes Interesse. Darin befassten sich die Regisseurin Linda Glanz und die Dramaturgin Marianna Wicha mit der Wohnungslosigkeit von Frauen. In dem dokumentarisch-fiktionalen Theaterstück teilen vier Personen ihre Erfahrungen. Den Anfang macht Janina. Es folgt ein Originalauszug aus der aufrüttelnden Gesellschaftkritik, die noch eine Bühne für die nächste Spielzeit sucht.

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Im ersten Teil von „Innere Häuser“ spielt Janina sich selbst. Von Oktober 2023 bis September 2025 lebte sie ohne Wohnung und verbrachte die meiste Zeit in Regionalzügen und auf Bahnhöfen.
Foto: Edgar Zippel

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Im ersten Teil von „Innere Häuser“ spielt Janina sich selbst. Von Oktober 2023 bis September 2025 lebte sie ohne Wohnung und verbrachte die meiste Zeit in Regionalzügen und auf Bahnhöfen.

Foto: Edgar Zippel


Innere Häuser

Ende 2025 offenbarte der neue Sozialbericht des Berliner Senats, dass 20 Prozent der Stadtbevölkerung armutsgefährdet sind. Kurz zuvor erregte an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch die Premiere des Diplomprojekts „Innere Häuser“ fachübergreifendes Interesse. Darin befassten sich die Regisseurin Linda Glanz und die Dramaturgin Marianna Wicha mit der Wohnungslosigkeit von Frauen. In dem dokumentarisch-fiktionalen Theaterstück teilen vier Personen ihre Erfahrungen. Den Anfang macht Janina. Es folgt ein Originalauszug aus der aufrüttelnden Gesellschaftkritik, die noch eine Bühne für die nächste Spielzeit sucht.

