Bauwelt

Neue Berliner Mischung?


Die vielgerühmte „Berliner Mischung“ steht für das dichte Nebeneinander von Wohnen, Gewerbe und Produktion innerhalb eines städtischen Blocks. Nach wie vor kennzeichnet sie einen Großteil der Stadtstruktur. Schaut man aber auf die aktuell geplanten Projekte, mit denen der Berliner Senat den dringend benötigten Wohnraum schaffen will, verwundert: Trotz zahlreicher Absichtserklärungen für mehr Nutzungsmischung wird weiterhin in großem Umfang monofunktional und typologisch homogen gebaut. Gleichwohl gibt es einige jüngere Ideen- und Realisierungswettbewerbe, die – wenngleich recht vorsichtig – interessante Beiträge zur Verbindung von Wohnen und Gewerbe liefern. Wo liegen die Grenzen dieser neuen Mischung?


Text: Saad, Ali, Berlin


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    Transformation einer Blockstruktur, Berlin-Kreuzberg
    Fotos: Sudbrock, Sylla, Zucchetti

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    Transformation einer Blockstruktur, Berlin-Kreuzberg

    Fotos: Sudbrock, Sylla, Zucchetti

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    Die grafische Dokumen­tation entstand im Rahmen des Forschungsseminars „Berlin-Block“

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    Hybrides Feld, Berlin-Tiergarten
    Fotos: Sudbrock, Sylla, Zucchetti

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    Die grafische Dokumen­tation entstand im Rahmen des Forschungsseminars „Berlin-Block“

Heterogenität des Berliner Blocks

Der Berliner Block ist eine komplexe urbane Typologie. Er weist räumliche Brüche und räumliche Koexistenzen auf, Kollision und teilweise Verschränkung unterschiedlicher Gebäudetypologien, von Programmen, Außenräumen, Öffentlichkeitsgraden. Die Flexibilität des Berliner Blocks integriert diese oft widersprüchlichen Elemente und ermöglicht so das Nebeneinander von Wohnungen, Geschäften, Produktionsstätten und Institutionen. Strukturell seit dem 19. Jahrhundert angelegt, entwickelte die sogenannte „Berliner Mischung“ vor allem nach dem Krieg eine hohe Heterogenität.
Die Größe des Berliner Blocks spielt hierfür eine entscheidende Rolle. Um die Kosten des Kanalisationssystems zu reduzieren, hatten Hobrechts Straßenblöcke eine vergleichsweise große Fläche von durchschnittlich 50.000 m2. Dies führte zu einer Stadtstruktur, deren Hauptsubstanz im Innern der Blöcke versteckt ist. Eine quasi unsichtbare Stadt, in deren Hinterhöfen sich um 1900 Produktionsbetriebe und Schulen und nach dem Mauerfall eine Mischung aus Klubs, Ateliers, Kleingewerbe und Werkstätten abseits der Öffentlichkeit ansiedeln konnten. Sie erzeugten eine berlinspezifische Kultur, die mittlerweile zum Motor für das aktuelle Wachstum der Stadt geworden ist.
Zwischen Körner- und Flottwellstraße koexistieren Büros, Ateliers, Wohnungen, Gewerbe, eine Schule und ein Logistikzentrum in einem Block. Der Block ist ein hybrides Feld streifenförmiger Raumtypologien. Die Koexistenz dieser Programme wird durch die brutale Kollision der untereinander kaum zugänglichen Streifen möglich. So kann die Schule in der Tiefe des Blocks eine höhere Dichte erreichen, weil sie die angrenzende Halle nicht stört. Gleichzeitig müssen die Bewohner der neuen Wohnbauten am Gleisdreieck-Park für ihre privilegierte Lage den gelegentlichen Lärm der Logistikfahrzeuge in Kauf nehmen.
Der Baublock des Neuen Kreuzberger Zentrums am Kottbusser Tor vereint urbanistische These und Antithese. Zur einen Seite kleinteiliger Gründerzeitblock, zur anderen Seite modernistische Großform, bietet er eine Vielzahl unterschiedlicher Nutzungen wie Läden, Ateliers, Klubs, Wohnungen, eine Moschee, ein Autohaus, Werkstätten, Galerien, Produktionsbetriebe und Veranstaltungsräume. Je nach Lage profitieren diese von den großmaßstäblichen Typologien mit guter Verkehrsanbindung entlang der Skalitzer Straße oder von der kleinteiligen Kiezstruktur mit gewerblich genutzten Hinterhöfen entlang der Oranienstraße.
Die Heterogenität und Dichte des Berliner Blocks ermöglicht es, die Pluralität und Vielfalt urbaner Programme, von Nutzern, Lebensentwürfen und Geschäftsmodellen aufzunehmen und zwischen ihnen Synergien zu schaffen. Hierbei ist die Ausnutzung der Tiefe des Blocks für andere Typologien, die auch Nutzungen wie das produzierende Gewerbe ausweisen können, entscheidend.

