Bauwelt

Elend mit vielen Facetten

Das Problem ist global, muss aber lokal gelöst werden: Eine Ausstellung des Münchner Architekturmuse­ums thematisiert die zunehmende Obdachlosigkeit und zeigt beispielhafte baukulturelle Antworten auf die Misere.

Text: Stock, Wolfgang Jean, München

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    Neonskulptur „The Glowing Homeless“, Brooklyn, 2011. Die Künstlerin Fanny Allié beschäftigt sich mit der Entmenschlichung von Obdachlosen.
    Foto: Fanny Allié

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    Neonskulptur „The Glowing Homeless“, Brooklyn, 2011. Die Künstlerin Fanny Allié beschäftigt sich mit der Entmenschlichung von Obdachlosen.

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    Erstes befristet genehmigtes Zeltlager für Obdach­lose vor dem Rathaus von San Francisco, 2020.
    Foto: Christopher Michel

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    Erstes befristet genehmigtes Zeltlager für Obdach­lose vor dem Rathaus von San Francisco, 2020.

    Foto: Christopher Michel

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    Blick in eins der Zimmer im „Vinzi Rast Mittendrin“, einem dauerhaften Wohnprojekt für ehemals Obdachlose und Studierende.
    Foto: Architekturbüro gaupenraub/Simon Jappel

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    Blick in eins der Zimmer im „Vinzi Rast Mittendrin“, einem dauerhaften Wohnprojekt für ehemals Obdachlose und Studierende.

    Foto: Architekturbüro gaupenraub/Simon Jappel

Elend mit vielen Facetten

Das Problem ist global, muss aber lokal gelöst werden: Eine Ausstellung des Münchner Architekturmuse­ums thematisiert die zunehmende Obdachlosigkeit und zeigt beispielhafte baukulturelle Antworten auf die Misere.

Text: Stock, Wolfgang Jean, München

Die Gründe sind vielfältig, die Folgen stets gleich: Menschen verlieren ihr Dach über dem Kopf. In der breiten Öffentlichkeit herrscht leider immer noch die Meinung, Obdachlose seien an ihrem Schicksal selber schuld, hätten sich als Drogensüchtige oder Alkoholikerinnen aus der Gesellschaft abgemeldet. Solche Fälle gibt es, doch ist das Thema längst ein Massenphänomen. Einer Schätzung zufolge sind in Deutschland bis zu einer Million Menschen obdachlos – und die Zahl droht durch die Corona-Pandemie weiter zu wachsen. Wer sich nicht vorstellen kann, wie rasch man in diese Situation kommen kann, der sollte sich den Film „Leben ohne Zuhause“ anschauen, der in der ZDF-Mediathek bis Anfang 2023 abrufbar ist. Abgesehen von Scheidung oder Trennung sind die Hauptgründe der Verlust des Arbeitsplatzes und die Kündigung der Wohnung, ohne eine neue bezahlbare zu finden. Das Überleben auf Straßen wie unter Brücken ist aber nur die öffentlich sichtbare Form des Problems, daneben gibt es die verdeckte Wohnungs­losigkeit. Im Film sind Menschen zu sehen, die Arbeit haben oder Rente beziehen und dennoch in Autos, Garagen oder Kellern hausen müssen.
Dieser Film kann als Einführung in die aktuelle Ausstellung des Architekturmuseums der TU München dienen, weil er deren Titel „Who’s Next?“auf Anhieb verständlich macht. Mit Unterstützung zahlreicher Expertinnen und Forscher von Daniel Talesnik umsichtig kuratiert, dokumentiert die Schau das weltweite Elend der Wohnungslosen. Menschen ohne eigenes Zuhause sind die wohl am wenigsten geschützten Mitglieder einer Gesellschaft. Zugleich werden an ihnen alle Fehler und Versäumnisse der Gesellschaft offenbar: nicht nur im Wohnungswesen, sondern auch in den Bereichen von Bildung, Gesundheit und Justiz.
Die Ausstellung ist so umfangreich und ergreifend, dass man zu ihrem Besuch einige Zeit mitbringen sollte. Im ersten Raum wird ein internationales Panorama aufgespannt. Von Los Angeles bis Mumbai werden acht Stadtbiografien gezeigt, von Wirtschaftszentren „die allesamt einen Grad von urbanem Wohlstand erreicht haben, der jeweils mit extremer Armut kollidiert“ (Talesnik). Keine dieser Städte liegt in Europa, weil dort der Wohlfahrtsstaat die Probleme wenigstens mildert. Die gezeigten Metropolen prägen ganz unterschiedliche Facetten. In San Francisco,wo die Tech-Firmen den Wohnungsmarkt ruiniert haben, findet die soziale Schande vor aller Augen statt. In New York City hingegen soll das Phänomen unsichtbar sein: Obdachlose, darunter viele Familien mit Kindern, werden in schäbige Notunterkünfte oder Sozialhilfehotels abgeschoben. Ähnliches gilt für Shanghai, wo der öffentliche Raum extrem überwacht, den Obdachlosen aber staatliche Unterstützung gewährt wird. „Zwischen Leugnung und Bürgerinitiativen“ lautet das Kapitel über Moskau, während Tokio den geringsten Anteil an Obdachlosen unter den Metropolen verzeichnet. Auch fünf Dokumentarfilme sind in der Ausstellung zu sehen. Auf jeden Fall sollte man „Down and Out in America“ aus dem Jahr 1986 anschauen – das Elend dauert dort schon seit Jahrzehnten an.
Unter der Fragestellung „Was kann Architektur bewirken?“ sind im zweiten Raum 19 Projek­te mit baukulturellen Antworten auf die Misere versammelt, fünf davon mit großen Modellen von Studentinnen und Studenten der TU München. Eine attraktive Präsentation mit einem Mangel: Für die obere Reihe der Texttafeln bräuchte man einen Giraffenhals. Die meisten der vorgestellten Häuser für Obdachlose stehen in den USA, immerhin drei Beispiele in Deutschland: Gebäude in Essen, Frankfurt am Main und Landsberg am Lech. Besonderes Augenmerk verdienen die beiden Wiener Entwürfe von Alexander Hagner und Ulrike Schartner: das „Vinzi Rast Mittendrin“ im 9. Bezirk sowie das Vinzi-Dorf, das soeben mit einem österreichischen Bauherrenpreis ausgezeichnet wurde. Am Ende der Schau wird die aktuelle Lage in zehn deutschen Großstädten mit Projekten und Institutionen dargestellt.
Nach der Ausstellung „Design-Build“ (Bauwelt 17.2020) ist „Who’s Next?“ wieder eine wichti­ge Schau im Münchner Architekturmuseum. Mit Nachdruck plädiert sie, auch im hervorragenden Katalogbuch, für das aus den USA stammende Konzept „Housing first“ – für den absoluten Vorrang der menschenwürdigen Unterbringung von Obdachlosen. In Helsinki, wo das dortige Programm die Zahl von 17.000 auf 4000 Menschen verringert hat, konnte die Stadt dadurch sogar sparen: etwa 15.000 Euro pro Person und Jahr.

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