JANINA
1 Löwenzahn
Stehend J Herzlich willkommen, schön, dass ihr da seid. Diese Landkarte und das Zugabteil spiegeln meine verdeckte Obdachlosigkeit in ganz Deutschland wider. Davon möchte ich euch heute erzählen.
Vorher eine Sache. Egal wie tief man gesunken ist, es gibt immer wieder Glücksmomente, man muss sie nur entdecken. Ich lebte in einem besetzten Haus. Es gab keinen Strom, kein Warmwasser. Aber ich dachte mir: „Ey, das Wetter sieht scheiße aus und du musst nicht raus.” Einfach Glücksmoment. Stellt euch vor, überall platzt der Beton so ein bisschen auf und der Löwenzahn ploppt raus. „Unkraut vergeht nicht.”
Eine meiner glücklichsten Zeiten waren die Störtebecker Festspiele. Und hier beginnt die Geschichte.
2 Kündigung, Zwangsräumung
Stehend Auf die Idee mit den Störtebeker Festspielen kam zuerst mein Sohn. 2019, wir wohnten damals in Stralsund, das ist wo ihr da hinten seid. Wir waren beim Casting und plötzlich stand ich auf der Bühne als Kleindarstellerin und habe gleichzeitig an der Theaterkasse gearbeitet. Das war für mich immer so schön. Ihr seid wie eine große Familie. Und dann habt ihr 2023 einen Scheißtag. Ihr geht ganz normal zur Arbeit, holt die Kasse aus dem Schrank. Sind anstatt 500 € nur noch 12,50 € drin. Letztendlich hat euch der Chef unterstellt, ihr hättet das Geld genommen, er würde aber auf eine Anzeige verzichten, wenn ihr einer Kündigung im Einverständnis zustimmt. Ihr stimmt nicht zu und zeigt den Diebstahl selbst bei der Polizei an. Das hilft aber auch nichts. Stellt euch vor, ihr habt keinen Job und auch keine Kündigung. Deswegen können die Ämter auch nichts ausfüllen und ihr könnt kein Geld beantragen. August keine Miete, September keine Miete. Oktober werdet ihr zwangsgeräumt und ihr verliert alles. An dem Tag, an dem zwangsgeräumt wird, seid ihr nicht da. Ich habe auch gedacht: „Das wird schon nicht passieren, dass ich die Wohnung verliere.” Heute denke ich: „Es kann jeder Person passieren. Wirklich jeder.”
3 Verheimlichen
Wir befinden uns jetzt in Berlin bei dem Vater von meinem Sohn. Er wusste Bescheid, warum ich den Job verloren habe. Nur von der Zwangsräumung habe ich ihm nichts erzählt. Und das war wirklich ein großer Fehler. Als er das durch unseren Sohn erfahren hat, war das Theater natürlich groß. Gleich mit Trennung und Bumm. Raus.
„Was macht ihr jetzt?”
Ihr geht also zu einer Sozialarbeiterin in
Ber­­lin und sie ruft dann in Stralsund an und sagt:
„Sie sind zuständig, die Frau unterzubringen.” Nee, sie fühlen sich nicht zuständig. Und stellt euch vor, sie legen wirklich auf. „Also, jetzt reicht’s mir!” – habe ich gesagt und ich bin durch Deutschland gefahren. Holt sich ihren Rucksack, setzt sich hin und bittet ein bis zwei Personen sich mit ihr ins Bahn-Abteil zu setzen
4 Zugfahren
Also guckt ihr einfach im Internet: Welche Züge könnt ihr nehmen, sodass ihr nachts vier bis sechs Stunden schlafen könnt? Ein bisschen Geld hatte ich noch, sowie das digitale Deutschlandticket. Wichtig war natürlich immer, dass es in den Zügen Strom gab und dort konnte ich mich auch umziehen, kostenlose Toiletten gabs auch. Zum Essen kaufte ich mir einfach Brot und ein Paket Wurst, weil das am billigsten war. An großen Bahnhöfen oder Flughäfen findet man Duschen für 10 €, es gibt Waschsalons zum Wäsche waschen. Reibt Zeigefinger und Daumen zusammen (Geld Symbol) Gebettelt habe ich nie.
Tagsüber habe ich mir Orte angeschaut. Ich habe den nördlichsten Punkt Deutschlands, da bei dir im grünen T-Shirt, im tiefsten Schnee erlebt. Drei Tage später war ich am südlichsten Punkt Deutschlands und suchte den Schnee. Und dann bin ich einfach hin- und hergefahren. Zeigt von der einen Person zur anderen
Föhr. Amrum. Nürnberg. München. Garmisch-Partenkirchen. Köln. Mittenwald. Koblenz. Trier. Bonn. Aachen. Oberstdorf, wo man nicht hinreisen sollte, wenn gerade die Vierschanzentournee ist. Wismar. So schön finde ich Wismar gar nicht. Hat eine direkte Verbindung mit Berlin, kann man gut schlafen. Koblenz. Dresden. Mainz. Köln. Frankfurt. Hannover. Bremen. Roßlau. Bremerhaven. Hamburg. Sylt. Sylt fand ich toll. Es gibt so eine Krimireihe, die ich gerne höre, die auf Sylt spielt. Das ist so eine italienische Mamma. Und ihre Tochter hat auf Sylt einen Kriminalkommissar geheiratet. Ich habe mir dann also spät abends auf Sylt, den ersten Band angemacht. Und dann habe ich gesehen, hier ist ja wirklich der Telekom-Turm Zeigt drauf und da hinten
stehen wirklich Baucontainer. Zeigt drauf Und irgendwann: „Dann muss da der Mord passiert sein!” Zeigt drauf Und dann: „Ey, sag mal, du rennst um Mitternacht mutterseelen-alleine über Sylt und hörst dir den Mordfall auf Sylt an?!”
Keiner wusste, dass ich obdachlos war. Wenn mich jemand fragte: „Och, ich nutze das Deutschlandticket.” Es geht vielen Frauen so. Wir versuchen unsichtbar zu bleiben. Schamgefühl. In dieser Zeit redete ich kaum mit jemandem.
