Bauwelt

Rathaus mit Multiplexkino


Dekorative Fügungen


Text: Bokern, Anneke, Amsterdam


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    Foto: Christian Richters

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Das vielgestaltige Gebäude von Bolles + Wilson unweit des alten Stadtzentrums von Haarlem wird als Rathaus und als Kinocenter genutzt. Für die Fassaden hatte die Stadt zwei Wünsche: eine Nähe zur Architektursprache von Willen Marinus Dudok und die Einfügung von Bauteilen des Vorgängergebäudes auf dem Areal.
Haarlem liegt etwa 20 Kilometer westlich von Amsterdam. Obwohl es inzwischen 150.000 Einwohner zählt, hat sein historisches Stadtbild mit Bürgerhäusern und kleinen Hofanlagen die Jahrhunderte weitgehend überdauert, und seine Silhouette wird noch immer von der spätgotischen Kathedrale dominiert. Umso erstaunlicher ist, dass das neue Rathaus von Haarlem, entworfen von Bolles + Wilson, ein wuchtiger Großbau samt Glockenturm geworden ist. Noch erstaunlicher aber ist, dass sich die Ratsherren das Gebäude mit einem Multiplexkino teilen.
Der Neubau namens Raakspoort liegt am ehemaligen Stadtgraben, am Westrand der Altstadt, wo die feinkörnige Stadtstruktur aus dem 17. Jahrhundert recht unvermittelt auf großmaßstäbliche Neubauten trifft. Auch das Raakspoort-Gebäude ist im Vergleich zu seiner historischen Nachbarschaft nicht gerade zierlich, bemüht sich aber redlich um Einpassung. Zuvor standen auf dem Grundstück ein um 1900 errichteter Schulbau und ein Parkhaus. 1998 erhielt das Städtebaubüro Kraaivanger Urbis vom Projektentwickler MAB den Auftrag, einen Masterplan für die Neuentwicklung des Gebiets zu entwerfen. Die Planer schlugen die Errichtung eines Großbaus am Stadtgraben vor, der einen dahinter gelegenen kleinen Platz vom Verkehr abschirmt, aber über eine Passage zugänglich macht. An diesen Platz schließen sich zwei Reihen niedriger Baublöcke an, in denen sich Ladenflächen und Wohnungen befinden und die eine Verbindung zur Kleinmaßstäblichkeit der Innenstadt bilden. Unter das gesamte Neubaugebiet legten die Planer eine Tiefgarage, als Ersatz für das abgerissene Parkhaus.
Was dann folgte, war eine lange, komplexe Projektgeschichte, begleitet von zahlreichen Workshops mit Bauherren, Gemeindevertretern und Architekten zur Ausarbeitung des Plans. Zwar erhielten Bolles + Wilson schon bald den Auftrag für den Entwurf des Randblocks, aber dessen Funktion und Einteilung wechselten mehrfach. Anfänglich sollte er in den unteren Geschossen ein Kasino und in den oberen ein Kino beherbergen. Mit den zwangsläufig völlig geschlossenen Fassaden des Kinos war der Gestaltungsbeirat jedoch nicht glücklich, sodass die Architekten in einem zweiten Schritt die beiden Funktionen gegeneinander austauschten: Kasino oben, Kino unten. Wie sich nun herausstellte, sollte jedoch auch das Kasino auf Wunsch des Betreibers weitgehend fensterlos bleiben – weil, wie Peter Wilson vermutet, „Fenster zu sehr von der ernsten Aufgaben ablenken, Geld in Maschinen zu werfen“. Als das Kasino schließlich als Nutzer absprang und das gesamte Projekt ins Stocken geriet, kam die Gemeinde zu Hilfe. Schon lange wollte sie ihr Rathaus, das über zahlreiche Gebäude in der Innenstadt verteilt war, in einem einzigen Bau zusammenführen. Zwar gab es bereits Pläne vom Rotterdamer Büro Henk Döll Architekten für einen solchen Neubau an einem anderen Ort, aber nach einem politischen Wechsel entschied sich die Gemeinde dafür, einen großen Teil der Rathausfunktionen im Raakspoort-Gebäude unterzubringen – in Zweckgemeinschaft mit dem Multiplexkino.
Think Dudok!
Den Eingang zum Rathaus legten Bolles + Wilson auf die Nordwestecke des Gebäudes, und den Zugang zum Kinocenter, dessen Säle allesamt in den Untergrund verschwanden, brachten sie an der Passage unter. Für den Entwurf des Baus gab der zuständige Gemeinderats-Beigeordnete zwei Slogans aus: „Don’t forget the clocktower!“ und „Think Dudok!“. Als Fan des Architekten Willem Marinus Dudok (1884–1974) hatte er einen Neubau mit Anklängen an dessen Backsteinarchitektur der dreißiger Jahre vor Augen, mit dem turmbewehrten Rathaus von Hilversum als Vorbild. Allzu ungewöhnlich sind solche Rückgriffe auf die Architektur der dreißiger Jahre in den Niederlanden nicht. Ihren Anfang nahmen sie bereits mit dem 1994 fertiggestellten Piraeus-Wohnblock von Hans Kollhoff und Christian Rapp in Amsterdam, der eine skulpturale Großform mit historisierenden Materialien und Details verband. Seither haben einige Architekten – darunter Claus en Kaan, aber auch Bolles + Wilson – sich in dieser Gratwanderung geübt und in den Niederlanden Gebäude realisiert, die eine zeitgenössische Architektursprache mit mehr oder weniger subtilen Reminiszenzen an die Backsteinmoderne verbinden.