Dogma des Blockrandes

Trotz dieser Vielzahl an erprobtem Anschauungsmaterial wirkt die Haltung der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt in Bezug auf die Frage der Nutzungsmischung momentan unentschlossen. Eine nach wie vor starke Praxis ist das Fortführen der Grundprinzipien des 1999 verabschiedeten, mittlerweile mehr oder weniger realisierten, Planwerks Innenstadt. Ob als Masterplan oder im Bestand: Flächendeckend werden Blockränder hergestellt, Lochfassaden mit einheitlichen Traufhöhen und streitbarer Qualität gebaut, Hinterhöfe einfach nur begrünt und mehr oder weniger homogene Typologien errichtet, die eine zahme Mischung aus Wohnungen oder Büros in den Obergeschossen und bestenfalls Läden und Ateliers im Erdgeschoss zulassen. Mit seinem Beharren auf einer geschlossenen Blockfassade und der Vernachlässigung des Block­inneren ist das Planwerk Innenstadt auf Repräsentation und ein homogenes Erscheinungsbild bedacht und somit zu rigide, um sein vielbemühtes Versprechen einer neuen Berliner Mischung einlösen zu können. Den homogenen Block gibt es aber nicht. Selbst dort, wo das Planwerk ihn herstellen möchte, wie beispielsweise in der Flottwellstraße nahe dem neuen Gleisdreieck-Park, schafft es lediglich mehr Heterogenität. Das Dogma des Blockrandes darf folglich nicht als Rekonstruktion eines historischen Zustandes gelesen werden, sondern als biedere Fiktion, die heute flächendeckend Realität wird.

Geister des Nachkriegsstädtebaus

Eine weitere aktuelle Tendenz ist das monofunktionale Bauen von Wohnungen in großer Masse und Geschwindigkeit innerhalb und an den Rändern Berlins. Obwohl bei den „großen Wohnungsbaustandorten“ stark darauf geachtet wird, dass der Anschluss an einen leistungsfähigen öffentlichen Verkehr gegeben ist, sind diese Projekte meist von programmatischer Monofunktionalität und typlogischer Homogenität gekennzeichnet. Die Planungen riskieren damit, zu urbanitätsfreien Schlafstädten zu werden, die weder der Vielfalt aktueller Nutzerbedürfnisse noch der Notwendigkeit einer wohnungsnahen Versorgung mit Dienstleistungen und Arbeitsplätzen Rechnung tragen.
Diese vermeintlich überholten Prinzipien des Nachkriegsstädtebaus spiegeln sich auch in der aktuellen Baunutzungsverordnung wider. Sie verbietet es, in Wohngebieten störende Funktionen unterzubringen. In Zeiten von „Industrie 4.0“ und neuer, leiser Produktionsmethoden und trotz einer jahrzehntelangen Debatte in der Fachwelt über mehr Mischnutzung treiben in den Verwaltungen und Gesetzgebungen die Geister der Funktionstrennung immer noch ihr Unwesen. Gerade jetzt, wo es nach Dekaden der Stagnation wieder möglich wäre, innovative, an aktuellen Bedürfnissen orientierte Konzepte für die Breite der Gesellschaft zu bauen, scheint es, als stünde man mit dem Rücken zur Wand und könne angesichts des starken Bevölkerungswachstums und des enormen Mangels an bezahlbarem Wohnraum nur noch reflexartig auf alte Muster zurückgreifen.

Trendwende?

