Das Leben, ein Umzug
Dresden ehrt mit einer Dreifachausstellung William Kentridge zum Siebzigsten
Text: Schulz, Bernhard, Berlin
Das Leben, ein Umzug
Dresden ehrt mit einer Dreifachausstellung William Kentridge zum Siebzigsten
Text: Schulz, Bernhard, Berlin
Blasmusik erklingt. Die Menge setzt sich in Bewegung, zwängt sich aus dem Innenhof des Dresdner Albertinums hinaus ins Freie, dann hinauf zur Brühlschen Terrasse, wo es gleich darauf in die Kunstakademie hinein- und in deren Innenhof hinuntergeht. Die Menge drängt weiter, wieder hinaus und an der Frauenkirche vorbei. Bald ist die Augustusstraße erreicht, die beherrscht wird vom Fürstenzug, diesem 102 Meter langen Wandbild aus 23.000 Meissener Porzellanfliesen an der Außenwand des Stallhofs, die die 900- jährige Abfolge des Wettiner Herrscherhauses zeigen. Ist dieser Fürstenzug nicht so etwas wie das Vorbild des Umzugs, der zu seinen Füßen stattfindet, mit Blechbläsern und Pantomimen? Weiter geht’s, bis der Zug am Elbufer Halt macht, wo Schattenfiguren auf steinerne Wände projiziert werden, Silhouetten und Gesichter.
Das hat Dresden sicher noch nicht gesehen – und doch knüpft das Spektakel an Künstlerumzüge des 19. Jahrhunderts an. Der heutige Impresario heißt William Kentridge. Gerade 70 geworden, wird der südafrikanische Künstler in Dresden mit einer dreiteiligen Ausstellung der Staatlichen Kunstsammlungen unter dem Titel „Listen to the Echo“ geehrt, deren dritter Part, nämlich Figurinen für die Puppentheatersammlung, er mit dem Umzug selbst geschaffen hat, genauer: das von ihm mitbegründete „Centre for the Less Good Idea“. Ein irritierender Name, der einem südafrikanischen Sprichwort entstammt, demzufolge man im Fall von Misserfolg auf „die weniger gute Idee“ zurückgreifen solle. Im Albertinum sind zwei Videoinstallationen zu sehen, während im Kupferstichkabinett das grafische Werk an Zeichnungen und Drucken versammelt ist.
Umzüge, sind ein integraler Bestandteil der Kunst von Kentridge, sei es, dass er sie selbst veranstaltet, sei es, dass er sie in seinen Videos zum Leben erweckt. Die Grenzen zwischen Zeichnung, Video und realem Geschehen sind fließend, Musik gehört ebenfalls dazu, zumeist Musik seiner südafrikanischen Heimat, wie sie vor vierzig Jahren durch Paul Simons geniales Album „Graceland“ populär wurde.
William Kentridge stammt aus Johannesburg. Dort befindet sich auch das Centre, ein Kollektiv, das die Ideen umsetzt, die der Künstler in schwarzen Strichen skizziert. An mehreren Documentas hat Kentridge teilgenommen; besonders beeindruckten seine gezeichneten Filme bei der d11, die Okwui Enwezor 2002 ausrichtete. Darin ging es um Gewalt, um Schrecken, aber auch um Lebensfreude, eine schwer zu entwirrende Mischung, wie wohl Südafrika im Ganzen. Kentridge ist zu Zeiten der Apartheid aufgewachsen, hat sich an den blutig unterdrückten Protesten beteiligt. Sein Vater, Rechtsanwalt, verteidigte Nelson Mandela und Steve Biko.
Kentridge ist ohne Allüren. Stets tritt er im weißen Hemd auf, ein älterer Herr; er spricht uneitel, so auch im Albertinum. Dort sind zwei gigantische Videoarbeiten zu sehen, auf jeweils sieben leicht gegeneinander gestaffelten Leinwänden, technisch perfekt. Um sie zu erfassen, muss man die Leinwände abschreiten – schon wieder das Motiv der Prozession, das sich in der 2015 entstandenen Arbeit „More Sweetly Play the Dance“ wiederholt, als gezeichnete Figuren, die zu ungemein suggestiver Musik vorüberziehen. Es sind Schatten von Menschen, die etwas tragen oder ziehen; ein Pflug ist zu erahnen, ein Rollstuhl, ein Karren. Sind das Menschen auf der Wanderung oder auf der Flucht? Hat der Weg einen Anfang und ein Ende?
Die andere Arbeit hat die 10. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch zur Grundlage, jenem Komponisten der Avantgarde, der sich gleichwohl vom Diktator Stalin nicht lösen konnte, so sehr ihm seine Arbeit auch erschwert wurde. Kentridges Video greift die Hoffnungen auf, die mit der bolschewistischen Machtergreifung verbunden waren. In dem collagenartig zusammengesetzten Mehrkanal-Video „Oh To Believe in Another World“ von 2022 tauchen Majakowski und Lenin auf, natürlich auch Stalin, dazu Fragmente von Schrift und Fotografien. Noch ehe man sie glaubt erkannt zu haben, sind sie vorüber, fortgezogen in der wie ein Mahlstrom wirkenden Musik. Alles bleibt Bruchstück. Alles wiederholt sich, ohne Anfang oder Ende.
Die grafischen Arbeiten im Kupferstichkabinett zeigen Kentridge auf der Höhe seiner Schaffenskraft. Aus dem eigenen Bestand sind Werke von Dürer, Holbein oder Jacques Callot hinzugefügt, an die Kentridge anknüpft, ganz im Sinne des im Ausstellungstitel beschworenen „Echos“. Großformatige Zeichnungen und Radierungen sind nicht nur im Wortsinn dunkel, sondern ebenso in ihrem Gehalt. Dass das Schöne dem Schrecken verschwistert ist, diese alte Erkenntnis bestätigt sich hier immer wieder neu.
Dass es möglich war, William Kentridge im Jahr seines 70. Geburtstag zu diesem Ausstellungsvorhaben nach Dresden zu locken – parallel findet eine weitere Ausstellung im Folkwang Museum Essen statt –, verdient allen Respekt. Der weiße Südafrikaner ist ohne die Leidenserfahrungen des schwarzen Südafrika nicht zu denken, sie sind seiner Kunst eingeschrieben. Sie lassen sich nur nicht mehr in Schwarz und Weiß separieren. Kentridge zeichnet die Prozessionen der Unterdrückten und Misshandelten, der zugleich Hoffnungsfrohen und Lebenszugewandten. Der Umzug gibt sich als Metapher zu erkennen, für das Leben in seinem nie endenden, nie zu erklärenden Fortgang.







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