Dekor mit „Spolien“
Beim Raakspoort-Gebäude erinnert nicht nur der Glockenturm an Bauten der zwanziger und dreißiger Jahre, sondern auch die vertikalen Fensterschlitze in den oberen Geschossen und nicht zuletzt das Material. Die Gebäudehaut besteht aus einem etwas schrundigen roten Backstein mit Schattenfugen, unterbrochen von Feldern aus demselben Backstein mit einer helleren Mörtelfuge. Einzelne dekorative Elemente des abgerissenen Schulbaus haben die Architekten gerettet und wie Spolien im Block verarbeitet. So ziert einige Außenwände ein Muster aus alten Mauerankern, vor der Nordfassade hängt ein ornamentaler Rundbogen, und auf der Südostecke hockt eine alte Skulptur auf einer Konsole. Alle diese Elemente sind als Hinzufügungen kenntlich gemacht und konstruktiv vom Neubau getrennt, um die historische Schichtung zu betonen. Gleichzeitig dienen sie zur Belebung des Blendmauerwerks – und davon gibt es einiges, denn aufgrund der Kinofunktion und der Passage hat der Bau gleich mehrere Rückseiten.
Dieser hohe Rückseitenanteil und der schwere Backstein stehen in spannendem Kontrast zur Gliederung des Gebäudevolumens mit großen Rücksprüngen, die den Maßstab brechen sollen. Daraus resultiert eine Plastizität, die durch die drei Fenstertypen – von der Fassadenlinie zurückgesetzt, bündig oder aus der Fassade hervortretend – noch unterstrichen wird. Auch die großen Glasfronten der Eingänge von Rathaus und Kino stehen im Widerspruch zur sonstigen Wuchtigkeit des Baus. Überhaupt ist von der backsteinernen Schwere beim Betreten der Rathauslobby nicht mehr viel zu spüren. Der lichte hohe Raum wird von einer schlanken stählernen Wendeltreppe und einer Pflanzenwand dominiert. Wegen der darunterliegenden Kinosäle, musste er völlig stützenfrei bleiben. Das Zwischengeschoss wurde von der Decke abgehängt.
Unentschlossenheiten
Im Gegensatz zum Kino, das die Standardeinrichtung der Betreiber-Kette erhielt, wurde das Interieur des Rathauses von Döll Architekten entworfen. Nachdem ihnen der Auftrag für den Rathausneubau entgangen war, wurden sie mit der Innenarchitektur des Raakspoort-Gebäudes sowie mit dem Umbau eines nahen Postamts beauftragt, in denen die meisten Rathausfunktionen verteilt wurden. Die repräsentativen Funktionen verbleiben jedoch im historischen Rathaus am Grote Markt, sodass im Raakspoort keine Ratssäle oder große Empfangsräume zu finden sind, sondern nur die Publikumsbereiche, Büros und ein Konferenzzentrum. In den Obergeschossen sind flexible Arbeitsplätze mit klassischen Büros und kleinen Besprechungsbereichen kombiniert. Ein abgetreppter und sich deshalb wie ein Trichter nach oben erweiternder Lichthof über der Passage bringt viel Tageslicht in die tiefen Bürogeschosse, die ursprünglich für Kino und Kasino dimensioniert waren. Auch hier erweist sich das Gebäude im Inneren als erstaunlich licht. Zwar wünschte sich der verantwortliche städtische Politiker auch im Interieur historische Bezüge, aber seine Idee, altmeisterliche Gemälde der Haarlemer Schule in die Innengestaltung einzubeziehen, konnten Döll Architekten in Punktrasterprints auf Glaswänden umändern, die in Kombination mit weißem Bodenbelag, Möbeln aus Bambusholz und knallgrünen Teeküchen zeitgenössisch wirken.
Dennoch ist das Gebäude ein etwas unentschlossener Hybrid. Während die plastische Modellierung der Großform als verfremdendes Element sehr wirkungsvoll ist und vom Stadtgraben aus betrachtet durchaus einen Maßstabsbruch bewirkt, präsentiert sich der Bau vom Zentrum gesehen doch als massives Bollwerk im Stadtraum. Das Spiel mit historischen Anleihen und unterschiedlichen Bezügen geht besser auf, auch wenn die nur vorgehängten „Spolien“ eher zu Accessoires geraten sind. Aber vielleicht macht genau diese Unentschlossenheit die Qualität des Raakspoort-Gebäudes aus, zeugt sie doch offen von seiner gespaltenen Persönlichkeit. 



Fakten
Architekten Bolles+Wilson, Münster; Döll Architekten, Rotterdam; Urbis, Rotterdam; Dudok, Willem Marinus (1884–1974)
Adresse Oude Zijlvest 39, 2003 PB Oude Stad, Niederlande


aus Bauwelt 13.2012
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