Bauwelt

Flucht aus der harten Realität

Im Kunstmuseum Wolfsburg lösen 110 utopische Positionen schlichte Sehnsüchte aus

Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig

Eventteaser Image
  • Social Media Items Social Media Items

Hinter einem Feld aus gusseisernen Sternen „Firmament II“ von Stephan Huber und Raimund Kummer (1991) läuft der Film des slowa­kischen Künstlerduos Anetta Mona Chişa und Lucia Tkáčov „Try Again. Fail Again. Fail Better.“ (2011)
Foto: Marek Kruszewski

  • Social Media Items Social Media Items
Hinter einem Feld aus gusseisernen Sternen „Firmament II“ von Stephan Huber und Raimund Kummer (1991) läuft der Film des slowa­kischen Künstlerduos Anetta Mona Chişa und Lucia Tkáčov „Try Again. Fail Again. Fail Better.“ (2011)

Foto: Marek Kruszewski


Flucht aus der harten Realität

Im Kunstmuseum Wolfsburg lösen 110 utopische Positionen schlichte Sehnsüchte aus

Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig

Historisch betrachtet, war das Aufkommen von Utopien meist eng mit der Unzufriedenheit über eine als negativ empfundene Gegenwart verbunden. So lautet der allererste Satz im einleitenden Text der Begleitpublikation zur Ausstellung „Utopia. Recht auf Hoffnung“ im Kunstmuseum Wolfsburg. Zynisch gesagt, müsste es in unseren an Kriegen, Krisen, Klimakatstrophen und dem Erodieren politischer Verlässlichkeitenso reichen Zeiten ja nur so strotzen vor Utopien. Dem aber ist nicht so, zumindest kommt die Ausstellung nicht mit visionären Heilsversprechen daher.
Vielmehr bedarf es viel Zeit, um sich auf rund 110 Werke von 59 Kunstschaffenden und Kollektiven einzulassen, auf Malerei, Fotografie, Zeichnung, Grafik, Skulptur oder auch Keramik sowie Videoinstallationen. Und viele der assoziativen Versuche und Beiträge zum Thema, kommen nicht aus Westeuropa. Obwohl hier einst – einge­- denk des britischen Juristen, Diplomaten und Philosophen Thomas Morus (ca. 1478–1535) – der Topos „Utopia“ entsprang: das Idealbild einer fernen Gesellschaft sowie die Satire der gegenwärtigen. Und hier blühten auch, wenn nicht zwangsläufig real existierend, Bau-Utopien gemeinschaftlichen Lebens in französischen Familistères, deutschen Einküchenhäusern oder Kommunehäusern eines sowjetischen Konstruktivismus. An den Konstruktivismus erinnert auch das kleine Drahtmodell der russischen Gruppe Chto Delat, das etwas verloren am Zutritt der Ausstellung steht. Die Losung Lenins „Was tun“ zum Gruppenlabel erkoren, appelliert ihre Miniatur des Monuments der III. Internationale, von Wladimir Tatlin anno 1920 als 400 Meter hoher, in der Erdneigung dynamisierter Turm gedacht, daran, nach dem Scheitern des sozialistischen Traums nicht die Hoffnung auf eine bessere Welt aufzugeben.
Weiteren historischen Bauutopien widmet sich Jordi Colomer aus Barcelona. Ihn interessiert die Verbindung aus Architektur, städtischem Raum und philosophisch-sozialutopischer Fik­tion. Er lässt in partizipativer Performance die Phalanstère von des frühsozialistischen Denker Charles Fourier als Pappmodell auferstehen wie auch Yona Friedmans Stadtvisionen aus den 1970er Jahren.
OX2architekten aus Aachen schlagen konkret ausgediente Rotorblätter von Windrädern zum Wiederverwenden vor. Für den faserverstärkten Kunststoff gibt es kaum etablierte Recyclingverfahren. Warum nutzt man Windräder dann nicht als konstruktive Tragwerkselemente? Das Einsatzspektrum mit Rundhallen oder turmförmigen Bauten ist jedoch recht beschränkt. Einen Blickfang liefern das Pariser Studio Muoto und Georgi Stanishev. Ihr „Ball Theater“, 2023 für den französischen Pavillon der Architekturbiennale Venedig konzipiert, ist ein Hybrid aus überdimensionaler, halber Diskokugel und Arena und will zum Feiern wie auch ernsthaften Diskutieren animieren (Bauwelt 11.2023).
Viele Exponate widmen sich umgesetzten Mikro-Utopien. Die Schweizerin Ursula Biemann etwa dokumentierte filmisch Gerichtsverfahren ab dem Jahr 2012, eine Initiative von Indigenen aus Ecuador, die letztlich ein Schutzrecht des Urwaldes des von Abbauvorhaben bedrohten Amazonasgebiet erwarten. Der argentinische Performer Tomás Saraceno, zwischen 2014 und 2016 Vertretungsprofessor im Fachbereich Architektur der TU Braunschweig, unterstützt in seinem Heimatland indigene Gemeinschaften, die gegen den Lithiumabbau und seine Umweltschäden antreten. Er begleitete 2020 die ritualisierte Protestfahrt einer schwarzen Ballon-Skulptur, die einzig über die Selbsterhitzung durch die Sonne betrieben wurde. Ihr Slogan: Wasser und Leben sind mehr wert als Lithium.
Erstaunlich abgeklärt scheinen die Schulkinder, die der britischen Künstlerin Cornelia Parker von ihren Ängsten bezüglich Gesellschaft und Umwelt erzählen, aber auch wissen, was sie dagegen tun würden. Und der Naturaktivist und Kunstpädagoge, Hermann Weber, beschreibt in großen handschriftlichen Bildbänden eine ganz private Utopie: das mehrjährige Zusammenleben mit einer von ihm aufgezogenen und ausgewilderten männlichen Krähe und dessen Gefährtin.
Es sind also keine ästhetisch fantastischen Gedankenspiele mehr, in denen politische wie gesellschaftliche Missstände bildgewaltig aufgehoben werden, die Künstler heute bewegen, sondern kleinteilige, oft aktivistische Momente im Dienste multipler Transformation.
Im Ausstellungskatalog skizziert Kerstin Wolff, Professorin des Fachgebiets Architektur und Tragwerk der TU Berlin, eine ressourcensensible Bauwende. Sie soll nachwachsende Baustoffe einsetzen, Materialien in einer Kreislaufwirtschaft wiederverwenden oder gleich auf Neubau verzichten und stattdessen den Bestand umprogrammieren. Jede Baupraktikerin aber weiß, wie weit solche Ideen (noch) ferne Utopie sind. Ganz real lässt sich das nur wenige Schritte vom Kunstmuseum entfernt in Wolfsburgs Fußgängerzone erfahren: Auf einer „Flächensanierung“ alten Schlages entsteht der erste Bauabschnitt eines weiteren Einkaufsparadieses, das wirklich niemand mehr braucht.

0 Kommentare


loading
x
loading

26.2025

Das aktuelle Heft

Bauwelt Newsletter

Das Wichtigste der Woche. Dazu: aktuelle Jobangebote, Auslobungen und Termine. Immer freitags – kostenlos und jederzeit wieder kündbar.