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Strelitzer Straße 53 - vom Schussfeld zum Bauland

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Strelitzer Straße 53 - vom Schussfeld zum Bauland

Wie ein privater Grundstückseigentümer Städtebau profitabel betreibt: die Baugruppe Strelitzer Straße 53 und sechszehn Reihenhäuser auf dem ehemaligen Todesstreifen
Damit das Mehrfamilienhaus und die sechzehn Reihenhäuser entstehen konnten, bedurfte es größerer Vorarbeiten: Im August 1961 musste erst eine Sektorengrenze geschlossen, die Grenzhäuser entlang der Ostseite der Bernauer Straße mussten geräumt und vermauert sowie ihre Besitzer enteignet werden. Dann waren zunächst die Häuser abzureißen, 1985 auch die Versöhnungskirche, die noch so lange im Schussfeld gestan­den hatte, weil man von ihrem Turm eine gute Sicht hatte. Erst jetzt konnte jene Berliner Mauer perfektioniert werden, zu deren Abriss man 1989 gezwungen war. Nun bekamen die Juristen viel zu tun: Nach über zehnjährigem Restitutionsverfahren erhielt der Nachfahre eines Speditionsfirmeninhabers das in die ehemalige Grenzsicherungsanlage hineinragende Grundstück Strelitzer Straße 53 zurück, musste es seinerseits aber nach kurzer Zeit weiterverkaufen. Hier nun griff die „Grund- und Vermögensanlagen Aktiengesellschaft“ (GVA) zu, was für die 25 Bauherren der eingangs genannten Gebäude der reine Glücksfall war.
Die Firma GVA, die ihre Wurzeln in Osnabrück hat, beschäftigt sich in Berlin mit Altbausanierung. Sie teilte, da sie selbst keine Neubauten entwickelt, das erworbene Grundstück auf: Die Baulücke bot sich für eine klassische Blockrandschließung an; der größere hintere Bereich jedoch sollte nach den Vorstellungen der Firmeninhaber für den Bau von Einfamilien­häusern parzelliert werden. Sechzehn Grundstücke wollte man im Erbbaurecht an junge Familien vergeben, die sie nach eigenen Vorstellungen bebauen konnten. Im Stadtplanungsamt des zuständigen Bezirks Mitte reagierte man angesichts die­ses Konzepts „mit ungläubigem Staunen“, erinnert sich GVA-Vorstand Rolf Thörner. Die beabsichtigte suburbane Typologie stieß auf Ablehnung. Nachdem aber der Berliner Senat 2005 beschlossen hatte, die Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße umfassend zu erweitern und dabei auch den angrenzenden Mauerstreifen zu integrieren (Heft 3), wurde das Genehmigungsverfahren auf eine höhere Ebene gehievt. Da die GVA das Grundstück weder an das Land Berlin verkaufen noch von ihrem Eigenheimkonzept abrücken wollte, kam es zu konkreten Verhandlungen. Man einigte sich auf eine geschlossene Bebauung. Mit der vereinbarten Gestaltungssatzung wurde im Wesentlichen die Zurückhaltung der Bebauung zu ihrer heiklen Nachbarschaft geregelt, etwa die einheitliche Traufhöhe zum denkmalgeschützten Postenweg oder der Ausschluss von Balkonen, Erkern und Holzfassaden in Richtung der 1999 eingeweihten Versöhnungskapelle. Zudem hatte das Reihenhaus-Ensemble autofrei und der interne Wohnweg offen für Passanten zu bleiben. Mit der ausgebauten Mauergedenkstätte, deren Fertigstellung für 2011 geplant ist, erhalten die Bewohner künftig eine anspruchsvolle Freianlage vor die Haustür gelegt, die ihnen den Ausblick erhält. Es sind diese kuriosen Rückkopplungen der Geschichte, die den Ort zu etwas Besonderem machen.
Anfang 2004 übernahm das Architektenpaar Florian Köhl und Anna von Gwinner die 670 Quadratmeter große Baulücke an der Strelitzer Straße, „zum Einkaufspreis“, wie es heißt, denn die Entwicklung dieser Gegend war damals noch nicht absehbar. Dem Eigentümer war das Vorhaben sympathisch, die Begleichung des Kaufpreises wurde daher so lange aufgeschoben, bis die Zusammensetzung und die Finanzierung der Baugruppe feststanden, was rund ein Jahr dauerte. Für die Vermarktung ihres Projekts fanden die Architekten folgende Worte: „Entscheidend für die Wahl dieses Grundstücks war zum einen die Lage in unmittelbarer Nähe zum Hackeschen Markt und Alexanderplatz, zum anderen die Topografie des Ortes, der 6,50 Meter über dem Niveau der Ackerstraße liegt und damit neben der Offenheit nach Süden und Westen einen unglaublichen Blick in und über die Stadt erlaubt. Die angrenzenden Friedhöfe der Sophien- und Elisabethgemeinden bilden eine der größten zusammenhängenden Grünflächen in der nahen Umgebung. Das Grundstück liegt im Einzugsgebiet der renommierten Musik-orientierten Papageno Grundschule. Entlang der Strelitzer Straße blickt man auf die Elisabethkirche von Schinkel, dahinter auf den Fernsehturm des Alexanderplatzes.“ Das Programm: innerstädtisches Wohnen für Kulturmenschen plus kindgerechtem Außenraum.