Deutet sich vorsichtig eine Trendwende an? Jüngst wurde der Ruf nach einem Milieuschutz für kleinteiliges Gewerbe laut, das derzeit gerade durch Wohnungen aus innerstädtischen Gebieten verdrängt wird. Diverse Absichtserklärungen der Bundesregierung und des Berliner Senats weisen auf die Wichtigkeit von kleinteiligem, produzierendem Gewerbe und „Urban Manufacturing“ im städtischen Kontext hin.
Bereits 2006 stellte Saskia Sassen auf einer Konferenz in Berlin heraus, dass „Urban Manufacturing“ ein wichtiger Zulieferer für die großen Wirtschaftsplayer und den kulturellen Sektor ist, deren gegenseitiger Erfolg untrennbar verknüpft ist. Da Schmuckhersteller, Innenarchitekten, Möbelbauer, Produktdesigner, Bühnenbildner, Modedesigner, Bautischler oder Schmiede maßgeschneiderte Produkte anbieten, brauchen sie Kundennähe und einen großen und kurzfristig verfügbaren Pool handwerklich gut ausgebildeter Arbeitskräfte. Deshalb sind sie auf starke Netzwerke und Synergieeffekte angewiesen, für die ein urbanes Umfeld optimale Bedingungen liefert.
Eine konkrete Perspektive hat kürzlich eine Gesetzesinitiative des Bundesbauministeriums aufgezeigt. Noch in diesem Jahr soll die Kategorie der „urbanen Gebiete“ in die Baunutzungsverordnung aufgenommen werden. Sie soll die Mischung von Wohnen und produzierendem Gewerbe ermöglichen sowie höhere Grade der Dichte und Lautstärke erlauben.
Hier wird eine Tendenz, weg von der modernistischen Idee der Konfliktvermeidung und funktionsgebundenen Effizienzoptimierung durch Trennung, hin zur Erkenntnis, dass Mischung einen kulturellen, sozialen und ökonomischen Mehrwert bringt, deutlich. Eine erfolgreiche Umsetzung erfordert allerdings zunächst die breite Einsicht, dass urbanes Wohnen nicht emissionsfrei sein kann, sowie eine Aushandlung des Grades an Mischung, der in urbanen Gebieten noch tolerierbar ist (siehe Flottwellstraße). Um dies ausloten zu können, müssen die Möglichkeiten und die Grenzen der Mischung vorstellbar gemacht werden. Herauszufinden, was stört und was noch tolerierbar ist, ist somit eine Frage der räumlichen Visionen, der Typologien und der Programme, mit denen Wohnen koexistieren kann. Hier ist dringend Raum für experimentelle Entwurfsansätze nötig, denn die wenigen Ausnahmen, die Wohnen und Produktion realisieren konnten, wie das Stadtquartier Friesenstraße am Tempelhofer Feld, mischen nicht, sondern isolieren das Gewerbe mit gehöriger Distanz zur Wohnbebauung.
Etwas mehr Experimentierfreudigkeit zeigen einige Beiträge zu Ideenkonkurrenzen, die der Senat in den letzten Jahren ausgeschrieben hatte. Zwar waren sie allesamt auf Innovationen im Wohnungsbau aus, einige Architekten nahmen dies jedoch auch zum Anlass, um – wenn auch vorsichtig – über das Mischen von Wohnen und Gewerbe nachzudenken. Welche Ansätze sind dabei herausgekommen und welche Grenzen des Mischens lassen sich daran ablesen?