Außer in Köln, da quatschte mich plötzlich einer an: „Du bist ja gar nicht verkleidet. Heute ist Weiberfastnacht.” „Doch, ich bin eine Obdachlose.” Der dachte, ich will ihn verarschen: „Dann musst du doch anders aussehen.” „Nein, muss ich nicht.”
5 Diebstahl
Setzt Kopfhörer auf und man hört das Hörbuch, schaut aus dem Fenster, schläft ein. Das Hörbuch geht aus, Licht wird dunkler, geht kurz aus. Sie wacht auf, sucht das Handy. Das Handy ist nicht da, Kopfhörer sind lose.
„Kann doch gar nicht sein. Ich habe das Hörbuch gerade erst gestartet. Kopfhörer sind noch drin, aber das Handy? Spurlos verschwunden!” Hält die Kopfhörer ohne Handy in der Hand, stehend In der Hülle vom Handy war alles drin und vor allen Dingen das digitale Deutschlandticket. Ich bin mitten in der Nacht in Kassel gestrandet und auf dem Bahnhof geblieben, wo ich überhaupt nicht sein wollte. „Jetzt brauchst du Hilfe.” Ich bin also zum ersten Mal zu einer Bahnhofsmission gegangen.
6 Berliner Hilfesystem
Mit der Diebstahlanzeige konnte ich zurück nach Berlin fahren. Es war bitterkalt. So ein Jungscher kam dann auf mich zu, der Spenden sammelte. „Sie sehen so nett und sympathisch aus.” „Ich bin weder nett, sympathisch noch sonst irgendwas gerade.” Und der lässt nicht locker, der fragt weiter nach und meint: „So, jetzt rufen wir den Kältebus!” Und dadurch seid ihr dann letztes Jahr im Januar zum ersten Mal in Berlin zu einem Notschlafplatz gelandet. Da könnt ihr vier Wochen bleiben. Bei der Sozialarbeiterin heißt es: „Naja. Haben Sie denn eigentlich Geld?” „Ja, aber ich komme nicht ran! Kein Ausweis, keine Bankkarte, nichts.” Sie druckt euch einen: 10 € der vorläu­fi­ge Ausweis, 10 € die Passbilder, 13 € Bearbeitungs­gebühr, wenn man nicht in Berlin gemeldet ist. „33 €. Du hast kein Geld.” Also fangt ihr an Flaschen zu sammeln.
Drei Wochen später kommt ihr in eine neue Unterkunft. Und da hat mir eine andere Sozialarbeiterin gesagt: „Das ist alles kein Problem. Sie kriegen jetzt von mir eine Mittellosigkeitsbescheinigung und dann kostet das alles nichts.” „Darf ich Sie jetzt mal was fragen? Weiß das jede Sozialarbeiterin?” „Ja, das weiß jeder.”
Ganz schnell hatte ich meine Ausweise und Karten zurück und konnte endlich Bürgergeld beantragen. Ich habe nur immer dagesessen: „Das hättest du drei Wochen früher haben können!”
Von da an kommt ihr in ein Wohnheim. Dort müsst ihr ständig Angst haben, dass ihr rausgeschmissen werdet. Es gibt verschimmelte Bäder. Ihr denkt oft darüber nach, das Gesundheitsamt zu rufen, aber was ist, wenn das Wohnheim geschlossen wird.
Es gibt dort immer wieder Probleme, die Sozialarbeiter beschuldigen jeden. Ihr werdet sogar genötigt, einen Zettel zu unterschreiben: Falls etwas auf der Etage vorfallen sollte und ihr anwesend seid, kriegt ihr die fristlose Kündigung. Eines Abends geht wieder der Feueralarm los. Und ich sagte mir, ich gehe nicht raus. Ich bin gar nicht da. Bis ich den Rauch roch. Am nächsten Morgen um 11 klopfte es an die Tür und 3 Sozialarbeiter stehen vor der Tür: Klopft an die Stuhllehne, steht auf „Waren Sie gestern da?” „Ja.” „Bitteschön. Fristlose Kündigung.” Schmeißt die Besucher im Abteil raus, setzt Rucksack auf „Kein Bock auf die Scheiße hier.” Also habe ich meinen Ruckack genommen und bin wieder durch Deutschland gefahren. Setzt sich hin
7 Netzwerk und Utopie
Ihr habt jetzt viel über mich erfahren, durch das Zugabteil und die Landkarte. Ich möchte euch nun etwas über den Grundriss dort drüben erzählen.
Ihr habt eine Zwangsräumung hinter euch. Vorher habt ihr versucht bei den Ämtern etwas zu reißen und meistens funktioniert es nicht. Ihr habt kein Vertrauen mehr in die Ämter und dann entsteht ein Netzwerk. Ich denke mir, vielleicht ist es besser, wenn wohnungslosigkeits- und obdachlosigkeitserfahrene Menschen sich selber organisieren. Das kann der Staat ja fördern.
Anfang Januar 2024 bekam ich Kontakt zur Wohnungslosenstiftung. Von ihnen bekam ich ein neues Handy, finanziert durch Spendengelder. Dadurch konnte ich mich einfacher sozial und politisch engagieren. Zum Beispiel beim digitalen Frauen*salon und bei der jährlichen Mahnwache gegen Obdach- und Wohnungslosigkeit. Zuletzt lernte ich bei einer Konferenz eine Frau kennen, die mir ein Angebot unterbreitete, mit dem ich nie gerechnet hätte. Im Rahmen ihrer Stiftung „Safe Housing for Women“ kauft sie sicheren Wohnraum für Frauen.
So wurde sie zu meiner Vermieterin. Ohne dieses Angebot hätte es wahrscheinlich noch Jahre gedauert. Und da sind sie endlich, meine sicheren vier Wände. Zeigt auf den Grundriss Ich werde bestimmt auch wieder Rückschläge haben, aber ihr wisst schon: Wie beim Löwenzahn, Unkraut vergeht nicht! Geht zurück zum Abteil und setzt sich
Egal, ob ihr Vermieterinnen seid, Sozialarbeiterinnen, oder auf der Straße wohnungslosen Menschen begegnet, ganz wichtig ist, dass ihr kapiert, wir sind keine Menschen zweiter Klasse. Wir sind Menschen wie du. Und du... Redet mit uns, nicht über uns. Und damit geht meine Erzählung zu Ende. Habt ihr noch Fragen?

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