Die Entwicklung nahm insgesamt zwei Jahre in Anspruch, die Bauphase dauerte von 2006 bis Anfang dieses Jahres. Florian Köhl sagt, der Prozess des gemeinsamen Planens und Bauens habe dabei im Mittelpunkt gestanden, der intensive Kontakt mit seinen acht Mitbauherren sei ihm wichtiger gewesen als das elaborierte Detail. Das Gebäude ist – eher konzeptionell als räumlich – in ein schmales und ein breites „Haus“ gegliedert, was außen durch eine vertikale Fassadenkerbe kenntlich gemacht ist. Aus dieser Idee sollte eine gewisse Bandbreite an Wohnungstypen hervorgehen. Letztlich sind vier Maisonettes (160, 180 und 190 Quadratmeter), fünf Geschosswohnungen (80, 120 und 200 Quadratmeter) und eine kleine Gewerbeeinheit entstanden. Die Wohnung im vierten Geschoss erstreckt sich über die gesamte Hausbreite, was einerseits die Flexibilität der Konstruktion demonstriert, andererseits das Konzept konterkariert. Jede Wohnung erfuhr eine individuelle Bearbeitung nach den Wünschen der Bauherren – ein ökonomisch wie menschlich erschöpfender Vorgang, den der Architekt in dieser Ausführlichkeit kein zweites Mal übernehmen würde. Die Wohnungen sind gespickt mit betonierten Sonderlösungen, Vor- und Rücksprüngen, Abtreppungen, maßgeschneiderten Einbau-Unikaten, die verschiedenste Blickachsen berücksichtigen, und anderem mehr. Wohnen als ein Experiment, das nie endet. Seine innere Komplexität behält das Haus für sich, die spröde und etwas zufällig wirkende Fassade fügt sich in die Zeile ein, die Gedankenarbeit floss hauptsächlich ins Innere. Seine Bewohner schätzen die anonyme Schale, hinter der sie ihre Innenwelten verbergen.
Die Zusammensetzung der wunderlich sich schlängelnden Rei­henhausanlage geht eher zufällig auf den Architekten Kai Han­sen zurück. Nachdem er längere Zeit vergeblich nach einem geeigneten Bestandsbau für die eigene und einige befreundete Familien gesucht hatte, erfuhr er von den Plänen der GVA. Die Konditionen des in Berlin heute noch selten praktizierten Erbpachtmodells: 35.000 Euro Kostenerstattungsbeitrag je Parzelle, 75 Euro Erbbauzins pro Monat. Es brauchte keine drei Wochen, bis genügend Bauwillige im erweiterten Bekanntenkreis gefunden waren. Über die Gestaltungssatzung nahm die GVA Einfluss auf die Bebauung. Außer den genannten städtebaulichen Vereinbarungen umfasste dies auch ästhetische (kein Wärmedämmverbundsystem, keine Fenster und Türen aus Kunststoff, keine nachträglichen Anbauten) und soziale Regeln (keine Kampfhunde). Gültig für den vereinbarten Erbpachtzeitraum von 198 Jahren.
Die homogene Bauherrengemeinschaft stammt überwiegend aus den Bereichen Architektur, Film und Design und hat gewisse Ansprüche an Gestaltung und Selbstdarstellung, was die Wirtschaftlichkeit zweitrangig werden lässt. Zwar teilten sich einige die Architekten (allein Kai Hansen entwarf und baute ein halbes Dutzend Häuser), die übrigen Abstimmungen beschränkten sich auf die Erschließungsmaßnahmen, teilweise auf den Rohbau oder manche Fachplanung. Der eingesparte Grundstückspreis wurde in die vielgestaltige, mal ambitionierte, mal anspruchsvolle Architektur investiert; die durchschnittlichen Baukosten je Einheit dürften weit jenseits der 400.000 Euro liegen. Ein angemessener Preis für gut 200 über drei, vier Wohngeschosse verteilte Quadratmeter plus Dachterrasse und Miniaturgarten bei mittelalterlich anmutenden Abstandsflächen? Anders gefragt: Welche Wohnmodelle wären sonst für das verbaute Gesamtvolumen von etwa  7 Millionen Euro zu realisieren gewesen? Oder lag der Reiz genau darin, den Inbegriff des Vorstädtischen in die perforierte City zu implantieren? Vielleicht hilft es bei der Einordnung, wenn man weiß, dass die meisten der hier versammelten Akteure nicht erst kürzlich zugereist sind, sondern das Berlin der neunziger Jahre mit seinen Brachen und improvisierten Zwischennutzungen erlebt und zum Teil mitgestaltet haben (Heft 28.99). Wer sich jahrelang im Niemandsland amüsiert hat, der kann einem eigenen Reihenhaus auf dem ehemaligen Todesstreifen wohl kaum widerstehen. 
Fakten
Architekten FAT Koehl Architekten, Berlin
aus Bauwelt 39-40.2008
Artikel als pdf

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