Ansätze einer neuen Berliner Mischung

Einige interessante Beiträge hat das Workshopverfahren „Urban Living“ hervorgebracht. Der Entwurf von Bruno Fioretti Marquez arbeitet mit der Tiefe des Grundstücks in der Arcostraße und schlägt ein Feld von tiefen Sockelbauten vor, die in Anlehnung an den historischen Hobrecht-Block ein System von Höfen erzeugen. Eng mit der Nutzung der Höfe verknüpft, befinden sich im Erdgeschoss Gastronomie, Sporthalle, Seminarräume, Tischlerei und Ateliers. Die oberen Geschosse bieten Wohnungen unterschiedlicher Größen an.
Der Beitrag von Deadline für die Langhansstraße schlägt ebenfalls Sockelbauten vor. Sie gruppieren sich um Höfe und bieten im Erdgeschoss tiefe Gewerbesockel für Gastronomie, Lager, Sport, Modeateliers und Seminarräume an. Auch hier befinden sich die Wohnbereiche, deutlich vom Gewerbe getrennt, in den Obergeschossen.
Der Beitrag von Augustin und Frank für das Grundst­­­ück in der Briesestraße schlägt ein tiefes Gebäude mit zwei eingeschnittenen Höfen als Umbau eines ehemaligen Parkhauses vor. Im aufgespreizten Erdgeschoss wird auf unterschiedlichen Ebenen eine Mischung aus Kantine, Sport, Lager, Ateliers und Werkhöfen, denen ebenfalls Hofbereiche zugeordnet sind, angeboten. In den Obergeschossen befinden sich durch Stege verbundene, durchgesteckte Wohnungen unterschiedlicher Größe. Ebenfalls für die Briesestraße schlägt Cityförster vor, zwei große Lichthöfe in das Parkhaus einzuschneiden und es mit zwei, jeweils dreigeschossigen Wohnriegeln aufzustocken. Die ersten beiden, teilweise unterirdischen Geschosse bilden tiefe, hallenartige Räume aus, die durch Gewerbe, Kantine, Atelier, Mehrzweckräume und einem „E-Car Sharing Hub“ genutzt werden sollen.
Der im Rahmen des Ideenaufrufs „Experimenteller Geschosswohnungsbau“ entstandene Entwurf des Büros Hütten und Paläste für das Rollberg-Areal schlägt eine ähnliche Strategie vor. Eine existierende, 18 Meter tiefe Gewerbehalle wird mit neuen Wohnungen aufgestockt. Es entsteht ein Sockel, in den ein zusätzliches Geschoss eingezogen wird und der Werkstätten, „Food-Labor“, Galerien, Gastronomie, Veranstaltungen und Co-Working aufnehmen soll. Der Aufbau beinhaltet unterschiedliche Wohnformen, von der Micro-Wohnung bis zur „Gartenlaube“.

Grenzen der Mischung

In den Entwürfen wird deutlich, dass die Grenzen der Mischung momentan noch recht vorsichtig ausgelotet werden. Die Projekte bieten meist tiefe und flexible Grundrisse im Erdgeschoss, in denen überwiegend Läden, Gastronomie, Ateliers, Sport und als Ausnahme auch Werkstätten vorgeschlagen werden. Diese sind jedoch deutlich von den oberen Wohnbereichen getrennt. An Konzepten, die eine bewusstere und radikalere Mischung von Produktion und Wohnen ausloten, fehlt es bislang. Dennoch zeigen die vorgeschlagenen tiefen Gebäude, die Felder aus Solitären oder die Sockelbauten typologische Möglichkeiten der Nutzungsmischung auf, die der Blockrand nicht bietet.
Ernüchternd wirkt, dass die Bemühungen des Senats, sobald es zur Realisierung kommt, offensichtlich stark nachlassen. Das Projekt von Bruno Fioretti Marquez wurde gerade im Erdgeschoss zugunsten von Wohnungen massiv umgeplant und ist nun in der Warteschleife. In der Briesestraße entschied sich die Eigentümerin im Nachfolgewettbewerb letztlich dafür, das Parkhaus abzureißen und es durch einen nahezu reinen Wohnungsbau des Büros EM2N zu ersetzen.
Um der Wichtigkeit von kleinteiligem, produzierendem Gewerbe innerhalb der Stadt Rechnung zu tragen, wäre hier seitens des Senats eine gezielte Auseinandersetzung mit dem Thema der Nutzungsmischung nötig. Letztlich geht es darum, sich von alten Vorstellungen zu befreien, Experimente zu wagen und sie vor allem zu realisieren, um herauszufinden, wie eine zeitgenössische Berliner Mischung, die der einzigartigen Vielfalt Berliner Lebensentwürfe gerecht wird, aussehen könnte. Bleibt zu hoffen, dass die Novellierung der Baunutzungsverordnung frischen Wind in dieses Thema bringen und Entwürfe produzieren wird, die nicht hinter der radikalen Mischung gewachsener Berliner Blöcke zurückbleiben.



Fakten
Architekten Bruno Fioretti Marquez, Berlin/Lugano; Deadline, Berlin; Augustin und Frank, Berlin; Cityförster, Berlin/Hamburg/ Hannover/Oslo/Rotterdam; EM2N, Zürich/Berlin
Adresse Berlin


aus Bauwelt 35.2016
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